IV.

 

»Jaja, so ganz Unrecht hast Du darin nicht. Es giebt Leute, die wähnen, daß sie den Weihekuß des Realismus erhielten, weil sie ein paar ›Verhältnisse‹ und Ehebrüche auf dem Gewissen haben. Nächstens wird man hie Befähigung zum Realismus nicht nach der Beschaffenheit der Hirnsubstanz, sondern nach der Befähigung der Genitalien beurtheilen, – womit freilich auch vielen ›Idealisten‹ gedient wäre.«

So ging Leonhart auf die heftigen Ausfälle ein, mit welchen Schmoller die ›sogenannten Realisten‹ bedachte, da es natürlich nach seiner Schätzung überhaupt nur einen Realisten gab: nämlich ihn selber.

»Diese Me–nschen!« polterte er mit tiefer sittlicher Entrüstung. ›Bei denen der ganze Realismus im Ausmalen erotischer Situationen besteht! Als ob darin der Realismus steckte! Es ist zum Todtlachen. Noch nicht ins Leben hineingespuckt haben sie alle und glauben wunders was Großes zu vollbringen, wenn sie ihre kleinen Schäferstündchen lecker beschreiben! Wenn man nicht in Fabriken aufgewachsen ist, darf man überhaupt keine socialen Romane schreiben.‹

»Sociale – hm, in diesem Sinne, ja! Dann hätte aber auch Zola bis auf ›Germinal‹ nichts geleistet. Nein, nein, es regt sich doch allerorts ein sehr gesundes Streben. All diese neuen Unternehmungen und Bestrebungen, systematisch Stück für Stück das moderne Leben, speziell dasjenige Berlins, zu zergliedern auf der Grundlage einer wahren Anschauung der Dinge, sind an sich schon achtungswürdige heilsame Zeichen der Zeit. Mag auch das Dichterische in solchen Versuchen noch einer beträchtlichen Steigerung bedürfen, mag auch der Realismus noch etwas romantisch und zufallmäßig gefärbt sein, – nur entschlossen weiter auf dieser Bahn! Dem Muthigen hilft das Glück. Es muß durchaus mit der Süßholz-Litteratur aufgeräumt werden und der Schmerz des wirklichen Lebens die Kunst beherrschen. Solche Kunst allein kann sittlich wirken, da nur sie den Menschen lehren kann, sich über die Wirklichkeit entsagend oder beherrschend zu erheben. Die akademische Lügenkunst wirkt entsittlichend, indem sie ein entstelltes, optimistisch gefärbtes Bild des Lebens bietet, durch dessen Betrachtung der Ekel an der brutalen Wirklichkeit höchstens gesteigert werden muß. Nicht die Dinge ›verschönern‹, sondern sie verstehen ist gesund. Schön ist allein die Wahrheit. Wahr aber ist nicht nur das relativ Häßliche, sondern auch das relativ Schöne. Der Realismus unsrer heutigen colorirten Photographieen in der Malerei ist weit entfernt von dem gesunden elementaren Realismus der Renaissance-Meister. Und Zola ist noch lange kein Shakespeare. Heutzutage herrscht eine so trostlose Begriffsverwirrung, daß man kaum mehr weiß, was unter ›Idealismus‹ und ›Realismus‹ eigentlich zu verstehen sei. Wenn Einer geleckte Sonette drechselt oder hochtönenden Jamben-Bumbum ausspeit, heißt er ein idealer Dichter. Und wenn ein genialer Neuschöpfer in seine ›idealen‹ Conceptionen sachgemäße Cynismen verwebt, heißt er ein schmutziger Zolaist.«

»Hahaha, so nennen sie uns Beide ja auch!« lachte, Schmoller auf, indem er innerlich dachte: Na, auf Dich paßt's ja auch. ›Und die Idealisten – hoho, die muß man mal bei Lichte besehen.‹

»Ganz richtig. ›Idealist‹ sein bedeutet heut: auf die Vorurtheile und den Tagesgeschmack spekuliren. Christus hieße womöglich: ›Ein polternder Realist‹.«

Beide schritten der Dresdener Straße zu. Man wollte dort mehrere socialdemokratische Führer in einer Kneipe treffen, mit denen Schmoller einige Bekanntschaft pflog. Aus weiser Vorsicht kokettirte er nebenbei auch so lange mit den Christlich-Socialen, bis er deren Treiben kaustisch durch die Zähne zog. Denn Abwechselung muß sein. Er mokirte sich zugleich über Beide.

Als man jedoch an dem Rendezvous-Ort anlangte, ergab sich, daß die Herren hinterlassen hatten, sie würden ins ›Café Liedrian‹ steigen.

»Hoho, famos! Da werden nämlich die Agitationsgelder vom Klempner-Strike mit den Dirnen durchgebracht!« raunte Schmoller seinem Freunde ins Ohr, hochbegeistert von dieser Entdeckung einer neuerfundenen Schlechtigkeit. ›Also vorwärts, das wird ja famos! Du bist ja da bekannt, he, was, wie?‹ Sein Auge blinzelte boshaft.

Leonhart zauderte einen Augenblick. Eine fatale Situation. Doch sich sperren, schien hier das Ungeschickteste. Sie marschirten also dorthin.

Schmoller befand sich in seiner süffigsten Schimpf-und Verläumdungsstimmung. Er verbreitete gleichsam eine unreine Athmosphäre um sich her, indem er über Jeden irgend eine dunkle Geschichte zu erzählen wußte. Seine theoretische Menschenverachtung verschanzte sich dagegen, edle Gefühle und Gedanken zu begreifen, weswegen er stets nach unlauteren Motiven forschte.

»Hihi,« kicherte er, der Eine von den Kerls, der Redacteur Hermann Garibald Hoppel, – na der richtige Fatzke! Trägt den Spitznamen ›der Garibaldianer‹, weil sein Alter ihn aus Begeisterungs-Schmuß für den Italiano ›Garibald‹ getauft hat. Trieb sich in Süd-Amerika herum, weil er als Hauslehrer faule Chosen mit der Tochter vom Hause trieb. Bildete sich als Goldgräber in Chile zum Bret Harte'schen Strolch-Goldherz aus – punktum, streu Sand drauf! Immer zugeknöpft und finster. Hat ganz entschieden einen Mord da drüben auf dem Gewissen. Spielt den Vornehmen, dabei ein Schmutzian bis über die Ohren. Der Andere – o, auch köstlich! Ein riesiger Antisemit und heirathet drum immer Jüdinnen. Jetzt hat er schon die Dritte, aber die brannte ihm durch und macht unter dem Tittel ›Schriftstellerin‹ durch ganz Deutschland litterarische Besuchsreisen bei allen schönen und vermögenden Federschwingern. Verstandez-vous? Paß mal auf, zu Dir kommt sie auch noch.

Leonhart lachte. »Du hast wieder. Deinen guten Tag. Die Menschen sind weder so gut noch so schlecht, wie man denkt oder wie man sie schildert. Das ist, glaube ich, ein altes Axiom – mir aber drängt es sich auf wie etwas Neues. Denn jeder Vernünftige wird doch zu gleicher Erkenntniß gelangen.«

»Ach, habe Dir man nicht! Alles oberfaul, alles.

Ueberhaupt schon die Jüdinnen! Wenn ich denke, als ich bei dem scheußlichen Millionenschinder Ruperti (wie die Bande sich immer auf's Italienische raustauft!) Sekretär war! Die dicke Madam geilte sich immer an mir ab und das Töchterlein Laura – na, die Kröte! Ruft mich mal heimlich ins Badezimmer, als sie halb am Ausziehen ist, natürlich in aller Unschuld – na, ich will nichts gesagt haben!« Schmoller strahlte nicht wenig von dem stillen Bewußtsein, er sei doch ein verdammt schöner Kerl. »O über diese ganze versumpfte Gute Gesellschaft! Da begreift man Dostojewski's ollen ›Raskolnikow‹, der einfach hingeht, um solch 'ne alte Geldlaus todtzuschlagen.«

»Hm,« meinte Leonhart. »Aus Faulheit und Größenwahn. Dem Raskolnikow spukt ja fortwährend Napoleon im Gehirn – das hat Dostojewski sein berechnet.«

»Na ja, so wie Napoleon Dir im Gehirn spukt, Raskolnikowchen,« grölte Schmoller.

»Mir? Danke!« brummte Jener. »Ich dürfte denn doch wohl mehr die Rolle des Rasumichin spielen, bei Deiner eignen hohen Beanlagung zur Raskolnikow-Rolle.«

»Was meinst Du damit?« fragte Schmoller mir einem stechenden Blick. »Uebrigens, das verstehst Du gar nicht. Ueber Raskolnikow kann nur Der mitreden – ja, mein Sohn, das ist die Noth, die Noth, die Du nicht kennst.«

»Hm, mein Theurer, ich erlaube mir zu bemerken, daß der Artillerielieutnant a.D. Bonaparte wohl mehr gehungert hat, als unser imaginärer Freund Raskolnikow, der überall herumlumpt, – was Bonaparte gewiß verschmähte. Und doch ging er keineswegs hin, um eine alte Frau zu raubmorden, sondern er erwartete standhaft seine Stunde und eroberte die Welt. Wenn Du nicht verstehst, wie groß dieser Unterschied, so hast Du Dostojewski's tiefe Psychologie gar nicht verstanden.«

»Pschah! Wie gesagt, was weißt Du von der Noth der untern Schichten!«

»Und was weißt Du von einer philosophische Lebensauffassung! Das Allerbeste ist: zu lachen, sintemal so viel Lächerliches jede Minute wächst. Lache nur viel und vor allem leide nicht an Hyper-Gerechtigkeit, welche dem Pharisäismus sich manchmal nähert. Gott sei mir Sünder gnädig! Man muß mit Hamlet sagen: Ich bin selbst leidlich tugendhaft, dennoch stehn mir mehr böse Wünsche zu Gebot, als ich Macht habe sie auszuführen. Wenn sie nicht herauskommen, wer weiß, ob das mein Verdienst ist oder das der Umstände!«

»Paperlapapp! Du red'st wie der Blinde voll der Farbe. Ueber das wahre Elend hilft all so'n Gethue nicht weg. Gestern genoß ich den Vorzug, einen Kohlenschipper zu sprechen, der zehn Jahre mit gebrochenen Beinen in einem dustern Keller lag. Tableau! Ach und dann all die andern Schandthaten! Daher auch die Lüderlichkeit bei den armen Leuten. Alle Konfirmandinnen von vierzehn Jahren sind schon keine Jungfern mehr. Da hilft nur noch praktisches Christenthum. – Ja wohl, meine Tochter, hier hast Du einen Groschen!« Er warf einer bettelnden Streichholzverkäuferin einen Nickel hinein und stieg erhobenen Hauptes, im Bewußtsein eines solchen praktischen Christenthums, die Stiegen zum ›Café Liedrian‹ hinan.

Die Ueberraschung Frau Helenens beim Erscheinen Leonharts spottet aller Beschreibung.

»So? Mit den Kerls gehst Du um?« raunte sie ihm ins Ohr und girrte dazu zärtlich: ›Federigo!‹

Da er peinlich berührt zusammenzuckte, girrte sie weiter: »Ach simulire man nich! Ich weiß ja, wer Du bist. Und jetzt würde sich ja doch Einer von den Kerls da verplappern. Na, der Schreck, als ich Deinen Namen in Deinen Handschuhen las und mich nachher orientirte, wer Du bist. Also der berüchtigte Schreihals bist Du! Nein, was man nicht erlebt! Und nun giebst Du Dich gar mit solchen Leuten ab! Der da, den Du da mitgebracht hast, der mit dem Havelock – o dem hab' ich schon mehrmals Feierabend geboten, weil er sich so unanständig aufführte. Bei mir herrscht ein anständiger Ton. Ach und Deine andern Champagner-Freunde da hinten! Das scheinen mir auch die Nichtigen. Soll mich wundern, ob Die solche Zeche machen können!« So schwatzte sie fort, fiel ihm aber um den Hals, als er sie ärgerlich abschütteln wollte: ›Ach, ich liebe Dich ja doch, alter Freund! Dadrum keine Feindschaft nich!‹

Die großen Freiheitsapostel flegelten sich hinten in der Weinstube auf dem Kanapee umher und mehrere Champagnerflaschen kollerten bereits geleert aus dem Boden. Leonhart dachte unwillkürlich an eine gemüthliche Orgie der alten Schreckensmänner des Wohlfahrtsausschusses. Er wurde mit Halloh empfangen und bald plätscherten alle wie der Fisch im Wasser in Zotenreißerei umher. Der antisemitische Jüdinnen-Verehrer besah die Bilder an der Wand, welche Nuditäten durchsichtigster Gattung darstellten. ›Ist die nackigt!‹ rief er mit Extase. »Das Wasser läuft Einem im Munde zusammen!«

»Greis, schäme Dir!« kicherte Schmoller. Der Greis schlug sich jedoch kernig auf die Heldenbrust und betheuerte, indem er die holde Olga umarmte: ›Bin ich ein Mann? He, kann ich noch?‹

Olga gab alles zu, obschon sein Wein-Odem sie so widerlich betäubte, daß ihr der Fächer, mit welchem sie stets als grande dame zu paradiren pflegte, aus der Hand fiel.

»Ach, Sie wissen ein Weib so zu nehmen!«

»Na und ob! Wir sind doch auch noch so gut wie so'n oller laffiger Lieutnant mit 'nem Bürstenladen in der Tasche, wä?«

Hier hielt der finstre Redacteur, der laut Schmoller in Amerika einen Mord auf dem Gewissen hatte, die Gelegenheit für gekommen, um den ›verehrten revolutionären Dichter Leonhart‹ wegen seines Vortrags über den Größenwahn des Militarismus zu preisen.

»Ja, da haben Sie mal wieder einen Schuß ins Schwarze gethan, den Nagel just auf den Kopf getroffen. Hier sitzt der Kern alles Uebels. Der nationalökonomische Ruin des Staates wird durch das Wuchern dieses unproduktiven Standes unvermeidlich. Soll das arme überbürdete Volk etwa den Kastendünkel des rothen Kragens mit seinem blutigen Schweiße färben?«

»Hm, da haben Sie mich nun freilich doch nicht ganz verstanden,« wehrte Leonhart ab. »Gegen den Offizierstand, der heut das Ritterthum darstellt, habe ich gar nichts. Im Gegentheil. Die Offiziere müssen sich durch Kastengeist entschädigen. Denn abgesehen von schlechter Bezahlung (wofür freilich die Pension eintritt), wie entsetzlich steht es mit dem Avancement! Mit 42 Jahren Hauptmann – also etwa das, was in einem großen Handlungshause einer der Kommis I. Klasse bedeutet! Man muß hier unbedingt das Talent haben, alt zu werden. Gott sei Dank, sind 90 Procent der Offiziere ganz mittelmäßig und wählen den Beruf nur aus sozusagen physischen Gründen, weil sie für einen höheren Beruf keine Intelligenz haben. Allein, die höher Veranlagten, – was müssen die leiden! Denn in allen unteren Graden hilft ihnen ihre militairische Begabung größeren Stils ja nichts. Sie müssen günstigstenfalls 60 Jahr alt werden, um in eine Stellung zu kommen, wo sie ihr Führertalent entfalten können.«

Dieser belehrende Einwurf mißbehagte den Andern offenbar. Ebenso, als einiger Unsinn über den nächsten Krieg und Boulanger's Rolle vorgebracht wurde und Leonhart ruhig urtheilte: »Boulanger scheint der Dumouriez der neufranzösischen Republik. Solcher Leute Augenmaß sieht in einer Revolution keine Empörung, sondern eine Verschwörung. Ein geborener Revolutionär ist nie ein wahrer Republikaner. Während er mit dem einen Auge der Monarchie droht, blinzelt er liebäugelnd mit dem andern Auge nach ihr hin. Mit der Keckheit eines Prätorianerobersten gedachte Dumouriez die Orleans gegen den Convent auszuspielen. Wer weiß, ob nicht Aehnliches Boulanger vorschwebt! Da ihm der Einfluß im ›Senate‹ mangelt, so gedenkt er wie Cäsar das Heer zu seinem Werkzeuge zu machen. Die Legionäre Cäsars aber waren eben – Cäsarianer, privilegirte Räuber; die Soldaten des Dumouriez aber waren Bürgersoldaten, denen blinder Soldatengehorsam fremd, und jener Lysander der großen Revolution wurde alsbald von der Bühne verjagt. Der Convent nannte ihn den ›großen Verräther.‹ Ob Boulanger ein ähnliches Loos zu fürchten hat? Nun, er hat kein Jemappes in seiner Vergangenheit; dafür hat er den Ruhmestag am Lyoner Bahnhof und die Flucht vor dem Gesindel seiner Anbeter auf einer Lokomotive. Der Radau-General, der ›St. Arnaud der Tingeltangel‹! Ein klassisches Sinnbild für den Reklame- und Strebergeist unsrer Epoche! Lachen muß ich nur, wenn die Zeitungen durch ihr Schimpfen solch' gefährliche Elemente unschädlich zu machen denken. Heutzutage bläht man durch jede Art von Oeffentlichkeit die Leute auf. Man beschuldige und ›vernichte‹ die Leute kräftig mit Druckerschwärze – das ist der Weg, um ihren Namen aller Welt geläufig zu machen. Man muß sehr talentlos oder energielos sein, um auf solcher Schimpf-Basis nicht ein Piedestal für sich zu erbauen.«

»Sehr richtig!« rief der finstre Volksredacteur mit dem Christuskopf. »Uns hat das Socialistengesetz und der Belagerungszustand groß gemacht. Das Schimpfen und Verfolgen zeigt doch immer Furcht.«

Aus dieser Anknüpfung entspann sich alsbald naturgemäß eine socialpolitische Debatte, während die Mamsells sämmtliche Flaschen unterdessen ausbecherten, über den Associationsstaat. Da hatte Jeder sein Steckenpferd. Der jüdinnenfreundliche Antisemit bestand vor allem auf freier Liebe und Aufhebung des Erbrechts. Schmoller bezeugte eine besondere Wuth gegen das Privatkapital und der düstere Redacteur plaidirte für das Genossenschaftswesen als Monopol. Leonhart ließ den Wortschwall eine Weile über sich ergehen, dann aber hielt es ihn nicht länger und sprach: »Meine Herrn! Die socialistische Doctrin entstammt dem Schädel überspannter Ideologen, welche sich im Mantel des naturwissenschaftlichen Materialismus drapiren, um die wahren Materialisten, die rohen Pöbelmenschen, über ihr Wesen zu täuschen. Der Socialismus ist in sich die baare blanke Unmöglichkeit. Denn erstens müßten, um ihn durchzuführen, die Bedingungen der Naturgesetze umgestoßen und eine gewaltsame Herabschraubung und Nivellirung aller Einzelkräfte auf ein Durchschnittsmaß ermöglicht werden. Sie werden mir nun versichern, das socialdemokratische Drillzuchthaus werde der naturgemäßen Aristokratie des Geistes gebührend Rechnung tragen und dieselbe als Beamtenthum der großen Staatsfabrik, als patentirte Erfinder und Ingenieure verwenden. Allein, wie lange würde es dauern und die souveraine Arbeitermasse, willenlos thierischen Instinkten folgend, würde diese geistige Control-Aristokratie mit demselben Haß empfinden, wie die frühere Geld- und Geburtstagsaristokratie. Ja, die Möglichkeit ist für den Psychologen nicht ausgeschlossen, anbetracht der vollständig sinnlichen und äußerlichen Auffassung der Durchschnittsmasse, daß die Geistesaristokratie nicht einmal den Respekt bei dem gemeinen Mann erzwingen würde, den er jetzt mürrisch dem Geld und Titel entgegenbringt. – Andrerseits aber würde höchst wahrscheinlich diese Beamtenaristokratie selbst ihr Loos bald unzulänglich finden und ein höheres Uebergewicht, ihrem Werth gemäß, dem Handarbeiter gegenüber beanspruchen, als der socialdemokratische Staat ihnen nothwendig zugestehen kann. – Wie will sich nun dieser Staat vor all den Unzufriedenen schützen? Ah, an Gewalt wird es ja nicht fehlen, vor scharfen Mitteln werden die großen Robespierres des Socialismus nicht zurückschrecken – man wird die Staatsgewalt schon aufrecht erhalten, nicht wahr? Nämlich womit? Natürlich mit bewaffneter Hand, mit einer kräftigen Jakobiner-Leibgarde der socialistischen Heiligen. Sieh da, und darum habt ihr dem Militarismus den Garaus gemacht? O ihr Thoren! Was für ein Unterschied zwischen den alten und neuen Garden?

Meiner festen Ueberzeugung nach macht die Mehrzahl der socialistischen Utopisten, in Folge mangelhaft construirter Einbildungskraft, sich den Zustand der Menschen ihres Zukunftsstaates in keiner Weise klar. Wir wollen meinethalben annehmen, daß man die Blumen aus der Natur ausjäten, daß man alle feineren Individualitäten in der Wurzel vernichten, daß man die Künste und abstrakten Wissenschaften abschaffen, d.h. den Trieb und Wunsch nach idealen Thätigkeiten aus der Menschenseele entfernen könne. Diese Unmöglichkeit einmal angenommen, müssen wir umgekehrt erwarten, daß die große Masse, welche heut vom niedrigsten thierischen Egoismus gelenkt wird, sich idealisire – zwar nicht ästhetisch, aber moralisch. Bei der Vernichtung des persönlichen Arbeitsgewinns durch die Aufhebung des Privateigenthums müssen eine ideale Arbeitslust und Pflichttreue die rein der Sache wegen wirken, sowie eine fortwährende Selbstverleugnung zu Gunsten des lieben Nächsten angenommen werden. Aehnlich verhält es sich bei der sogenannten freien Liebe oder Frauengemeinschaft, welche außerdem nur für Maurergesellen und Dirnen überhaupt etwas Verlockendes haben mag. Auf der einen Seite sträubt sich jedes ideale Gefühl dagegen und auf der andern Seite verlangt die Durchführung der Theorie die idealste Selbstverleugnung des Einzelnen, der in seinen edelsten wie in seinen brutalsten Instinkten zugleich verletzt wird.

Aendert die menschliche Natur von Grund aus, modelt uns alle um, macht uns zu mechanischen Freß-und Zeugungsmaschinen, zu Thieren oder umgekehrt zu brüderlichen Engeln – ohne diese Prämisse ist der Zukunftsstaat ein Unding.

Auch dies Letzte endlich angenommen, würde man bei wirklich regelrechter und möglichst vollkommener Ausbildung dieses Staates allergünstigstenfalls nur urtheilen dürfen: Viele alte Uebel sind abgeschafft, viele neue hinzugekommen; viele neue Vorzüge hat dies System, viele alte hat es eingebüßt. Die Rechnung zwischen dem alten System, das die Menschheit nun 10000 Jahre weiterschleppt, und dem neuen deckt sich. Nun, meine Herrn, da bleibe ich lieber bei meiner alten Maschine, die zwar voller Fehler und Schwächen, aber durch unablässige Traditionen von Kind zu Kind geheiligt und wohleingeölt wurde. Wozu soll ich mir die Scheererei mit einer neuen ungeölten Maschine machen! Verlorene Liebesmüh!«

Mit zunehmender Verwunderung, die sich zur Entrüstung steigerte, hatte das edle Kleeblatt diese offene Erklärung hingenommen.

»Nu aber raus!« machte der philosemitische Antisemit seinem Grolle Luft.

»Wen haben wir denn da? Einen communen Erzreactionär? Das ist der freisinnige, der revolutionäre Poete? Wir sind erstaunt, Herr Schmoller, wie Sie es wagen durften, diesen Herrn bei uns einzuführen.«

»Das ist ein Mißbrauch des Vertrauens!« trumpfte der Garibaldianer mit dem Christuskopfe auf. »Herr Schmoller, verschonen Sie uns künftig mit Ihren Freunden! Und Sie, Herr, muß ich bitten, unsere Gesellschaft zu meiden. Wir als Vertreter des Volkes können solchen Verrath an den ewigen Prinzipien der Freiheit in unsrer Nähe nicht dulden.« Er stand, die Rechte in der Brusttasche, die Linke am Champagnerkelch, majestätisch da, so daß der Busen Olga's und Kneifer-Mary's sich von einem stillen jungfräulichen Athemzug des Verlangens hob und Frau Meyer murmelte: »Ein schöner Mann!«

Leonhart erwiderte kein Wort, zahlte und ging mit stummem Gruß. Erst auf der Straße kam ihm Schmoller nach, der oben mich parlamentirt und seinen vollen Beifall zu der sittlichen Entrüstung der zwo Volksvertreter beigesteuert hatte.

»Wir gehn wohl noch mal hier in die Kneipe nebenan?« sagte er halblaut. Leonhart nickte. – Das Lokal war zufällig ganz leer und sie nahmen in einem dunkeln Winkel Platz. Hier explodirte Schmoller. »Du hast mich blamirt,« rief er ein über das andere Mal »Aller Blicke im Lokal waren auf mich gerichtet.«

»Auf Dich? daß ich nicht wüßte!« In seinem nervösen Verfolgungswahn waren freilich solche Selbstvorspiegelungen bei dem großen Sittenschilderer nichts Seltenes. Auch ließ Schmoller sich keineswegs durch Leonhart's Ruhe beschwichtigen, sondern schlug einen eigenthümlich provocirenden Ton an, der sich allmählich bis zur Grobheit steigerte.

»Und Du scheinst noch gar nicht mal eingestehen zu wollen, daß Du den gesellschaftlichen Anstand taktlos verletztest?«

»Mein Bester, jetzt höre auf! Ich freue mich, daß mir die Geduld riß und ich dem dummen Größenwahn der alleinseligmachenden Socialdemokratie ein kräftig Wörtlein zu schlucken gab.«

»Ach, was Du wohl davon verstehst!« Schmoller machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du bist ja in solchen Dingen naiv wie ein Kind. Die Noth, die Noth! Du hast immer volle Taschen gehabt, an besetzten Tafeln geschwelgt« – »Weißt Du das so genau?« fragte Leonhart achselzuckend.

»Ja wohl,« fuhr Jener unbeirrt fort, ohne den Zwischenruf zu beachten. »Daher steht Dir auch über meine Geldgeschichten gar kein Urtheil zu.«

»Ich wüßte nicht, daß ich mir ein solches je angemaßt hätte,« fiel Leonhart ein. Doch aus dies überhörte der große Unsittenschilderer und perorirte weiter:

»Mir gereicht das alles nur zur höchsten Ehre. Man hat mich bei Dir schlecht gemacht. Ich weiß wohl wer.«

»Aber erlaube mal, ich habe kein Wort..«

»Ja wohl. Ich will offen und ehrlich bekennen, offen und ehrlich«, diese beiden Adjective liebte Schmoller mit jener Inbrunst, mit der man etwas Unerreichbares erstrebt, das man nie besitzen wird, »daß ich Verschiedene, darunter auch Dich, um nicht unbedeutende Darlehen anging und daß Du Dich mehrfach für mich bemüht hast. Wenn Du es wünschest, will ich offen und ehrlich –«

»Hör' mal, jetzt ist's genug! Habe ich je mit einer Silbe –«

»Ja wohl. Es giebt Leute, die da einfach wähnen, daß ich bei Dir allzu tief in der Kreide stecke. In der Vorrede meines nächsten Romans werde ich daher, um cursirenden Gerüchten entgegenzutreten–«

»Bist Du wahnsinnig?«

»Ja wohl. Dieses Wort zeugt wieder von einer so maßlosen Ueberhebung Sr. Majestät Friedrichs I. des Großen, daß ich nicht ohne ein Lächeln daran denken kann. Nur Du wirst Dich dabei blamiren, wenn ich offen und ehrlich –«

»Offen und ehrlich!! Diese Worte in Deinem Munde!« Leonhart brach in ein bitteres Gelächter aus »Ich ersuche Dich, mich mit den müßigen Hallucinationen Deines Verfolgungswahns zu verschonen. Kein Mensch außer Dir selbst in Deinem schlechten Gewissen, das seinen krassen Undank beschönigen möchte, träumt so etwas. Ich bedaure. Dir heut Lebewohl sagen zu müssen. Schlaf Dich aus! Und bedenke das nächste Mal, wo Du eine Rempelei vom Zaune brichst, daß Du mir nur größte Hochachtung schuldest. Verstanden?«

»Größte Hochachtung, warum nicht gar knechtische Unterthänigkeit!« schrie Schmoller, indem er sich in die Haare fuhr und gezwungen auflachte. »Begreifst Du denn nicht, wie urkomisch ein solches Wort in Deinem Munde klingt? Von übertriebener Eitelkeit geplagt, forderst Du ewig meinen Dank heraus. Ich habe nie Dank dafür beansprucht, wie oft ich hinter Deinem Rücken Dein Genie und Deine Uneigennützigkeit gegen mich gepriesen habe.«

»Hör auf! Ich bin leider nur zu wohl in anderem Sinne unterrichtet. Nochmals, für heut verzichte ich auf weitere Konversation.« Leonhart hatte längst erkannt, daß Schmoller plötzlich, einer Laune seines eingewurzelten Selbstsucht-Instinkts folgend, einen Bruch mit ihm suchte. Er pflegte diese geistreiche Taktik, sobald er sich durch die Erinnerung empfangener Dienste belästigt fühlte.

»So? Aha! Nun, nimm mir um Gotteswillen nichts übel. Es ist nur eine Kompensation für Deine Beleidigungen.«

»Meine –? Nochmals, bist Du wahnsinnig?«

»Siehst Du, wieder eine so schwere Injurie! Doch ich dulde viel von Dir. Wenn ich Dich durch meine Offenheit verliere, so ist das noch nicht zum Selbstmorden! O ich weiß wohl, daß Du schlecht von mir denkst. Aber Du hast keinerlei Recht dazu. Ich bin ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle.«

»Wenn Du's selbst sagst!«

»Deine Ironie trifft mich nicht. O Du, der Du die Noth des Lebens nicht kennst, wie ich, der sein kärgliches Brot sauer erwirbt, dessen ganzes Leben Arbeit und Entbehrung war!«

»Von Deinem vielen Arbeiten merkt man nichts. Und was Dein kärgliches Brot betrifft, so behauptest Du ja selbst, daß Du die höchsten Honorare in Deutschland beziehst.«

Schmoller jedoch überhörte das und bekam, in sein Seidel starrend, einen Rühranfall. »Hast Du eine alte Großmutter wie ich zu ernähren? Hast Du –«

»Bitte nur eins: Verschone mich damit! Ewig hört man von Dir Wunderdinge von Deiner Familien-Aufopferung und so weiter. Nun, ich bin nicht in der Lage, das prüfen zu können. Aber da ich Dich nie mit meinen Privatverhältnissen langweile, so sehe ich nicht ein, wozu ich Deine selbstberäuchernden Edelmuths-Wechsel, die Du auf Dich selber ziehst und jedem Ahnungslosen als General-Entschuldigung gegen alle etwaigen Vorwürfe präsentirst, länger als baare Münze acceptiren sollte. – Kommen wir zum Schluß und offen heraus: Ich weiß, aus tausend kleinen Einzelheiten, die mir nie entgangen sind, daß Du im Grunde Deiner Seele einen tiefen Haß gegen mich nährst. Und wenn Du meinst, ich dächte schlecht von Deinem Charakter, trotz meiner heroldenden Bewunderung Deines Talents, so kann ich mich nur negativ dahin äußern: Wenn ich doch je etwas Gutes von Dir gesehen hätte!«

Schmoller schlug auf den Tisch und knirschte mit unheimlich glühenden Augen: »Jetzt bleibst Du. Du sollst mir mal ausführlich begründen und deutlich aussprechen, was Du über mich denkst.«

»Ach, wozu solche unliebsamen Scenen bis aufs Aeußerste treiben! Adieu.«

»Nein, ich lasse Dich nicht fort, ehe Du mir Rede stehst. Du weichst mir nicht aus. Für feige habe ich Dich nie gehalten.«

»Feige?! Nun gut!« Leonhart lehnte sich ruhig in seinen Stuhl zurück: »So muß ich wohl oder übel daran? Here goes! Also dies erzähle ich mir selbst, an der Hand meiner Erfahrungen über Herrn Karl Schmoller.

Der große Mann, für dessen unverkennbare Begabung ich bereits lebhaftes Interesse besaß, tauchte zuerst vor meinem Horizont in der Redaction des Doktor Arthur Kirmány auf. Er brachte dort eine Recension über Doktor Johannes Adler, den bekannten Redacteur und Dichter, unter, da er diesem viel verdankte. Er versprach Kirmány, einem Gegner Adlers, goldene Berge, wenn er die Recension aufnähme. Dieser, ein stets gefälliger Mann, that es.

Ich bemerke hier gleich parenthetisch, daß Schmoller, als den Doktor Kirmány später ein unverschuldetes Unglück traf, unter denen war, die am lautesten über den Armen herzogen. Ich erinnere mich noch mit Vergnügen des Abends, wo eine Gesellschaft notorischer Lumpen in tugendsamer Entrüstung den Gefallenen beschimpfte und ich taktlos genug war, mit ruhiger Miene zu antworten: ›Lump – so! Na, wir sind doch alle Lumpen!‹

Die nähere Bekanntschaft Schmollers sollte nicht auf sich warten lassen. Diese Ehre kostete ich sofort, als ich Redacteur eines kleinen Blättchens wurde, das einigen Rumor machte. Ich saß am zweiten Tage mit dem Chef und Herausgeber bei der Arbeit, als dieser mit seinem bekannten brummeligen Ton aufstöhnte: ›Da kommt Schmoller! Dacht ich's doch!‹ Und in der That dieser große Mann erschien, lebhafter Neugierde voll, gleich dem Geier, welcher Aas wittert. Mit seiner schnüffelnden Fuchsnase und seinem listigen Catilina-Blick durchforschte er sogleich unser etwas ärmlich ausschauendes Lokal und erkundigte sich nach unsern ›Mitteln‹. Dann hub er etwa also an: ›So na ja! drei Abonnenten habt ihr?‹ Mein Chef, der ihn genau zu kennen schien, bläkte seine Zähne und sagte gar nichts. ›Was, schon 5000? Alle Achtung! Jaja, der Mießnik da! Hat gleich eine Novelle drin! 2000 Mark bekommen, wie ich höre. Ach, reden Sie doch nich! – Also, Mießnik, Sie sind zu den Conservativen übergegangen? Wer hätte das gedacht! Neulich war ich mit ein Paar Judenbengeln zusammen, haben Die geschimpft! Was, der Mießnik? Nachdem er von uns die hohen Honorare geschluckt hat?!‹ Ich sperrte Nase und Mund vor Staunen auf, da ich die Erfindungsgabe Schmollers ja noch nicht kannte. ›Nein, was der Mießnik übrigens meinem Bruder ähnlich sieht! Wahrhaftig, Haare, Stirn und die treuen Augen – alles dasselbe!‹ Ich war gerührt. Wir wollten arbeiten, aber Schmoller ist bekanntlich ein Klebpflaster: Er bleibt so lange sitzen, bis er irgend eine unvorsichtige Aeußerung erschnappt hat, womit er dann hausiren geht.

Mein Chef brummelte fortwährend oder schwieg sich aus. Nachdem Schmoller mich dann gebeten, doch irgendwo mit ihm in einer Kneipe zu plaudern, schleppte er mich widerstandslos fort. Nun begann sein Spiel. Er erzählte mir von meinem Chef und dessen Gattin allerlei horrible Dinge unter dem Siegel peinlicher Verschwiegenheit. Doch lobte er die kluge Frau, indem er unter Anderem folgende köstliche Anekdote von Stapel ließ. Er hatte sie mal gefragt, warum sie ihn nicht mit dem ihr befreundeten berühmten Dichter Kasimir Pakosch zusammen einlade. ›Ach,‹ hatte sie geantwortet, ›der würde Sie nach seiner Art über uns ausforschen und dann würden Sie irgend was Schlechtes sagen und er würde uns dies bei Gelegenheit mit frommer Gebärde wiederklatschen – na und dann wären wir alle auseinander!‹ Ich wunderte mich im Stillen.

Schmoller wich nicht von uns. Er widmete unserm Blatte eine rührende Aufmerksamkeit. Dabei kam er dann bald auf sein berühmtes Steckenpferd: Seine unvergleichlichen Honorare! 10,000 Mark für sein neues Buch – das ging ihm nur so vom Munde. Dann berichtete er auch mit liebevoller Detaillirung, daß seine Braut 50,000 Mark besitze und erkundigte sich, wo er 30,000 Mark unterbringen könne.

›Her damit! Bei uns!‹ schrie mein Chef, dem das Wasser im Mund zusammenlief: Der Köder war selbst für seine Schmoller-Kenntnisse zuviel.

Darauf hatte Schmoller nur gewartet. Er ließ vernehmen, daß sich das hören lasse, und versprach bereitwillig all seine Güter im Monde.

Nun hatte er Anker gefaßt. Mir gegenüber stocherte er, wie ein so bedeutender Schriftsteller wie ich sich überhaupt zum ›Redacteur‹ degradiren könne. Ihm könne man Berge bieten! Und mein Chef schimpfe über mich – o! Das sei überhaupt ein Kerl – na!

Zu Jenem äußerte er dann: Wie er solch einen Kerl wie mich überhaupt dulden könne! Und der schimpfe über ihn – o!

In Folge dessen erlebte er denn das Gaudium, daß mein Chef und ich bei einem seiner gewöhnlichen liebenswürdigen Besuche uns gegenseitig in die Haare geriethen. Da verabschiedete er sich schleunig, worauf wir Andern uns natürlich versöhnten, sintemal die Aussprache ergab, daß Schmoller uns aneinandergehetzt. Doch schien ihm bald meine Freundschaft irgendwie werthvoller zu sein, als die der andern – kurz, er attachirte sich gewaltig an mich.

Ich muß nun, um Schmollers Eigenart zu würdigen, Folgendes bemerken: Seine Grobheit bleibt Schmoller's gefährlichste Waffe. Denn eine angeborne Thorheit der menschlichen Natur liegt in dem Wahn: wer grob auftrete, sei darum auch ohne Falsch. ›Lächeln, lächeln, immer lächeln und doch ein Schurke sein!‹ heißt es im Hamlet. Und dennoch hat der größte Herzenskündiger seinen Richard III. je nach Bedarf grob und zänkisch ins Gesicht, oder aber biderb schmeichelnd dargestellt. ›Sie thun mir unrecht und ich will's nicht dulden,‹ schimpft der polternde Biedermann. Und so –«

Er unterbrach sich. Jener erhob die Hand wie zum Schlage. Dann packte er plötzlich Leonhart leicht an der Brust zwischen den Rockknöpfen, der ihn jedoch im gleichen Augenblick unsanft abschüttelte. Schmoller beherrschte sich mühsam und warf ruhig hin: »Fahre so fort! Ich fange an, Dich zu achten.« Doch wiegte er wehmüthig das Haupt und flüsterte mit umflorter Stimme: »Kleiner Kerl!«

Aus Leonharts Auge brach ein scharfer greller Strahl, wie von inneren Blitzen entzündet. Er bohrte sich dem lauernden Brillen-Blick des Andern entgegen, der wie das scheue Spähen ertappter Neugier verlegen auswich, als könne er sich schwer dem Banne einer neuentdeckten Ueberlegenheit entziehn. Dann schlug er jedoch eine häßliche Lache auf:

»Eine wahrhaft Shakespearische Menschenkenntniß! Ich habe eine traurige Mittheilung zu machen, unter dem bekannten Siegel tiefster Verschwiegenheit – – Du brichst es doch hoffentlich?« Schmoller's Lippen umspielte jenes süßlich wollüstige Lächeln, welches der Hochgenuß über fremde Sünden stets seiner Nächstenliebe zu entpressen pflegte. »Leonhart ist verrückt geworden. Er war ja neulich geständig, daß er sich für einen angehenden Weltdichter halte. O Gott, wie jroß ist dein Thiergarten!«

Die röthliche Löwenmähne des Beleidigten, ebenso wie vorhin Schmoller's spitzer Katerschnurrbart, sträubte sich ordentlich vor Wuth.

»Nimmt Dich überhaupt noch Jemand Ernst? Du scheinst Dich immer noch nicht bessern zu wollen, Du richtiges kleines Kind. Wenn ich so wenig vom Leben wüßte wie Du –!«

Leonhart stieß ein unartikulirtes Fluch-Grunzen aus. Er weinte beinahe vor Zorn. Als Correspondent eines großen rheinischen Blattes hatte er Jahre lang in Paris und London gebummelt und sollte den schnöden Vorwurf der Unschuld über sich ergehen lassen? Schmoller ließ ihn jedoch nicht zu Worte kommen: »Nu aber bitte weiter im Text!«

»Du hast's gewollt, George Dandin!« In seiner maßlosen Empörung sprudelte jetzt der geknickte Transcendental-Realiste über alle Schranken weg. Seine absolute Gerechtigkeitsliebe ging unter in dem Sturzbad seiner nervösen Erregung. Wohlan! – Alles, was in meinen schwachen Kräften stand, bot ich auf, um ihm zu nützen, wo ich konnte. Dies belohnte er stets mit dreister Stichelei hinter dem Rücken, trotzdem seine Briefe von Versicherungen seiner Verehrung strotzten. Hier in die Details zu gehn, wäre peinlich über alle Maßen. Hervorheben aber möchte ich die kühne Frechheit, die fast aus Irrenhaus streift, mit welcher Herr Schmoller andere anklagt, wenn er dieselben schändlich mißhandelt hat, und noch den moralisch Entrüsteten spielt.

»Aus meinen Erfahrungen würde ich daher folgende Charakteristik des großen socialen Romanziers zu liefern haben.

Er war wie ein Weib. Je mehr man ihn ›poussirte‹, desto patziger und innerlich gleichgültiger wurde er. Setzte er seinen Cylinder ab und stülpte einen Kalabreser auf, so veränderte sich gleichsam seine ganze äußere Erscheinung. Er sah dann viel bedeutender und zugleich gefährlicher aus. Zaghafte Naturen mochten ihm dann wohl ungern allein im Walde begegnen. Man traute ihm zu, daß er seinem besten Freund plötzlich einen Dolch in die Nippen bohren könne mit dem Ausruf: ›Die Börse oder's Leben!‹

Es harmonirte damit, daß er immer großspurig darauf hinwies, wie Leute, die von christlicher Liebe schwatzten, nichts thäten, zumal für einen Mann wie Ihn, und in Wahrheit in der Welt nur der rohe manchesterliche Grundsatz herrsche: ›Stirb Du, damit ich lebe!‹ Nun, er mußte es ja wissen, da dies sicherlich sein heimliches Prinzip sein mochte.

In seiner schwarzen Seele spiegelten sich alle Menschen pechrabenschwarz. Denn die Welt ist nur ein Spiegel: Was hereinschaut, schaut heraus. In Folge dessen brachte er das Kunststück fertig, sich in einer Welt von Schurken, die er sich ausmalte, als verfolgter Biedermann zu fühlen. Diese Schwäche und Beschränktheit des Menschen beschränkte auch seine Begabung. Wo er wild, trotzig, grimmig und vor allem, wo er boshaft die Feder schwang, war er groß. Dann brach eine elementare Urgewalt in seinen Schöpfungen hervor. Wo er hingegen pausbäckigen Humor pflegen wollte, wirkte er unbedeutend; wo er gar in gerührter Menschenfreundlichkeit schwelgte, wirkte er theils läppisch theils für den tieferen Beobachter widerlich durch verlogene Sentimentalität.

Diese mittelmäßigen Mißgeburten hielt er dann natürlich für seine besten Erzeugnisse, und die unreife Presse, welche seine wirklich bedeutenden Bücher weder las noch verstand, ermuthigte ihn noch in diesem Irrwahn. Man munterte ihn auf, sich zum Idealismus emporzuranken und die Bahnen des greulichen Zola zu fliehen.

Ein Virtuose der Undankbarkeit, hatte er alle Menschen, die es gut mit ihm gemeint, in einer Weise vor den Kopf gestoßen, die man nicht verzeiht, weil sie nicht plumper Rohheit, sondern einer allgemeinen Charaktergemeinheit entspringt. Wohlthat wurde ihm zur Beleidigung. Er fühlte geradezu das Bedürfniß, sich an Leuten, die ihm wohlgethan, zu rächen – dafür zu rächen, daß ihn denselben gegenüber die Empfindung einer Verpflichtung drückte, die er doch nicht einlösen wollte. Hatte ihm ein Verleger ein übermäßig hohes Honorar bezahlt, so erklärte er steif und fest, der Mann habe ihn betrogen, und carrikirte ihn in seinem nächsten Roman. Hatte ein College aus uneigennützigen Gründen ihn gefördert, so munkelte er, dahinter stecke eine listige tiefverborgene Schurkerei. Lobte ihn Jemand sehr stark, so klammerte er sich an irgend ein Wörtchen, das ihm mißfiel, und drohte mit öffentlicher Beschimpfung oder gerichtlicher Beleidigungsklage. Und dies Alles passirte nicht einmal, sondern hundertmal in verschiedensten Variationen. Er war geradezu sprichwörtlich geworden, so daß sich Jeder hütete, mit ihm zu verkehren, mit ihm zu verhandeln und über ihn zu schreiben.

Das Alles aber wäre zu ertragen gewesen, wenigstens für aufrichtige Bewunderer seiner phänomenalen Beobachtungsgabe, wenn nicht obendrein mit der perfidesten Verlogenheit verbunden. Er brachte es fertig, Leuten seinen ewigen Dank schriftlich zu versichern und womöglich am selben Tage in öffentlicher Kneipe dieselben niederträchtig zu verleumden. Daher cursirten denn über ihn Briefe früherer Freunde, wo von fauliger Corruption und gemeiner Bauernfängerei die Rede war. Er log wie gedruckt, erfand Gerüchte, die ihm beliebten, und wußte von Jedermann irgend ein schauerliches Geheimniß. Seine nervöse Brutalität siegte manchmal über seine Falschheit und dann brach er plötzlich unvermuthet Krakehle vom Zaun – sobald der Betreffende ihm aber energisch entgegentrat, wich er feige zurück. Ebenso suchte er, sobald ihn die Umstände irgendwie dazu zwangen, sich wieder an die Leute anzudrängen, mit denen er gerempelt hatte. Er that dies aber auf eine höchst seltsame Manier, indem er versteckte oder offene Drohungen einfließen ließ, welche in solchem Fall mühelos als Erpressung gedeutet werden konnten.

Wenn man aber alledem gegenüber sein fabelhaftes Moralgefühl und seinen Brustton der Ueberzeugung erwog, so fiel einem die bekannte Scene aus dem Drama ›L'Etrangère‹ von Dumas ein, wo der Yankee plötzlich ruhig dem Herzog bemerkt: ›Nach allem, was Sie mir da vertrauensvoll mittheilen, muß ich schließen, daß Sie ein Schurke sind. Und das wunderbarste dabei bleibt, daß Ihnen das noch Niemand gesagt zu haben scheint!!‹«

Leonhart hatte in gleichmäßig eisigruhigem Ton diese kaltblütigen Degenstiche verabreicht, während die Züge des Delinquenten, der die Prozedur über sich ergehen lassen mußte, sich mehr und mehr verzerrten. Seine Hände zitterten, seine Gesichtsfarbe spielte ins Aschgraue – – jetzt sprang er plötzlich mit einem unartikulirten Wuthschrei auf und griff mit der gespreizten Hand krampfhaft in die Luft. War es Zufall, war es bewußte Absicht, – seine Finger umkrallten den Griff des Brotmessers, das im Brotkorbe auf dem Tische lag. Wie von dämonischem Instinkt elektrisch durchzuckt, hob er es hoch, die funkelnde Spitze richtete sich schwirrend gegen Leonhart, noch ein Moment – –

»Setz Dich!« sagte der Bedrohte mit lauter Stimme in strengem befehlendem Ton. Er blieb sitzen, aber sein Gesicht nahm einen furchtbaren Ausdruck an. Sein blaugraues Auge sprühte geradezu Feuer, seine Stirnfalte über der Nasenwurzel trat wie mit dem Messer geschnitten scharf hervor. Wenn zwei Welten in dieser Physiognomie lagen: ein weicher Gemüthsmensch und ein kaltberechnender Mann der That, so verschwand jetzt gänzlich der Zug wohlwollender beobachtender Kraft und ein ungebändigter, zerstörungswilder Despotengrimm straffte seine Züge.

Langsam stockend, zitterte Schmollers Arm in der Luft; seine Finger lösten sich, als ob der unheilverkündende Blick des Gegners ihnen die Spannkraft aus den Sehnen sauge – klirrend fiel das Messer zu Boden. Wie mechanisch machte er einige Schritte vor- und rückwärts mit schlürfendem Tritt, dann sank er auf seinen Stuhl mit einem dumpfen Knurren.

So schleicht der Tiger, der zum jungen Löwen in den Käfig gesperrt, mit unheimlichem Fauchen und knurrendem Heulen um diesen her, als wolle er ihn von hinten anfallen, und verkriecht sich, erstickt von ohnmächtiger Wuth, in die Ecke, sobald der gutmüthige Löwenblick sich auf ihn richtet. Der Zuschauer begreift es kaum, worin die siegessichere Ueberlegenheit des kaum flüggen Löwenbengels besteht, denn der schreckliche Tiger scheint ihm an Stärke weit überlegen. Und doch reißt der Löwe bei der Fütterung die ersten Stücke an sich und scheucht das hungrige Ungeheuer in unfreiwillige Geduld zurück. Ist's ein Naturinstinkt, der den König der Thiere freiwillig anerkennt, so wie der Löwe selbst vor dem festen Blick eines Menschen, der keine Furcht verräth, sich ehrerbietig seitwärts trollt?

Eine tiefe Pause trat ein. Ein Kellner, der sich neugierig gezeigt hatte, zog sich befriedigt zurück.

»So muß es kommen,« flüsterte Leonhart nachdenklich. »Siehst Du, wie Deine Lippen zucken! Vom Größenwahn zum Verfolgungswahn und von da zum Verbrechen – das ist eine logische Stufenleiter.«

»Ich – wollte – nicht –« murmelte Schmoller.

»Schweig! Du wolltest es,« schnitt ihm Leonhart barsch das Wort im Munde ab. »Ich finde das auch ganz begreiflich, nachdem ich Dir die Wahrheit einmal so gründlich gesagt. Wer weiß, ob Du mir nicht noch mit Knüppel oder Pistole auflauerst, um Deinen wüthenden Haß an mir zu kühlen, weil ich Dir die Biedermannslarve herunterriß!«

Schmoller schnappte ein paar Mal nach Luft, als ersticke ihn rasende Wuth. Dann lachte er heiser und gezwungen auf: »Pah, das Alles ist ja doch nur fauler Mumpitz! Du bist ein unreifer Narr und hast noch nicht ins Leben hineingespuckt.«

»Ei! Da wir doch einmal bei der letzten Aussprache sind, – davon hast Du ja freilich keine Ahnung, daß Du mir eigentlich stets eine komische Figur gewesen bist mit Deinem drolligen Größenwahn prahlender Weltkenntniß. Was weißt Du denn überhaupt vom Leben, was hast Du von der Welt gesehn? Nichts. Das kleine Fleckchen Berliner Lebens in unteren und mittleren Schichten! Das spricht ja gerade für Deine große Begabung, daß Du so glänzend schilderst trotz Deiner geringen Lebenserfahrung!«

Schmoller fuchtelte wie außer sich mit den Händen in der Luft. »Ich keine Lebenserfahrung!« Seine Stimme schnappte fast ins Weinerliche über. »Und das sagt mir ein Mensch, von dem noch neulich Ottokar v. Feichseler schrieb: ›Ihm fehlt noch tiefere Lebenskenntniß.‹ O, o!«

Leonhart lachte herzlich und trank sein Seidel leer, indem er sich erhob und den Hut aufsetzte. »Die Lebenskenntniß des guten Kahlkopfs Feichseler! Nun, Haare genug hat er ja gelassen, als er da unten in München als Hofmeister einiger reicher Fabrikantensöhne auf deren Kosten ein Rouéleben führte, wie Du mir erzähltest. Sie haben Dir's ja selbst erzählt und über Feichseler's schnöden Undank geklagt, wie? Nun, seltsamerweise klagt aber Feichseler wieder über Deinen schnöden Undank und erklärt Dich für ein moralisches Scheusal.«

»Das mir! Einem Ehrenmann, der für eine alte Großmutter sich das Fleisch von den Knochen schindet! Gleich morgen schreibe ich Feichseler einen Brief, den er nicht hinter den Spiegel steckt.«

»Ach laß das! Deine gräßlichen Schmäh- und Drohbriefe kennt man ja. Gott sei Dank kannst Du mich nicht denunciren, wie vormals den Luckner, mit dem Du Brüderschaft trankest und gleich am andern Tage an Feichseler petztest, was Luckner unbedachterweise wegen Honorar-Unterschlagung Feichselers Dir anvertraut. Ich persönlich kenne Feichseler gar nicht und er mich noch weniger – es sei denn durch Geschwätz collegialer Kneip-Bekannten gleich Dir, die ich sorgfältigst von meinen Privatverhältnissen fernhielt.«

»Aha!« knirschte Schmoller. »Das habe ich ja stets gewußt. Eine schöne Freundschaft!«

»Mein Lieber, das ist nun nicht zu ändern. Ich kenne eben die Welt. Mit Collegen verkehre ich nur auf zehn Schritt Distance. Willst Du mir aber mit dieser Thatsache zusammenreimen, daß Du und Deinesgleichen über mich schwatzen, als hättet ihr sozusagen an einer Nabelschnur mit mir gelutscht? Wie darfst Du Dich erfrechen, über meine Welt- und Lebenserfahrung zu urtheilen, als wäre ich ein kleines Kind? Hast Du denn auch nur eine entfernte Ahnung von den Erlebnissen meiner Vergangenheit? Wärest Du nicht selbst ein unreifer Schreihals – ja, zucke nur! –, den sein Größenwahn verblendet, so müßtest Du logisch folgern, daß ein Mensch, der halb Europa kennt und überall in tausend höhere Lebenskreise schaute, von denen Du nicht mal eine Vorstellung hast, wohl eine Fülle von Selbsterlebtheit aufspeicherte, wie wenige Andre.

Aber es ist die alte Geschichte. Wer wirklich viel erlebt hat, der schweigt, weil die Masse der Erinnerungen ihn erdrückt und er gar nicht wünscht, über seine vielen Erfahrungen sich auszuschwatzen. Am meisten mit ihrer Lebensweisheit prahlen Kerls, die sich im äußerlichen praktischen Leben herumtreiben, weil sie als Geschäftsmann mit allen Sorten von Handels- und Schwindelsbeflissenen zusammenkamen oder, wie in plebejischen Kaufmanns- und Jüdenkreisen üblich, den Champagner-Weltmann spielen; oder weil sie die Arbeiterverhältnisse und alle Spelunken kennen. Dadurch, daß man an der Börse spielt oder an einer Dampfwalze dreht, wird man noch kein vereidigter Lebenskenner! Frißt solche alberne Anschauung weiter um sich, so wird man nächstens die Lokalreporter als realistische Meistersinger preisen! Auch ein Größenwahn, diese angebliche Welterfahrung in beschränktem Zirkel! – – Doch genug. Die Beleidigung, welche ich Dir ins Gesicht schleuderte, ziehe ich hiermit in aller Form zurück, indem ich meine subjektiv einseitige Darstellung widerrufe. Denn wer kennt die Motive und Verhältnisse des Andern genau

»Schreck, laß nach! Der ist nicht von schlechten Eltern.« Schmoller trommelte mit den feisten Fingern auf dem Tisch. »Sonst hätt' ich Dich auch wegen Ehrverletzung gerichtlich belangt!« Er pfiff die Melodie:

 

»Du bist verrückt, mein Kind.«

 

... Auf dem Heimwege traf Leonhart, der halb Berlin kannte, ein originelles Pärchen. Der große Verleger und Börsenspekulant, Hauptmann der Landwehr Dr. Sternbaum, kam soeben von einer offiziellen Feierlichkeit, von oben bis unten mit Orden bedeckt. Mit sich schleifte er seinen Adjutanten, den famosen Lokalreporter Reichsfreiherrn von Dattrich, welcher das opulente Festessen als gastronomischer Kenner beschreiben sollte. Er erhielt dafür stets von dem betreffenden Traiteur mehrere Kisten Kaviar und Trüffelpasteten ins Haus geschickt, wie denn seine stilvolle Zimmereinrichtung mit Gobelins, Smyrnaer Teppichen und geschnitzten Möbeln ihm auf ähnliche Weise von der dankbaren Mitwelt gestiftet wurde.

»Da ist ja mein alter Freund Leonhart!« brüllte Dattrich. »Comment vous-portez-vous?«

»Mäßig, es macht sich.«

»Lächerbar! Alle Tage wird dieser Mensch berühmter. Wieder ein Dutzend Bücher ausgespieen? An jedem Finger ein Federhalter festgebunden! Sehen bleich aus, junger Mann. Wohl zu viel geschwiemelt. Jaja, in Ihrem Alter legt man den Hauptwerth auf gut Lieben, in dem meinen auf gut Essen und nachher hier im Alter meines verehrten Prinzipals bloß noch auf gut Verdauen.«

»Ach bleiben Sie bei sich, Herr Baron!« schnarrte der Landwehrhauptmann. Er hatte heut wieder mal zum 101. Mal seinen Trinkspruch auf »Unsern allergnädigsten Kaiser, König und Herrn« gestiftet und strahlte noch vom Gefühl seiner Wichtigkeit. »Wäre auch gut, wenn Sie sich selbst lieber den Fleiß Herrn Leonharts zum Muster nähmen. Gestern wieder gar nicht auf der Redaction gewesen, wie zu meinem Mißfallen vernahm.« Die beiden Herren hatten sich offenbar schon gezankt und Dattrich torkelte hin und her, angetrunken. So beugte er sich denn in diesem indiscreten Zustande zum Ohr seines Prinzipals nieder und flüsterte feierlich drei Worte bedeutungsschwer: ›Ruhig, Alter! Zuchthaus!!‹ – Das frechbrutale Gesicht des Börsenspekulanten und Verlegers verzerrte sich zu einem verlegenen Grinsen und er schielte Leonhart an, ob Der vielleicht gehört habe. Dann lenkte er ein. »So so, liebster Baron, Sie waren leidend. Jaja, schonen Sie sich!«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann! Adieu, Dichterfürst!« – Die wandelnden Thermometersäulen (beide hatten allzuviel Quecksilber im Leibe) schwankten dahin.

 
Größenwahn
titlepage.xhtml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057712-0057712.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057713-0057714_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057713-0057714_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057715-0057718_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057715-0057718_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057719-0057775_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057719-0057775_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057719-0057775_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057719-0057775_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057719-0057775_split_004.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057776-0057778.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057779-0057878.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057879-0057883.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_004.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_005.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057884-0057961_split_006.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0057962-0058046.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058047-0058075.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058076-0058077_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058076-0058077_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058078-0058144_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058078-0058144_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058078-0058144_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058078-0058144_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058078-0058144_split_004.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058145-0058195_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058145-0058195_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058145-0058195_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058145-0058195_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058196-0058260_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058196-0058260_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058196-0058260_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058261-0058340_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058261-0058340_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058261-0058340_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058261-0058340_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058261-0058340_split_004.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058341-0058342_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058341-0058342_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058343-0058396_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058343-0058396_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058343-0058396_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058397-0058483_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058397-0058483_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058397-0058483_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058397-0058483_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058484-0058522.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058523-0058533.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058534-0058632.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058633-0058700_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058633-0058700_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058633-0058700_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058701-0058793_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058701-0058793_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058794-0058844_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058794-0058844_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058794-0058844_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058845-0058928_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058845-0058928_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058845-0058928_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058845-0058928_split_003.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058845-0058928_split_004.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058929-0058995_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058929-0058995_split_001.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058929-0058995_split_002.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058996-0059067_split_000.xml
bleibtreu-karl-groessenwahn-0058996-0059067_split_001.xml