Zehntes Buch.

 

I.

Der große Saal des Architektenhauses füllte sich bis auf den letzten Platz, um die angekündigte Vorlesung Friedrich Leonhardts »zum Besten des Unterstützungsfonds der Berliner Presse« zu genießen. Schon aus Neugierde, wegen des vorlockenden Titels. Sämmtliche litterarische und persönliche Feinde des Dichters (sie belegten schon allein die Hälfte der Plätze) erschienen vollzählig und marschirten gleichsam in Gala auf. Man bemerkte den Doktor Drechsel-Caballo, der heute seinen Spitznamen »Richard Löwenmähne« (nicht: Löwenherz) durch wüthendes Schütteln seiner olympischen Locken bethätigte, und die Nachstotterer der »Tagesstimme«, wie sie eifrig Contra-Stimmung machten.

Leonhart trat auf. Er war sehr bleich und der Frack stand ihm schlecht. Er begann mit etwas belegter Stimme, die sich aber allmählich zu sonorem Dröhnen steigerte.

 

Größenwahn des Militarismus und der Schulmeisterei.

 

Nicht gegen den Offizierstand wende ich mich, sondern nur gegen die Ueberhebung desselben und vor allem gegen eine Anschauung, welche den Krieg als naturnothwendiges Ideal der sittlichen Weltordnung und den Kriegerstand daher gleichsam als eine geweihte Priesterschaft der Weltgeschichtsentwicklung feiert. Wenn z.B. Herr v.d. Goltz-Pascha in seiner bekannten Schrift den Offizier nur mit dem »Dichter und Künstler« vergleichen will, so übersteigt diese Selbstvergötterung eben das zulässige Maß.

In letzter Zeit sind nun Brochüren erschienen, welche den »Kriegsgedanken und die Volkserziehung« behandeln. Wir verhehlen nicht, daß wir sie mit einer gewissen, steigenden Entrüstung gelesen haben. Der Größenwahn des Militarismus entpuppt sich hier wieder einmal mit erschreckender Offenheit.

Es ist ja an sich ganz löblich, wenn man seinen speziellen Beruf am höchsten stellt. Ludwig Feuerbach sagt in seiner »Philosophie des Christenthums« sogar irgendwo, daß diese Einseitigkeit ein nothwendiges Erforderniß des menschlichen Denkvermögens sei. Am höchsten stehen daher diejenigen Geistesrichtungen, welche die umfassendsten und wenigst einseitigen ihrem Wesen nach sein müssen: Poesie und Philosophie. Wenn sich denselben technische Künste, Musik, Malerei u.s.w. ebenbürtig zur Seite stellen möchten, so bleibt dieser harmlose Größenwahn ohne schädliche Folgen und gleichsam in der Familie, obgleich er die in Deutschland grassirende Ehrfurchtslosigkeit vor der Dichtung natürlich verstärken hilft. Aehnlich steht es mit der Ueberhebung der exakten Naturwissenschaften. Jedoch dies sind alles nur theoretische Fragen, die wenig ins praktische Leben einschneiden. Anders aber liegt der Fall, wenn ein bestimmter Stand mit dünkelhaftem Kastengeist sich über alle andern erheben will, wie dies ein altes Vorrecht des Kriegerstandes ist. So lange die Welt im Alterthum und Mittelalter wesentlich auf dem Kriegszustande fußte, mochte dies angehen. Heut aber in der neuesten Zeit darf dies natürlich auf die Dauer nur dann möglich beiben, wenn es gelingt, die Soldateska mit einem Schleier des Idealismus zu umweben und sie auch geistig als führendes Element hinzustellen. Dies ist denn auch der Zweck der vorliegenden Schrift.

Der Dichterknabe Chatterton hat das berüchtigte Wort gesprochen, daß er den Intellekt eines Mannes gering achte, der nicht zugleich von zwei entgegengesetzten Seiten her ein Thema behandeln könne. So wollen wir denn wahrlich nicht mit den einseitigen Sophismen ins Gericht gehen, mit denen man einer an sich möglichst unidealen Thatsache die idealsten Seiten abzugewinnen sucht.

Man beginnt dabei mit Ausfällen gegen die Schwärmereien der Friedensliga von einem »ewigen Frieden«. Es ist stets das sicherste Mittel, das denkfaule Philisterthum für sich einzunehmen, wenn man die Gegner als unpraktische Idealisten hinstellt. Nun sind aber alle ideal schöpferischen Geister stets eminent positiv angelegt, wie denn z.B. zu einem großen Dichter der durchdringendste, schärfste Verstand und realistische Weltkenntniß gehören. Vermöge dieser überlegenen Verstandeskräfte sind solche wahren »Idealisten« daher befähigt, die komische Ideologie der Utilitarier, den Fanatismus der Materialisten, zu durchschauen. So sagt Goethe das treffende Wort über den großen Anti-Ideologen Napoleon: »Er, der ganz in der Idee lebte, konnte sie doch im Bewußtsein nicht erfassen; er leugnet alles Ideelle durchaus und spricht ihm jede Wirklichkeit ab, indessen er es eifrig zu verwirklichen trachtet.« Und wenn auch dieser Satz nicht auf unsre Militairpropheten paßt, so werden wir doch daran erinnert, wenn sie umgekehrt die spaßhafte Absicht verrathen, dem Roh-Realistischen das Ideelle unterzuschieben.

Zuvörderst stellen all diese Gesinnungsgenossen die Theorie vom »ewigen Krieg« auf, die sich angeblich auf Darwins »Kampf ums Dasein« stützen soll. Nun ist es keine Frage, daß in den Urzeiten der sogenannte »Kampf ums Dasein« mit dem Kriegszustand identisch war. Gleichwohl wurde derselbe bereits in jenen barbarischen Epochen als ein schweres Uebel angesehen und die Söhne Kains spielen neben den friedlichen Nachkommen Seths durchaus keine gefeierte Rolle. Die gesammte Kulturentwicklung läuft aber einfach darauf hinaus, den Kampf ums Dasein zu mildern und vor allem aus dem Bereich der rohen Gewalt zu rücken. Die Geschichte der Civilisation ist einfach die Geschichte der zunehmenden Waffenabschaffung. Sogar im Kriege selbst ist die roheste Form des Kampfes, das Handgemenge, wo persönliche Stärke entscheidet, fast auf den Aussterbeetat gesetzt. Wie wenig man übrigens selbst in der Urzeit das Waffenhandwerk als etwas allgemein Gültiges betrachtete, geht hervor aus dem Bestehen der abgeschlossenen Kriegerkasten. Ein Ueberbleibsel derselben scheint es, wenn bis ins vorige Jahrhundert der Mann aus den besseren Ständen den Degen an der Seite trug. Seit hundert Jahren ist auch dieser schwache symbolische Ueberrest verschwunden.

Wenn nun die Milderung des »Kampfes ums Dasein« Hauptziel aller Kulturbestrebungen ist und wenn eine solche Milderung in fortschreitender Progression in der That ersichtlich wird, so scheint die Möglichkeit eines »ewigen Friedens« nicht absolut ausgeschlossen, da die roheste Form des Daseinkampfes, der Krieg, auch am leichtesten zu beseitigen ist. Ob aber »ewiger Krieg« oder »ewiger Frieden« der Menschheit bevorsteht, ist ja nicht zu beweisen, da nur die Erfahrung, es lehren kann. Fürs erste sind beides hohles Phrasen. Die Wahrscheinlichkeit spricht aber gewiß eher für den »ewigen Frieden«. Um dessen Unmöglichkeit zu folgern, berufen sich die so hochidealen Kriegsfanatiker auf die Schlechtigkeit der Menschennatur. Sie vergessen dabei, daß nicht nur die edeln, sondern ebenso die niederen Regungen gegen den Krieg stimmen, da dem allmächtigen Egoismus und Eudämonismus die Kriegsmühsal gewiß nicht als ein Wünschenswerthes erscheint. Der Krieg ist nicht identisch mit dem »Kampf ums Dasein« und der Krieg ist keine Nothwendigkeit der sittlichen Weltordnung, der »ewige Krieg« ein Fabelpopanz und der Krieg in jedem Fall ein Uebel. Letzteres geben die Militäridealisten mit verschämter Salbung natürlich allerorten zu. Denn der Avancier-Wunsch des Leutnants scheint doch wirklich kein ausschlaggebendes Moment für Bejahung der Kriegsnützlichkeit!

Aber die Kriegsenthusiasten schwingen sich nun sofort wieder auf den Kothurn des Ideals, indem sie eine Art persischer Religion proklamiren, den ewigen Kampf von Ormuz und Ahriman, – um den Kampf an sich als aller Dinge Herrlichstes zu preisen. Wir befinden uns in der angenehmen Lage, dasselbe philosophische Lebensprinzip zu hegen und auch öfters schriftlich ausgeführt zu haben. Nun möchten wir aber fragen, all die angeklebten Tiraden über Stählung des Kampfmuthes, Verweichlichung u.s.w. lächelnd übergehend: was das wohl mit dem Krieg zu thun habe? »Denn ich bin ein Mensch gewesen und das heißt ein Kämpfer sein« – so war's gemeint, als Zoroaster seine herrliche Kampflehre schuf. An den Krieg hat er sicher nicht gedacht, denn das hieße Kampf von Ahriman gegen Ahriman, das hieße den Teufel vertreiben durch Beelzebub. Der wahre ernste Kampf, der schwerste und muthvollste Kampf, von dem allein die Entwicklung der Menschheit abhängt, ist der Kampf mit den Dämonen der Welt und der eigenen Brust. Dagegen ist der Kampf der Waffen ein erbärmlicher Tand, eine komödiantische Aufregung, des wahren sittlichen Ernstes bar.

Es ist eigentlich albern, solche Selbstverständlichkeiten noch zu erwähnen. Der Kampf ums Dasein selbst im bürgerlichen Leben erfordert hundertmal mehr Energie und sittlichen Mut, als der frivole oder rein physische Schlachtenmuth. Auch die Bestie ist tapfer in diesem Sinn; aber wenn sie mal nichts zu fressen hat, dann winselt sie. Man müßte es nicht nur als sittliche, sondern erst recht als intellektuelle Unreife beklagen, wenn die Abneigung gegen Krieg und Soldatenspielen, gegen welche Verfasser polemisirt, nicht bei einem modernen Bürger vorhanden wäre. Möge sich der rothe Kragen an der Verehrung der Knaben und Weiber genügen lassen.

Wenn nun alle idealen Redensarten nichts gegen die schlichte Logik der Vernunft verfangen und der Krieg, seines idealen Schimmers entkleidet, als ein trauriges, wenn auch momentan nothwendiges Antikultur-Uebel erscheint, so fällt natürlich eine übertrieben hohe Auffassung des Soldatenstandes in Nichts zusammen. Es soll keinen Augenblick bestritten werden, daß der Krieg die edelsten Gefühle der Menschenseele ausbilden kann, natürlich ebenso die allerniedrigsten. Traurig genug, daß gutmüthige und in gerechter Sache kämpfende Soldaten sich in der Erregung den tollsten Exzessen hingeben können. Das Alles aber gilt für den Krieg nur wie für jedes andere außergewöhnliche Ereigniß, das mit Gefahr verbunden ist. Was aber – fragen wir hier wieder – hat der Krieg mit der Ueberhebung des Offizierstandes zu thun?! Denn nur darum handelt sich's bei dieser Broschüre und vielen ähnlichen! Der Krieg selbst wird ja auch nur gleichsam als pièce de résistance im Hintergrunde weihevoll verwerthet; der wahre Zweck ist bloß der, die übertriebenen Achtungsansprüche des Offiziers in Friedenszeiten zu begründen.

Heut bei der allgemeinen Wehrpflicht ist ja selbst dieses wunderherrliche Institut der sittlichen Weltordnung, »Krieg« genannt, den priesterlichen Händen einer speziellen Kriegerkaste entwunden – wenigstens was die Gefahr, diese so wundersam sittlichende Gefahr, anbelangt: dies höchste sittliche Gut teilt der Offizier brüderlich mit jedem waffenfähigen Bürger, um für sich hernach bloß das minderwerthige schnöd materielle Gut etwaiger Dotationen und Auszeichnungen zu behalten.

Diese großartige Selbstverleugnung, diese freigebige Humanität im Theilen der Sittlichkeitsmomente des Krieges, damit selbst der Geringste derselben theilhaftig werde, muß man um so höher schätzen, als sich ja der Offizier auch ohne den »Kriegsgedanken« um die »Volkserziehung« so unendliche Verdienste erwirbt. Wenigstens ist laut unserm gelehrten Verfasser der Leutnant der wahre Erzieher des deutschen Volkes, während unsere ganze sonstige Erziehung ungenügend und schädlich wirkt. Den letzteren Theil seiner Prämissen mag ich durchaus nicht befehden. Der deutsche Schulmeister leidet eben an dem gleichen Unfehlbarkeitsdünkel wie der »militärische Erzieher« und es scheint daher nur ergötzlich, wenn der Letztere durch seine gewichtige Autorität die Feinde des bestehenden Erziehungssystems verstärkt. Diese Frage interessirt uns ja aber hier nicht, sondern nur die, welcher moralische Nutzen denn eigentlich durch die militärische Erziehung, d.h. die allgemeine Wehrpflicht, bewirkt wird. Es ist mindestens zweifelhaft, ob die dreijährige (in Frankreich noch längere) Entziehung der besten physischen Kräfte aus dem eigentlichen produktiven Kampf ums Dasein nationalökonomisch günstig zu nennen sei. Es ist zweifelhaft, ob wirklich eine Kräftigung der physischen Gesundheit durch das »Dienen« erzeugt wird, die im Verhältniß zu dem enormen Zeit- und Müheaufwand steht. Vermuthlich würden Arbeiten in frischer Luft oder Reisen oder Sport in einem Viertel der Zeit hier wohlthätiger wirken, da die tausend ungesunden Nebendinge des Kasernenlebens, sowie die Ueberanstrengung und die fortwährende Unruhe oder gar Angst sehr störende Beigaben des Soldatenlebens scheinen. Turn-, Fecht- und Schießklubs dürfen Gewandtheit und Handhabung der Waffen vielleicht leichter lehren, als die Hudelung des Unteroffiziers es bewerkstelligen kann.

Doch halt, alle Unannehmlichkeiten des Soldatenleben sollen ja eben den Charakter stählen. Den Charakter! Kann man von Charakter überhaupt noch reden, wo die Grundlage jeder Charakterfestigung, nämlich freier Entschluß und eigene Initiative, von vornherein ausgeschlossen sind? Der »Dienst« soll die große Tugend des Gehorsams einpflanzen. Nun unterschätze ich diese Tugend nicht. Alle Vereinigungen, heißen sie nun Staat, Heer, Privatverein, können sich nur halten durch Gehorsam gegen das Höhere, den allgemeinen Zweck. Dieser Gehorsam aber ist das legitime Kind des freien Willens, der freien Erkenntniß, während der vom Militär geforderte Gehorsam der des Sklaven ist. Würde dieser Gehorsam wirklich als unauslöschliche Tugend durch die allgemeine Wehrpflicht eingeimpft, so könnte dies nur widerliche und traurige Folgen haben. Ein solcher Gehorsam fügt sich in keiner Hinsicht dem modernen Bürgerleben ein; er wird dort nicht verlangt und wäre nur vom Uebel. Nur im sogenannten »Staatsdienst« kann er von Nutzen sein und wirklich blühen ja Streberei und Knechtssinn dort täglich herrlicher auf. Diese hohe Tugendlehre der militärischen Erziehung mag daher einem Absolutisten erhaben, einem modernen Menschen aber muß sie als verächtliche Untugend erscheinen.

Ich leugne auch, daß diese zweifelhafte »Subordination« (die nur im Armeewesen Berechtigung hat) irgend Jemandem für sein späteres Civilverhältniß eingeprägt werde. Die Naturen sind eben verschieden. Der größte Militär (Napoleon) hat direkt gesagt: Nach seinen Erfahrungen sei der Satz »Wer herrschen will, der muß erst dienen lernen,« barer Unsinn. Gerade die, welche nie und nirgends Unterordnung verstünden, würden sich um so besser auf's Gebieten verstehen.

Vergeblich wird man daher freien, selbstständigen und initiativen Naturen (ich meine hier natürlich keine Herrschernaturen, sondern überhaupt alle energischen Impulsiven) blinden Gehorsam predigen. Wer den militärischen Gehorsam aus der Dienstpflicht ins Leben nachschleppt, war einfach so angelegt und bedurfte einer solchen Erziehung gar nicht. Die Majorität der Menschheit besteht eben schon aus Lakaienseelen, diensteifrigen Naturen, Stimmvieh.

Vor geraumer Zeit machte der Fall viel Aufsehen, daß vier Landwehrmänner bei einem Manöver sich geweigert hatten, in einem Viehwagen transportirt zu werden, darob an den Kaiser ein Beschwerdetelegramm richteten und dafür zu vielen Jahren Zuchthaus verurtheilt wurden. Die Höhe des Strafmaßes mag zu hart gewesen sein; aber das Mordsgeschrei, das die liberalen Blätter darüber erhoben, war unberechtigt. Eine so beispiellose Dreistigkeit, wegen einer solchen Lapalie die Vorgesetzten beim obersten Kriegsherrn per Telegramm zu verklagen, verdiente exemplarische Züchtigung. Es liegt hier sogar eine Unverschämtheit vom rein menschlichen Standpunkte aus vor. Eine andere Frage ist es freilich, ob der betreffende Offizier, falls er wirklich etwas Gesetzwidriges – z.B. körperliche Mißhandlung – begangen hätte, ebenfalls wegen Ungehorsams gegen das Militärgesetz ähnlich hart bestraft worden wäre. Ich fürchte fast, hier hätte die Antwort gelautet: Ja Bauer, das ist ganz was anders! – Jedenfalls aber zeigt die bloße Möglichkeit eines solchen naiven Aufbegehrens seitens vier beliebiger preußischer Landwehrleute, wie wenig der Sinn sklavischer Unterwürfigkeit – als »Gehorsam« ein nothwendiges berechtigtes Militärgebot – im späteren Civilisten wurzeln bleibt. So sind sie nun mal, die modernen Menschen! Vom Militär-Standpunkte aus, der die Menschheit als eine Masse zu drillender Rekruten betrachtet, ist das beklagenswerth, aber leider unabänderlich!

Die weiteren segensreichen Einflüsse des »Dienens« machen sich bemerkbar in einer allgemeinen Zufahrigkeit und verstärkter Brutalität in den unteren Schichten, wie denn seit dem Kriege die Verbrechen gegen das Leben, das Messerstechen, die Roheit der Balgereien sich rapide steigerten. Bei den höheren Ständen (Einjährig-Freiwilliger, Reserveoffizier, d.h. ein Geschöpf mit den Pflichten ohne die Rechte des Offiziers) bleibt eine vermehrte Vorliebe für alles Aeußerliche, Schein, Etikette und alles überreizte falsche Point d'honneur-Gefühl zurück. Das sind die logischen Folgen – weiter nichts. Durch diesen Geschmack am Aeußerlichen wird oft für lange Zeit der wahre Ernst zur Arbeit untergraben. Die aus der Dienstpflicht Zurückkehrenden, seien sie Gelehrte oder Bauer, müssen sich erst mit Anstrengungen wieder an ihren wahren Beruf gewöhnen, aus dem sie plötzlich herausgerissen sind. Natürlich sind unsere geschätzten Militärpädagogen harmlos genug, den Hauptwerth der Erziehung auf Berücksichtigung der individuellen ursprünglichen Eigenschaften zu legen. Kann man sich das Lachen verbeißen, wenn man, einige Sätze des deutschen Ausbildungs-Reglements citirend, ernstlich davon redet, daß die Militärerziehung auf dies wichtigste Moment Rücksicht nehme?! Das ist des Spaßes, und der – Selbsttäuschung genug!

Ja, sehr richtig heißt es in den Vorschriften der Militärerziehungsmethode: »Eine äußere, wesentlich nur durch Uebungen im Ganzen erzielte Zusammenfügung der Truppe wird bei unerwarteten Ereignissen nicht vorhalten und die Disziplin nur dann ein festes dauerndes Band für das Ganze abgeben, wenn sie auf dem Bewußtsein basirt, daß im Ernstfall der Erfolg von der Erhaltung des durch den Führer geleiteten Zusammenwirkens abhängt.« Das sind goldene Worte und Erfahrung bestätigt sie.

Die preußische Armee von 1806 besaß ein treffliches Offizierkorps in den subalternen Chargen und eine wohlgedrillte Armee, die mit ihrer veralteten Lineartaktik so lange wacker schlug, bis die elende Oberleitung jeden Widerstand gegen den besser geführten Feind unnütz machte. Hätte sie aber jene innere Einsicht, jenes feste dauernde Band des bewußten Zusammenwirkens besessen, so wäre von einer so beispiellosen Auflösung des gesammten Heergefüges keine Rede gewesen.

Im Befreiungskriege aber leistete nachher die preußische Armee Unerhörtes, trotzdem sie zum größten Theil aus Landwehren und das Offizierkorps der Linie wesentlich aus denselben Elementen bestand, die früher bei Jena so schlecht bestanden hatten. Die französischen Truppen mit ihren Veteranenoffizieren waren technisch überlegen. Aber diesmal war die preußische Oberleitung eine glänzende, und das innige moralische Zusammenwirken der Gemeinen und Offiziere ergab sich aus dem gleichmäßig alle durchlohenden Patriotismus.

Es ist also immer der moralische Faktor, die Idee, die siegt – falls sie nur einigermaßen praktisch unterstützt wird. Wie aber soll in gewöhnlichen Zeitläuften durch Militärerziehung dies moralische Element erzielt werden, da weder Offiziere noch Unteroffiziere darauf ausgehen, sich die Liebe ihrer Untergebenen zu erringen?

Nach dieser Theorie würden ja die Chancen des nächsten deutsch-französischen Krieges ungünstig für uns stehen. Denn wie 1870 die technisch ebenbürtige, besser bewaffnete Streitmacht Frankreichs zertrümmert wurde, weil man ein einmüthiges Zusammenwirken der Deutschen durch begeisterte Vaterlandsliebe erreichte – so scheinen die Franzosen diesmal diejenigen, welche ein einmüthiges bestimmtes Ziel haben, während in Deutschland kein Mensch einen ersehnbaren Wunsch und Zweck dabei im Auge hat. Aus diesem Grunde siegen ja oft schlecht bewaffnete ungeübte Haufen in Revolutionskriegen über die ältesten Truppen. Denn wer siegen will und das Leben für nichts achtet, der muß siegen. Diesen Geist kann aber wahrlich keine Erziehung und am wenigsten die militärische, wie sie bei uns getrieben wird, erzeugen!

Wir haben aber oben noch einen andern Punkt berührt, wir sprachen von der Oberleitung. Und da ergiebt sich denn für den Kundigen wiederum die Lächerlichkeit des Offiziersdünkels an sich. Denn nicht die Tüchtigkeit des Offizierskorps entscheidet im Kriege, sondern lediglich die geistige Beschaffenheit des Oberkommandos. Mit schlechten Truppen und Offizieren siegt ein guter Feldherr über gute Truppen und Offiziere unter einem schlechten Feldherrn. Das ist beinahe selbstverständlich.

In Anerkennung dieser Thatsache gehen die heutigen Offiziere sogar so weit, daß sie schon die bloße Energie ohne Talent im Oberbefehl für genügend achten, mit schlechten Truppen Gewaltiges zu leisten. Sie verehren Gambetta, dessen Organisationstalent einfach auf rücksichtslos durchgreifende Brutalität sich beschränkt. Goltz und York erklären geradezu, Gambetta habe in seiner Art wenigstens die Hälfte eines großen Feldherrn repräsentirt – Gambetta, der prahlende Charlatan, der schwatzhafte Advokat, dem notorisch selbst die Anfangsgründe militärischen Wissens fehlten, der nicht mal ein Dilettant, sondern ein einfacher Laie genannt werden muß! So leicht ist es nach Ansicht von Fachmilitärs, ein genügend großer Heerführer eines großen Volkes zu werden, falls man nur überhaupt über das Durchschnittsmaß der Intellekte hinwegragt! Wie viele Gambettas unter Parlamentarien verborgen schlummern, die nur der Zufall nicht begünstigt – wer weiß es!

Wirklich meint ja auch Carlyle, daß im Grunde alles wahre Genie eins und untheilbar sei, daß Shakespeare der größte Staatsmann, Burns der größte Redner und Reformer u.s.w. geworden wären. Und jedenfalls steht fest, daß die wenigen großen Feldherrn, welche uns die Geschichte zeigt – Cäsar, Napoleon, Cromwell, Friedrich der Große, – nicht durch Selbstbestimmung, sondern durch die Gewalt der Umstände Feldherrn wurden und in allen möglichen andern Gebieten sich zugleich versuchten, wie denn nach Napoleons und Friedrichs Vorgange auch unser Moltke stark litterarische Neigungen aufweist. Alle großen Feldherrn, ohne jede Ausnahme, wurden große Feldherrn, weil sie überhaupt große Männer waren, und jeder bildete sich selbst ohne alle Schule durch eigene Denkthätigkeit und Initiative zum Feldherrn aus. Die »militärische Erziehung« hat also auf das wichtigste Moment des militärischen Erfolges: die Feldherrnerzeugung, nicht den geringsten Einfluß. Sie könnte hier höchstens schädlich wirken, da ihr Grundprinzip, das Nivelliren, die Eigenart niederdrückt und das Prinzip der geduldigen Unterordnung, des Avancements nach Anciennität, das Aufkommen des Genies ohnehin hindert. Daher sind Revolutionszeiten (siehe die französische Revolution, den amerikanischen Befreiungskrieg und später den Secessionskrieg) die wahren Pflanzstätten militärischer Begabung, während die berühmte »militärische Erziehung« nur entweder Theoretiker oder Gamaschenhelden erzeugen kann.

Wir fragen also nochmals zum Schluß: hat der Größenwahn des neudeutschen Militarismus das Recht, sich mit solcher Wichtigthuerei als Hauptfaktor der Volkserziehung aufzuspielen? Wir antworten mit einem kräftigen: Nein.

Das Soldatenthum ist auf lange Zeit hin ein nothwendiges Uebel und wir nehmen den Offizier mit stiller Resignation als ein unabänderliches Utensil der sittlichen Weltordnung mit in den Kauf. Doch dem Offizier zu den großen äußern Vorrechten seiner Stellung auch noch ein ideales Piedestal zu errichten – diese Zumuthung lehnen wir ruhig, aber entschieden ab.

 

Leonhart machte hier eine kurze Pause, trank ruhig ein Glas Wasser, indem er seinen Blick gleichmüthig über die offenbar mißgestimmte, sich räuspernde und unruhige Versammlung hingleiten ließ und fuhr fort:

 

Wer seine Nation verachtet und das Fremde vergöttert, wie der Deutsche es früher that, verdient, daß er gar kein Vaterland habe. Wer hingegen seine Nation plötzlich als Ausbund aller Tugenden feiert, wie das jetzt nach dem Muster der Franzosen und Engländer in Deutschland beliebt wird, mag für seine Thorheit selber büßen. Denn nicht Patriotismus ist der Grund solch chauvinistischen Selbstgefühls, sondern jene uranfängliche Philisterfaulheit, die sich in dem Unrath ihrer eignen Dummheit ganz behaglich fühlt. Es lebe die Bärenhaut! Alle Institutionen Deutschlands sind musterhaft. Wer dagegen schwatzt, ist ein Skandalmacher. Ruhe ist die erste Bürgerpflicht.

Ueber die zwei Cardinallaster, die zwei Hauptpuppen des speciell preußischen Größenwahns möchte ich hier ein wenig unehrerbietig freveln.

Es ist schon gut gesagt worden, angesichts der unglaublichen Phrase, die an Phantastik eines V. Hugo würdig: »Der Schulmeister hat die Schlachten von Königgrätz und Sedan gewonnen« –: »Larifari, der Unteroffizier hat sie gewonnen.«

Ja wohl, das klingt wenigstens nach gesundem Menschenverstand. Und dennoch ist auch dies eine ganz vague Behauptung, die sich ins Unendliche fortsetzen ließe. Denn sicher war es weit mehr die gewandte und umsichtige Führung der Offiziere selbst, sodann die Leitung des Generalstabs, die allgemeine vortreffliche Ausrüstung der Armee; endlich der Wille der Vorsehung, die das zu erstrebende Ziel längst vorgesteckt hatte. »Den Zufall giebt die Vorsehung«, bemerkt Marquis Posa, »zum Zwecke« – muß halt der Mensch dabei sein. Und da helfen z.B. im Kriege Unteroffiziere und Offiziere durchaus nichts, falls nicht die angeborene Tüchtigkeit und Energie und Tapferkeit des Soldatenmenschen, des sogenannten »Kerls«, dahinter sitzt. Jeder, der ein wenig mit militairischen Dingen vertraut ist, wird wissen, daß die ewig neu erhobene Behauptung jedes Reservisten: er habe genau die Hälfte seiner drei Jahre rein für Nichts vertrödeln müssen, ja das Alles in weniger als einem Jahr lernen können, – stets belächelnswerth bleibt, da ja interne Kasernenfragen und Commiß-Gewohnheiten gerade die drei Jahre vom Mark und Schweiß des Bürgers bedingen. Mit weniger wird halt die Drehung des regelrechten Zopfes nicht erreicht, der dem ganzen modernen Heerwesen noch immer im Nacken baumelt. Kann man mit einem Jahr Ausbildung einen Gemeinen erzielen, der vor dem Feind seinen Mann steht? – O pah, dazu braucht's nur eines Halbjahrs – wie bei den Einjährig-Freiwilligen, die ja ihr zweites Gefreiter-Halbjahr auch eigentlich nicht brauchten. Im Grunde taugen sogar auch die eben erst Eingezogenen dazu, wenn sie nur von gutem Geist beseelt sind.

Aber, mein Verehrtester, was gilt das uns? Wir wollen nicht gute Vaterlandsvertheidiger, wir wollen Soldaten mit allem Gamaschen-Zubehör. Wir spielen halt gern Soldätles und dazu brauchen wir drei Jahre.

Sehr gut. Wer kann einen so rührenden Geschmack anfechten! Spielt ihr nur fort – aber wie? Die allgemeine Dienstpflicht ist es, d.h. das Vaterland und Volk ist es, mit dem ihr zu spielen wagt? »Patriotische Pflichterfüllung« nennt ihr es, wenn dem Vaterlande der ungeheuerste Verlust in national-ökonomischer Hinsicht dadurch erwächst, daß man die besten Kräfte in der schönsten Zeit für Parade-Exercitien vergeudet?

So kauft euch eine Söldner-Armee. Dies aber erinnert an den hessischen Menschenverkauf. Denn nur mit dem, den man gekauft hat, darf man wie mit einem Heloten wirthschaften – freilich thut's im bürgerlichen Leben kein anständiger Mensch.

Die fortwährend zunehmenden Unteroffizier-Prozesse, welche die monstruösesten Details enthüllen, die Selbstmord-Epidemie unter den Gemeinen, weil sie »die ewige Angst und grausame Behandlung nicht mehr ertragen könnten«, haben denn doch in letzter Zeit nicht nur in gebildeten Kreisen und in der Presse einen Sturm der Entrüstung entfesselt, sondern sogar in Offizierkreisen haben sich die ernstesten Bedenken geäußert, ob dieser Eckpfeiler des Preußenthums, der Unteroffizier, noch länger als eine solche Bestie zu dulden sei. Man hat sogar aus den Garde-Dragonern zwei Wachtmeister, welche es bis 2000 Thaler pro Jahr an Bestechungen brachten (dort dienen nur die reichsten Freiwilligen), endlich ausgestoßen. Aber der dreijährige Missethäter an Leib und Seele des armen Rekruten wird noch lange seinen Unfug treiben und, das leicht erlernbare Pensum eines halben Jahres endlos durch tausend Mätzchen hindehnend, den ohnehin beschränkten Bauern das Lernen redlich erschweren. Bei dem intelligenten Freiwilligen wirkt er freilich nicht direkt verderblich, weil derselbe das Pensum ohnehin in ein paar Wochen übersieht. »Der Rest« seiner Dienstzeit »ist Schweigen« – und zwar in wörtlicher Beziehung, nämlich »Maulhalten« vor'm Vorgesetzten. Außerdem ganz nutzlose Strapazen erdulden, wohl auch vier Wochen im Lazareth liegen, und zahllose Brutalitäten hinnehmen. Das ist die Ueberfracht von elf Monaten, außer dem einen, der ihn im Kriegsfall als durchgebildeten Soldaten vor den Feind gebracht hätte.

Mit einem Worte, der wahre Nutzen der dreijährigen Dienstpflicht besteht in der Ausbildung der Dulderfähigkeit des Menschen. Wer das überstanden, kann Alles überstehn. Der Soldat hat gelernt, wie schwer und sauer das menschliche Leben gemacht werden kann. Das ist schon ein großer Vorzug vom ethischen Standpunkt aus. Und unsere Moralisten des »kategorischen Imperativs« lobpreisen diesen erhabenen Zweck hinter'm warmen Ofen mit sinnigem Behagen.

Aber seltsam! Der heimkehrende Reservist, der drei kostbare Jahre seines Lebens dem Erlernen dieser spartanischen Moral geopfert hat, zeigt sich in der nächsten Zeit nach seiner Entlassung nicht pflichteifriger, sondern weit arbeitsunlustiger wie früher: Er hat für die Gewerbe des bürgerlichen Lebens, also für seinen Beruf und Unterhalt den Geschmack verloren. Sogar bei den Einjährigen zeigt sich nach übereinstimmenden Aussagen nach ihrem Zurücktritt ins Civil zuerst eine unüberwindliche Arbeitsscheu und Hang zum Bummeln. Ganz auffallend aber ist die durchgängige Verrohung der Sitten, Gewaltthätigkeit und Brutalität in Wort und That, bei dem sonst ruhigen Charakter des Deutschen, welche nach jedem Krieg in der Masse, nach jedem Erfüllen der Dienstpflicht bei den Reservisten hervortrit. Begreiflich! In welcher moralischen Sphäre hat der Soldat sich so lange bewegt! Rechtes Arbeiten, d.h. geistiges oder handwerkliches, hat er total verlernt. Dafür ist er gewöhnt, auf lauter Aeußerliches zu achten, und empfindliches Ehrgefühl als gar nicht vorhanden anzusehen, da die pöbelhafte Rohheit in Worten und Thaten seine tägliche Umgangs-Nahrung war. Während der Krieg selbst die männlichsten und hehrsten Gefühle und zugleich alles Bestialische der Menschennatur erweckt, impft der Soldatendienst im Frieden der Seele nur die schändlichsten Empfindungen und Gesinnungen ein: Knechtssinn, mit all seinen Abzweigungen (allerdings eine würdige Vorbereitung für manche amtliche Abstumpfung des Ehrgefühls), Gleichgültigkeit gegen das physische und moralische Kränken des Nebenmenschen, allgemeine Brutalität der Gesinnung. – Verzeihe man diese erneute Betonung des schon früher Gesagten!

Der Vertreter dieser herrlichen Schule echtdeutscher Gesinnung ist eben der Unteroffizier, dieser erlauchte Zuchtmeister und Erzieher von Gottes Gnaden – dieser rohe, freche, knechtische Charakter der zugleich in unsere reine, preußische Luft den moskowitischen Wohlgeruch einer staatlich tolerirten, groben Bestechlichkeit hineinträgt. Wahrlich, ein staunenswerthes Denkmal unserer Triumphe!

Sollen sich diese von Jedermann privatim vertretenen, aber aus guten Gründen öffentlich nur in flagranten Fällen von Rohheit besprochenen Ansichten etwa gegen die allgemeine Dienstpflicht richten? Mit Nichten. Es wäre komisch, so lange Europa sich in Waffen gegenübersteht, daran rütteln zu wollen. Die stets mit jeder neuen Session neu auftretenden Forderungen der Liberalen zielen einfach auf gänzliche Reducirung der Dienstzeit hin, bis dieselbe auf das gebührende Maß von Bürger-Aufopferung herabgeschraubt werden wird – d.h. auf die Hälfte der bisherigen. Vor allem aber wird und soll einmal Ernst gemacht werden gegen den unerhörten Schandfleck der Armee, gegen das in ein unzerbrechliches System gebrachte Unteroffizierthum. Denn nicht in den Mißhandlungen, die solcher Auswurf sich gegen den Bürger erlaubt und nachher, wenn als Schutzleute in den Polizeidienst übergegangen, fortsetzt, liegt das eigentlich Gefährliche dieser Landplage. Nein, sondern die Betrachtung, daß ein auf der untersten Stufe des Geistes und der Moral stehendes Individuum die staatlich patentirte Berechtigung haben soll, die bestialischen Neigungen seiner gemeinen Seele jahrelang an der Blüthe des Volkes üben zu können, mit einer Unverletzlichkeit, die sich bei der späteren Metamorphose in den »Schutzmann« durch die bei uns sprüchwörtlichen Dienst-Meineide fortsetzen darf, – diese Betrachtung selbst wirkt empörend und entsittlichend: Es ist eine feierliche Erklärung der Menschen-Nichtrechte, der brutalen Gewalt. Alle Beispiele von Tyrannei wirken stets demoralisirend auf die Schwachen und Gedankenlosen.

»Militarismus!« Hat man denn wohl bedacht, daß von einem solchen überhaupt erst bei der allgemeinen Wehrpflicht die Rede sein kann? Wer eine Armee von Miethlingen mit der Peitsche drillt wie die Engländer, hat dazu das völlige Recht. Wer sich als Vieh verkauft, mag so gehalten werden. Daß allerdings die Miethlingsarmee Napoleons III. ohne solch entehrende »Disciplin« eine unvergleichlich bessere wurde, ist auch ein Factum. Aber von einem entehrenden Militairzwang kann doch überhaupt erst geredet werden, wo Freiwillige, die höchstgebildeten Elemente des Landes, sich derselben entehrenden Behandlung unterziehen müssen.

Aber lassen wir diesen braven Handlanger der Autoritätssclaverei, den Unteroffizier mit seinen Ohrfeigen und Bestechungen, den Polizisten mit seinen Ohrfeigen und amtlich patentirten Meineiden! Unsre ganze Aufmerksamkeit wollen wir jetzt einem viel gefährlicheren Feinde gesunder Entwickelung, einem viel berühmteren Eckpfeiler des Deutschthums zuwenden. Dieser Charakter ist ein wesentlich verschiedener. Denn obwohl die eigenthümlichen socialen Verhältnisse es mit sich brachten, daß in diesem hochgeachteten Stande sich das niedrige Streberthum mit besonderer Ueppigkeit entfalten konnte, so wird man im Allgemeinen den deutschen Schullehrer wohl für einen höchst pflichttreuen, und mit Geist und Wissen wohlversehenen Mann ansehen dürfen, der in mancher Hinsicht eine Zierde der Nation repräsentirt. Nicht er ist es, dessen verderblichen Einfluß wir hier signaliren möchten, sondern sein System. Wir verschmähen es, in boshaft satirischer Weise zu zergliedern, wie dies ohnehin verderbliche System durch pädagogische Unfähigkeit nur zu oft verschlimmert wird. Wir verzichten ebenso auf Illustrirung des berühmten Schubart'schen Verses: »Als Dionys von Syrakus aufhören muß Tyrann zu sein, da ward er ein Schulmeisterlein.«

Wir lassen alle und jede Rancune gegen die oft unlautern Elemente dieses Standes bei Seite, welchem sich bei uns die Meisten nur darum widmen, weil er zuerst zu Brod verhilft. Denn während Juristen erst mit dreißig Jahren Besoldung erzielen können, ist dies als Schullehrer zu Beginn der zwanziger Jahre möglich. Wir wollen nicht näher auf die Thatsache eingehen, daß dieser Beruf wie kein andrer dummdreiste Arroganz ausbildet. Noch wollen wir das bekannte Faktum erörtern, daß bei uns die gräulichsten Streber, sei es als reactionäre Speichellecker, sei es als fortschrittliche Spekulanten, sich aus diesen Kreisen recrutiren. – Uns selbst ist der Beruf des Pädagogen der höchste und heiligste, aber darum auch verantwortlichste. Und gerade darum sei es erlaubt, ein wenig über die berühmte deutsche Erziehung zu plaudern.

Erziehung kann, soll und muß zwei Ziele erreichen: Ausbildung des Geistes durch wohlverdautes Wissen und moralische Ausrüstung für den Kampf des Lebens. Sehen wir zu, wie die berühmte deutsche Schule diesen Aufgaben gerecht wird.

Was macht im Leben den gebildeten Mann, der zu höheren Gesichtspunkten Stellung zu nehmen weiß? Kenntniß der Geschichte und Litteratur. Ebenso nothwendig, wenn auch nicht so bündig verlangt, sind geographische und Sprachkenntnisse, wovon Englisch und Französisch fast unerläßlich. Die Kenntniß der eignen Sprache, ein erträglich guter Stil, wird als selbstverständlich angenommen.

Wohlan, welche dieser landläufigen Vorstellungen von Bildung erfüllt ein deutscher Student? Keine.

Seine Kenntnisse in ethnographischer Völkerkunde sind miserabel. Begreiflich. Wer hat ihm je die für die moderne Weltbildung unerläßliche Kenntniß der nationalen Eigenarten und Unterschiede beizubringen gewußt? Dies banausische und profane Wissen zu erlernen, überläßt die Schule halt dem Leben, das denn allmählich, durch Reisen, durch Lectüre, (oft aber auch gar nicht) den wüsten Unrath traditioneller Vorurtheile aus dem Schädel entfernt. Die Ströme in Hinterindien hat er freilich auswendig gelernt. Ja, ich schwärme heute noch für Bramaputra und Irawaddie – von der Ethnographie, von der Flora und Zoologie jener Tropenländer habe ich freilich auf der Schule nie das Geringste erfahren. Wenn ich nur die Nebenflüsse des Ganges kenne! Um kurz zu sein, der Unterricht in der Erdkunde nach jeder nützlichen Richtung hin ist gleich Null. Wenn der Schüler nur nach dem Leitfaden hübsch auswendig lernt und der Lehrer auf dem Katheder schlafen kann – das bleibt immer die Hauptsache.

Die geschichtlichen Kenntnisse? Ein gräßliches Spinnennetz von Jahreszahlen und aneinandergereihten unerklärten Begebenheiten umklammert den armen jugendlichen Kopf und saugt ihm für immer und ewig jedes Interesse an der Geschichte fort. Jene wenigen schätzbaren Geister nehme ich aus, die wie Faust's Famulus mit unendlichem Behagen im Pergamentstaub der historischen Spezialforschung wühlen und oft mit krasser Unwissenheit im Ueberblick der allgemeinen Weltgeschichte eine wundervolle Werthschätzung ihrer eigenen Maulwurfsweisheit in »Quellenforschung« vereinen. Für diese Lumpensammler der Historie mag allerdings gerade der biedere stramme Daten-Unterricht besonders bahnweisend gewesen sein. Aber aus solch bevorzugten Geistern, welchen etwa eine Monographie über einen hohlen Zahn des Königs Ramses gelingt, besteht doch nur ein Millionstel der Unterrichteten. Entschädigt uns die erquickende Anregung solch künftiger »Quellenforscher« für die ertötende Qual, mit dem das geistlose öde Repetiren den jugendlichen Geist niederdrückt und ihm für immer unüberwindliche Abneigung gegen alles Historische einflößt? Ja, nicht einmal in jenem rohen Ballast von Auswendiglerne-Pensum sind Sinn und Ordnung zu erkennen. Zwar lernt der Deutsche verhältnißmäßig mehr von der Geschichte andrer moderner Völker, als diese von der unsern, obwohl mir auch dies Maß ein recht geringes erscheint und der deutsche Durchschnittsgebildete doch wenig Grund hat, sich über die Ignoranz der Engländer und Franzosen in dieser Hinsicht aufzuhalten. Aber während seine eigne Geschichte natürlich ganz wüst und ordnungslos, ihm spärlich und bruchstückweise vorgekaut wird, so daß er wohlweislich von diesem bösen Jahrhundert nichts zu hören bekommt, – werden ihm die Cantönlifehden der Griechen und Römer in einer Breite und mit einer Selbstgefälligkeit vorgetragen, als hinge das Wohl der ganzen Bildung davon ab, wie Cäsar's Legaten, Tribunen, Centurionen und Primipile geheißen. Ebenso fordern dieselben Erzieher, welche die deutschen Gesetze und politischen Constitutionen ängstlich zu behandeln vermeiden, unbedingteste Kenntniß der Gesetze des ehrwürdigen Servius Tullius – um so ehrwürdiger, da er nie gelebt hat – und die Gesetzveränderungen je nach Stand der Parteien werden mit allen Klauseln unauslöschlich dem Gedächtniß eingeprägt.

Bravo! Deutscher Student, kennst Du die Declaration of human rights? Kennst Du die Verfassung des Englischen Parlaments? Nein. Kennst Du die Déclaration des droits de l'homme? sowie die Decrete des National-Convents? Nein. Kennst Du endlich die politischen Gesetze, um welche Deutschland seit Napoleon rang? Nur in nothdürftigen Phrasen. – Aber man frage Dich von der lex Acilia de repetundis bis zur lex Voconia das ganze alphabetische Verzeichniß der leges durch – da bist Du zu Hause.

Und das auch nur, falls Du ein strebsamer und erfolgreicher Lernender gewesen – was ich immer zur Voraussetzung nehme, obschon noch nie ein origineller selbstthätiger Geist der deutschen Gymnasialbildung das Geringste verdankt hat, ja verdanken konnte. Denn selbst die Kenntniß der Antike flösse den Wenigen, die derselben bedürfen, auf dem Wege des Selbststudiums in kürzerer Zeit viel gründlicher zu. Wer wäre je auf der Schule in den wahren Geist der antiken Dichter und Geschichtsschreiber eingedrungen, da die Repetition der »unregelmäßigen Verba« daran hindert! Die lateinische und griechische Grammatik, nicht die Litteratur, derentwillen angeblich die todten Sprachen gepflegt werden, trägt der deutsche Gymnasiast nach Hause. Und dieser Formelkram, der den Geist ertötet, setzt sich auf der Universität fort. Die Studenten, die nicht einzig irgend einem Brodstudium fröhnen, sollen mit ihrer allgemeinen Unwissenheit von geschichtlichen Vorlesungen profitiren, welche irgend einen kleinen specialistischen Winkel-Abschnitt der Historie behandeln, den man in Wahrheit nur durch überschauende Kenntniß der allgemeinen historischen Verhältnisse begreifen könnte. Wo man aber gar einen »Lehrstuhl der Aesthetik« amtlich besoldet, da wird der angehende Bierphilister durch widerliche Shakespeareomanie und Goethepfafferei um den letzten Gran gesunden Urtheils und natürlicher Empfindung gebracht. Ein künftiges Jahrhundert wird darüber richten, ob die einseitige deutsche Gelehrsamkeit die Nation nicht vielfach in Entfaltung ihrer Kräfte gehemmt habe. Das Buch der Bücher, die Weltgeschichte, lehrt, daß aller vernunftwidrige Unsinn eines Tages seine Grenze findet.

Ich verlasse hier den Größenwahn des deutschen Schulmeisters, der als würdiger Bruder des Unteroffiziers und geistiger Knote jede freie Geistesentfaltung zu nivellirender Uniformität herabdrillen möchte. Jetzt wende ich mich zum Schluß einigen allgemeinen Beobachtungen über den deutschen Nationalcharakter zu.

Wir verstehen diesen am besten, sobald wir den französischen und englischen zum Vergleich heranziehn.

Der Franzose ist ein Sanguiniker. Mit leicht beweglicher, jedoch rein in die sinnliche Wahrnehmung gebannter Phantasie verbindet er im Ganzen eine erstaunliche Kälte des Herzens. Er ist grausam, unbarmherzig im Verfolgen egoistischer Pläne und Leidenschaften, zu welchen besonders seine phänomenale Sinnlichkeit zu rechnen ist, brutal im Besitze der Macht und wesentlich nur aus Eitelkeit zur sogenannten französischen Courtoisie und Ritterlichkeit geneigt. Nichtsdestoweniger berauscht ihn seine oberflächliche schillernde Phantasie sehr oft bis zur größten Noblesse und Empfindsamkeit, sobald man an seine Würde als Glied der großen Nation appellirt. Somit ist Eitelkeit und wieder Eitelkeit die Triebfeder seiner guten wie seiner schlechten Handlungen und Eigenschaften. Sein Idealismus ist stets aus diesem einen Beweggrund herzuleiten, persönlicher oder nationaler Eitelkeit. Darum wird er mit Begeisterung Jeden betrachten, der den äußern Glanz Frankreichs fördert, um so mehr er im Ganzen von erstaunlicher Unselbständigkeit ist und sich am liebsten von einem zusammenfassenden energischen Willen leiten läßt. Er ist mit Begeisterung servil, ebenso wie er mit Begeisterung die Freiheit anbetet – Beides, um seiner Phantasie ein Idol zu bieten, heiße es nun gloire oder liberté. Seine aufopfernde Hingebung für dies momentane Idol schlägt natürlich in das Gegentheil um, sobald diese Hingebung dem Heißhunger seiner phantastischen Eitelkeit nicht mehr genug entsprechende Sättigung gewährt. Aber der künstlich zur National-Eitelkeit großgezogenen Eitelkeit seines Naturells und seinem Leithammelsuchenden Instinkt verdankt er seine erlauchteste Tugend, den unbestreitbaren stets bewiesenen Patriotismus, der Alle vereint. Auf Gemeinsamkeit ist der Franzose überhaupt hingewiesen und veranlagt, in eminentem Sinn ein Zoon politikin. Ihm ist »die Gesellschaft« Alles, weswegen er eine tödtliche Furcht vor dem Lächerlichen empfindet. Diese in seinem Charakter liegende Unselbständigkeit bei aller Selbstüberschätzung, diese Selbstverknechtung unter die eiteln Dogmen äußerer Gesellschaftszustände erklärt denn das Problem, daß der Franzose – aus Eitelkeit, phantasievoller Nervenerregtheit und angeborner fränkischer Wildheit mit denkbar höchstem physischen Muth begabt – im Uebrigen als ein moralischer Feigling erscheint. Folge von dem allen, daß die französische Nation mit Recht eine große genannt werden kann, der Franzose selbst aber im Ganzen ein kleiner und kleinlicher Charakter ist und bleibt.

Genau das Umgekehrte gilt vom Engländer, wo der Einzelne im Ganzen achtungswerth erscheint, die Nation aber als Totalität einen peinlichen Eindruck hervorruft. Der Engländer entwickelt in seiner Art dieselbe Eitelkeit, wie der Franzose – nur in anderer Form, die zwar weniger kindisch, aber desto widerwärtiger wirkt.

Der Britte ist Choleriker mit melancholischem Anhauch. Die lebensfrohe Eitelkeit, das kindliche Behagen an allem Gleißenden, »Kinderklappern« wie Napoleon das treffend bezeichnete, fehlt daher dem Inselbewohner. Seine Selbstvergötterung richtet sich vielmehr nach innen, statt nach außen. Statt von der Welt Weihrauch zu fordern, baut er sich selber Altäre als sein eigner Hohepriester. Eine ungeheure Werthschätzung seines kleinen erbärmlichen Ichs dehnt sich dann concentrisch auf alles ihm Anhängende, also auch auf seine Nation aus. Daher der starke Familiensinn, der Clan-Geist auf den britischen Inseln. Die Begriffe dieser Insulaner von der Bedeutung ihres Landes und also auch ihrer selbst sind freilich weit verletzender als die der Franzosen. Frankreich möchte die »Herrin der Welt« heißen, an der »Spitze der Civilisation marschiren«. Das will England gar nicht. Civilisation? Giebt's außer England überhaupt nicht. Die Welt? Die Welt ist England. Alles nicht England Zugehörige ist werthlos und gleichgültig, geradezu ein Lapsus der Schöpfung. Der Franzose schwatzt von »des barbares«, der Engländer aber denkt es, ohne daß er es der Mühe werth fände, es auszusprechen.

Alle Continentalen, den eitlen Franzosen inbegriffen, sind Barbaren, unmündige Kinder, bemitleidenswerthe Schwächlinge. Es erhellt daraus der gradezu organisirte Egoismus dieser Nation, welche sogar die selbsttäuschende Phrase des Franzosen bei seinen brutalen Gelüsten gleichgültig verschmäht und die nackte eisige Selbstsucht der Nützlichkeitstheorie offen als Richtschnur ihrer Handlungen angiebt. In Folge dessen wird der englische Staat d.h. die den Staat repräsentierente Adels-Oligarchie stets ein direkter Feind der Menschheit bleiben, weil dort die persönlichen Eigenschaften des Engländers als Mensch nicht sichtbar werden, sondern nur der destillirte Genius dieses Volkes: schrankenloser Egoismus und Hochmuth.

Emerson nennt Jeden dieser Insulaner eine Insel für sich. Schon hieraus erhellt, daß er in striktem Gegensatz zum Franzosen die Tyrannei der äußerlichen Gesellschaftsformation an sich verachtet und diese nur in dem Grade respektirt, als sie seinem Egoismus entgegenkommt. Sein kaltes Nützlichkeitsprinzip läßt daher mit stillschweigendem Achselzucken die verrottetsten Mißbräuche der Gesellschaft bestehn, indem seine durch und durch pessimistische Weltanschauung diese Mißbrauche und inhumanen Thorheiten für nothwendig hält, um die materielle Wohlfahrt, die ihm über Alles geht, aufrecht zu erhalten. Hiermit correspondirt oder vielmehr hieraus resultirt auch die häßlichste seiner Charaktereigenheiten, die alle Schichten des englischen Lebens durchdringende Heuchelei. Es ist dies eine eigenthümliche Verlogenheit der Gesinnung, welche stillschweigend alle Vorurtheile und Legenden der Dummheit in dem Maße sanktionirt, daß jede mündliche und private, geschweige denn gar schriftliche und öffentliche Aeußerung gegen dieselben als ein Beweis mangelnden Anstandes und frecher Pöbelhaftigkeit betrachtet wird.

Im Besitz der schärfsten Verstandesfähigkeit, ist der Britte oder vielmehr macht sich mit instinktiver Absichtlichkeit unfähig, über die selbstgesteckten Schranken seiner Vorurtheile hinauszudringen. Der Franzose fürchtet nur die Lächerlichkeit, der Engländer nur den Skandal. »A scandal« ist ihm aber in erster Linie alles Extravagante und Exentrische – was Napoleon als »Ideologie« bezeichnet hätte. Ein Britte sagt sehr richtig: »Sich gegen die Bornirtheit auflehnen heißt bei uns to loose caste, ›die Kaste verlieren‹«. Und der Kastengeist ist das herrschende Princip Englands, da derselbe auf dem sich selbst abschließenden Insulaner-Egoismus und dem Triebe zum brutalen Hochmuth in dieser Race beruht. Bornirte Bigotterie in jeder Beziehung ist der Stützpfeiler dieses Systems, das um so schwerer zu erschüttern ist, als der Britte genau in demselben Maße treu, zähfesthaltend und schwerfällig, als der Franzose brüderlich, flüchtig und gewandt. Durch dieses Grundgebrechen wird jedoch der Charakter des Engländers vergiftet. Denn der Heuchler dient nicht nur dem Geist der Lüge, sondern selbstgerechter Pharisäismus wird lieblos und inhuman auf den Zöllner herabblicken. Ursprünglich von aufrichtiger Liebe für die Wahrheit beseelt, läßt er dieselbe ungehört verhallen, sobald seine pharisäische Selbstanbetung durch sie verletzt wird.

Neben dem jugendlichen Größenwahn des Franzosen und dem verhärteten greisenhaften Dünkel des Engländers leidet nun der Deutsche vielfach an hündischer Demuth und Fremdthümelei. Dazu hat er wenig Grund.

Man prahlt so häufig mit dem, was man nicht ist und nicht hat, nicht mit dem, was man ist und hat. Möge der Deutsche doch endlich aufhören, seine fragwürdige Tugend herauszustreichen und sich lieber – statt grade hier bewundernd nach dem Ausland zu schielen – seiner superioren Begabung bewußt werden, die ihm in Künsten, Wissenschaften und Gewerken, in Krieg und Frieden stets eine überwältigende Fülle von Talenten verschaffte wie keine andere Nation sie aufzuweisen hat!

So wird man ihm die zwei großen Güter für den Kampf ums Dasein, Klugheit und Fleiß, in hervorragendem Maße nachrühmen müssen. Daß diese Arbeitskraft, Ausdauer und Ueberlegung, nichtsdestoweniger die, aus lauter solchen Einzelkräften bestehende, große deutsche Nation erst durch bittere Not und eisernen Zwang zu einer klugen und standhaften Politik bewegen konnten, während doch diese Eigenschaften sie zu einem politischen Volk in erster Linie stempeln, – das hat der Deutsche einzig seinem mangelhaften Charakter zuzuschreiben. Neid, Mißgunst, Unfähigkeit zur Begeisterung, Gleichgültigkeit gegen ideale Interessen (alle deutschen Dichter und Denker von Wolfram von Eschenbach bis auf Richard Wagner wissen davon ein Lied zu singen), Pedanterie und Philistrosität, Knechtssinn, verbunden mit mißvergnügtem Fortschrittsgezänk – das sind kleine und kleinliche Laster, für die man gern die phraseologische Verlogenheit und Leichtfertigkeit der Franzosen und die Brutalität der Briten eintauschen möchte. Es mangelt dem Deutschen vor allem das wahre männliche Selbstvertrauen und dies mußte erst wieder durch das stramme Preußenthum geweckt werden. »Wenn Sie übrigens bedenken, daß Sie Preußen sind, so habe ich nichts mehr hinzuzufügen« – diese großen Worte des großen Friedrich vor der Schlacht bei Leuthen bilden einen Wendepunkt der deutschen Geschichte.

 

Leonhart verbeugte sich und verschwand. Die Versammlung der Zuhörer summte und brummte beim Aufbruch durcheinander. Ein Offizier schnarrte laut: »Eine solche Frechheit!« und ein alter Herr, der wie ein Gymnasialprofessor aussah, schnob majestätisch: »Muß wegen schlechten Betragens an den Ofen gestellt werden.«

Der allgemeinen Volksstimme aber, welche bekanntlich Gottes Stimme ist, lieh Dr. Drechsler-Cannibalis monumentalen Ausdruck, indem er laut mit ausgestreckter Rechten brüllte: »Ein solcher Größenwahn ist reif fürs Irrenhaus!«

 
Größenwahn
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