Nachhülfe wird gesucht.

 

Es giebt eine doppelte Gattung unglücklicher Menschen: Solche dies es sind, und solche, die sich so fühlen. Selten vereint sich Beides und das scheint eine weise, Fügung der bekannten Vorsehung. Denn die Verbindung dieser Momente würde den Selbstmord zur allgemeinen Manie erheben.

So giebt es denn nur nicht nur Tausende, die, von stetem Glück verfolgt, eine ewige Melancholie mit sich herumschleppen, sondern auch bestimmte. Lieblinge des Unglücks, die alle möglichen Miseren mit eselhafter Geduld zu tragen wissen. Besonders die sogenannten Idealisten, eine Menschenrace, die mit der Zeit in unsrem Jahrhundert aussterben und als Naturwunder secirt werden wird. – –

Der Guide des Zuges von Waverly Station, Edinburgh, nach Queensserry schwenkte eben zum ersten Mal seine rothe Signal-Fahne, als ein schäbig-genteel aussehendes Individuum, mit einem altmodischen Ueberzieher und blauen Brillengläsern geschmückt, keuchend und stolpernd an den Schalter stürzte.

»Ein Billet II. Classe nach – nach –« »Herr, wonach denn?« schrie der ungeduldige Beamte. Ein verlegenes blödes Lächeln verdummte die Züge des seltsamen Fahrgastes. »Ich – ich glaube – vergessen,« stammelte er schüchtern und sah sich wie hilfesuchend um.

»Ist der Mensch verrückt?« schnaubte ein Dragoneroffizier, der ebenfalls unpünktlich, athemlos nachdrängte. Wahrscheinlich wäre der Vergeßliche hinausgeworfen, hätte nicht eine wohlwollende Stimme hinter ihm ausgeholfen: »Nach Queensferry, nicht wahr? – Rasch, Schaffner. Hier ist's Geld. – Hier nehmt's Billet, Mann, und bezahlt mich nachher. Sie verlieren ja doch sonst Ihr Geld beim Aufzählen. So. All Right. Come along, Mr. Goodenough.« Damit riß der Retter in der Noth den Andern Arm in Arm mit sich fort, schleuderte ihn sans façon in ein Coupé zweiter Classe und bestieg selbst ein solches mit der Nr. I.

»Was, Prevost?«1 keuchte ihn der nachstürzende Dragoner beim Einsteigen an. »Ist das der bekannte Schriftsteller Goodenough? Hätt's mein Lebtage nicht geglaubt.«

»Ja wohl, ja wohl, passirt gewöhnlich!« nickte Jener, ein Mann, dessen Züge, die (sei es durch seine Beschäftigung mit Hammelzüchtung, sei es durch seine Vorliebe für Hammelbraten) eine eigenthümliche Aehnlichkeit mit diesem britischen Nationalthier zeigten, von einem stereotypen wohlwollenden Lächeln verklärt waren.

»Ist ja Ihr Unterthan, nicht, Prevost?« fragte ihn ein gegenübersitzender Herr – ein Landsquire aus Dundee mit dem Aeußern eines Methodisten.

»Ja, seit zwei Jahren!« erwiderte der Großmächtige mit seiner mehligen Stimme. »Lebt bei uns – sehr abseits vom Verkehr natürlich. Wißt Ihr, was Goodenoughs erste Frage an mich war, als wir uns kennen lernten? Wie ich noch immer Sonntags die Kirche besuchen könne!«

Der Junker mit dem schäbigen umflorten Cylinder, dem tadellos schwarzen Anzug und der Leichenbittermiene, schauderte gottesfürchtig.

»O das ist ja grauenhaft. Der Mensch ist ein Atheist?!«

»Nicht grade das. Nur bis zur Tiefe des Freireligiösen gesunken. Er ist kein Christ mehr. Dabei ein schauderhafter Republikaner. Shelley ist sein Ideal.«

»Gott erhalte den König!« summte der Dragoner. »Und ist doch sonst ein gutmüthiger Mensch, der kein Wässerchen trübt, nicht?«

»O nicht auf dem Papier – da vergießt er Blut. Er ist ja so rother Socialist, daß er zwei Prozesse wegen politscher Pamphlete zu bestehen hatte – und das will bei uns etwas sagen. Seine Brochüre über ›Frauenemanzipation und freie Liebe‹ wäre ja beinahe unterdrückt, wegen sittlicher Bedenken der Polizei.«

»Haarsträubend! Freie Liebe?!« kreischte der Leichenbitter auf, der sich einer beträchtlichen Häßlichkeit befleißigte. »Was versteht er darunter? Umsturz aller häuslichen Bande, Zerreißung des heimischen Heerdes?«

»Nun, ich glaube nicht, daß er seine Grundsätze in der Praxis – fühlen möchte. Denn er ist selbst seit einem Jahr sehr verheirathet.«

»Aha! Das wird eine hübsche Häuslichkeit sein.«

»Freilich ist sie das,« nickte der Prevost ernsthaft. »Er soll jedem Fremden von seiner Wally die Ohren vollschwatzen. Er ist im Grunde ein sentimentaler Patron und hat eben nur von Allem überspannte Begriffe.«

Als man in Queensferry ausstieg, nahm der dicke Bürgermeister den armen Sünder unter den Arm, mit dem er auf dem Fuße gutmüthiger Herablassung verkehrte, und Beide, nach Hause wandernd, waren bald in ein Gespräch über ethische Dinge vertieft. Der Prevost klagte über eine gottverlassene schottische Landstadt, von der er vernommen, daß dort 17 Public-houses der Trunksucht und keine Kirche der Gottesfurcht Vorschub leisteten.

»Das wäre Alles noch nicht so schlimm,« meinte Goudenough. »Aber denken Sie an London! 6000 Personen in 11 Straßen und 2 ›Höfen‹ (Courts)! In einzelnen kleinen Häusern 50 – sage fünfzig – Insassen! Wo soll das hinführen! Dies Elend muß ja zu einer socialen Umwälzung hindrängen!«

In diesem Moment kamen sie an einem offenen Häuschen vorbei, welches Methodisten als abendliche Bethalle benützten. Deutlich hörte man durch die halbgeöffneten Fenster die näselnde Stimme des Vortragenden:

»Behold! I came quickly. Thanks be to God which giveth us the victory through our Lord Jesus Christ.«

(»Siehe, ich nahe schnell. Dank Gott, der uns den Sieg verleiht durch unsern Herrn Jesus Christ.«) Goodenough lachte leise auf. »Siehe ein Omen! ›Ich nahe schnell.‹ Wer weiß?«

Der Prevost betrachtete ihn mit mißbilligendem Kopfschütteln. »Jaja, Sie sind ein Unzufriedener, Sir. Sie locken gar noch Unruhstifter ins Land. Da ist Ihr französischer Freund, Monsieur Thibaut, der jetzt Ihr drittes Wort bildet, von dem Sie Jedermann erzählen. Was ist eigentlich so Großes an ihm! Ein Kritiker in Literaturgeschichte! Wär's noch ein Dichter!«

»Wer einen Dichter ganz versteht, ist selbst einer,« versetzte Jener eifrig.

»So! Und dieser verständnißvolle Wanderprediger einer revolutionären Aesthetik soll uns arme Leute hier durch einen Vortrag begünstigen – auf Ihre Veranlassung? Wovon soll doch seine Lectüre handeln?«

»Er wird sprechen über die These von Wordsworth: ›Der Ursprung der Poesie ist Emotion, welche sich in beschaulicher Ruhe an sich selbst erinnert.‹«

»Du mein Gott, wie gelehrt! Und das sollen unsre guten Provinzialen verdauen! Also morgen kommt dieser Phönix mit dem Dampfboot übern Firth of Forth herüber? – Ach, hier stehen wir vor Ihrer Schwelle. Gutnacht, Sir. Meinen Gruß an Mrs. Goodenough. – Sagen Sie doch, Liebster, predigen Sie Ihrer Gattin auch Ihre verderblichen Theorieen von Freier Liebe?«

Goodenough lächelte überlegen. »Ich verstehe den Stachel Ihrer Frage. Meine Wally ist jedoch über alle Schwachheiten eines unentwickelten Frauenkopfes erhaben. Sie ist eine wahre Philosophin. Unsre Ehe fußt auf der Harmonie der Geister und Seelen. Selbstverständlich bin ich für stete Vereinigung zweier Liebenden so lange sie sich lieben, und vor allem für Monogamie. Denn wie ein in Ruhe mit Appetit verzehrtes Brot nährender wirkt, als ein in appetitloser Hast hinuntergeschlungenes Beefsteak, so ist das stille Glück einer monogamischen Ehe der Seele nahrhafter, als alle schwärmerischen Leidenschaften.«

Der Prevost sah den Sprecher während dieses weisen Vortrags mit unmerklichem Lächeln an, warf einen Blick auf dessen fadenscheinige Gestalt und spinnwebenartige Beine, wollte etwas sagen, verschluckte es aber und empfahl sich mit freundlichem Gruß.

Goodenough wurde indessen, nachdem er den Messingklopfer der Hausthür gerührt, von der Magd mit einem bemutternden Grinsen in Empfang genommen, die ihm seine Reisetasche abnahm und »Madam!« rief.

Bald darauf öffnete sich die Thür des Parlours und eine gewaltige Dame segelte herein. Ihr straffanliegendes schwarzes Sammtkleid ließ ihre üppigen. Formen einladend hervortreten und ihre pralle Fleischentwicklung hatte bereits Kinn und Wangen mit massigen Fleischpolstern umgeben. Ihr vorstehender großer Mund athmete Gutmüthigkeit und Sinnlichkeit. Zwischen den vollen Lippen und der derben graden Nase lag ein schwarzes Blüthchen, das sich wohl durch Wohlleben dort eingenistet hatte. Dies Wärzchen glich einer kunstgerecht aufgelegten Mouche. Ihre Stirn war niedrig und von etwas schmutziger Farbe, ihr sonstiger Teint lebhaft, aber nicht frisch. Ihre Hände, einmal hübsch und klein gewesen, verwandelten sich allmählich in unförmliche Fettklumpen. Jedenfalls schien sie der Ceres und dann dem Bachus kräftig geopfert zu haben. Die Flammen der Venus werden hierdurch gar oft erstickt, doch wenn sie so unaufhaltsam durch feiste Mästung genährt werden, müssen sie endlich mit nachdrücklicher Gewalt einen Gegenstand verzehren. Langsame Gluth glimmt am sichersten. Uebrigens war sie nach neuester Pariser Mode gekleidet und hatte einen weißen Burnus übergeworfen. Die Philosophie mochte wohl diese eine kleine Schwäche ihres Geschlechts in der geistvollen Frau des gelehrten Mannes noch nicht verwischt haben.

Goodenough, der sehr erschöpft war, erhob sich schwerfällig und klagte, indem er sie zärtlich umarmte, über Bruststechen. Ein Schatten flog über ihr Gesicht. Dieser wich jedoch dem Ausdruck lebhafter Neugier, als er von Thibauts morgiger Ankunft erzählte. Beide sprachen dann noch allerlei über Thibauts Verdienste als bahnbrechender Kritiker. Goodenough hatte die Werke des Franzosen übersetzt. Als er in sein Schlafzimmer hinaufstieg, rief er befriedigt: »Ja, mit Ihm vereint, vorwärts an neue geistige Zeugung!«

»Ach, mit der geistigen Zeugung!« Sie wußte selbst nicht, wer in ihr diese Worte kicherte. Auch sie schritt stattlich in ihr keusches Schlafgemach. Dort zündete sie, sich entkleidend, eine Kerze an. Dabei fiel ihr Blick auf eine danebenliegende, frische, noch von keiner Gluth um ihre Jungfräulichkeit betrogene Kerze. Sie ergriff sie und betrachtete sie mit eigenthümlichen Gefühlen, als wäre sie ein Symbol des menschlichen Lebens. Ihr Busen hob sich in ungestümer Wallung. Ja, diese geräumige Hülle eines weiten Herzens zu füllen, diesen gähnenden Spalt, diese klaffende Lücke der Schöpfung – –

Mit einem leisen Stöhnen bestieg sie ihr schwellendes Pfühl.

 
Größenwahn
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