II.

 

Krastinik hatte sich fast ganz von der Welt zurückgezogen. Zu Weihnachten verbrachte er ein paar Wochen bei einem Verwandten Dorringtons auf dem Lande, um den üblichen Plumpuding und Puter in altenglischer Weise zu genießen. Aber selbst die Jagd behagte ihm nicht mehr. Alles Weltliche langweilte ihn. Eine ungeheure Revolution durchtobte alle Fibern seines Innern, gestaltete ihn um, stellte seine ganze frühere Weltanschauung auf den Kopf. Jener namenlose Ekel vor allem Aeußerlichen ergriff ihn, der so oft den Idealisten wie eine Art Mieselsucht befällt. Eine verzehrende Sehnsucht, dem Idealen nachzustreben, im Reich des Geistes sich heimisch zu machen, durchfieberte sein ganzes Denken. »Ich bin ein Dichter!« dies Hochgefühl wurde ihm an sich noch keineswegs zum Hochgenuß, weil er seine bisherige Bedeutungslosigkeit sich ehrlich gestand. Sollte er auf Pump bei der Unsterblichkeit leben, wie mancher windige Geselle? Nein, einlösen wollte er den Wechsel, den er auf sich selbst gezogen.

Nachholen galt es, was er versäumt, da er seine ganze Jugend vergeudet, den schönsten Theil seines Lebens verpraßt und verschwendet, ohne seinen wahren Lebensberuf auch nur zu ahnen. Nun er denselben erkannte und erkor (konnte die Phrenologie denn lügen?), wollte er Herz und Nieren nur diesem einem Ziele weihen.

Er stand spät gegen Mittag auf, von Schlaflosigkeit und Träumen dichterischen Schaffens gepeinigt. Morgens im Bette wälzte er tausend Pläne; selbst das Aufstehen und sich Ankleiden als etwas Physisches störte ihn. Er schlang sein Frühstück hinunter, und ohne der Wirthin Zeit zu lassen, seine Stube aufzuräumen, machte er sich an die Arbeit, las und schrieb. Gegen Abend wanderte er weit hinaus in die City, um sein Dinner irgendwo aufzustöbern, da im Westend nur wenige Restaurationen liegen. Auch brauchte er einen langen Spaziergang, um die Säfte der stockenden Maschine zurechtzurütteln.

Oft langte er zu spät an, da nach 8 Uhr dort nichts Warmes mehr zu bekommen, und mußte sich mit Ueberbleibseln begnügen. Oder er wanderte wieder ins Westend zurück, um in einer Conditorei (wie man dies nur in England kennt) ein französisches Ragout oder die üblichen Hammelrippchen zu bestellen. Seine unnatürliche Lebensweise verschlimmerte sich derartig, obschon er nur selten vom Theater oder aus Gesellschaften heimkehrte, daß er manchmal erst gegen 11 Uhr Nachts, ja noch später, sein »Mittagsbrot« einnahm. Er magerte sichtlich ab und Dorrington, der sich wiederholt bemühte, ihn seinem Einsiedlerleben zu entreißen, erschrak jedesmal, wenn er ihn wiedersah.

Jede Nacht genoß der Graf beim Heimkehren das Vergnügen, am Belgrave Road durch eine Kette von Nachtwandlerinnen, welche die ganze Breite des Weges sperrten, der Freiheit eine Gasse zu brechen. Auch wußte er einzelne handgreifliche Verehrerinnen abweisen, die mit ihrer gewöhnlichen Angriffstaktik den krummen Griff ihres Regenschirms in seiner Achselhöhle festhakten. Er aber schritt, unangefochten von fleischlichen Regungen, in einsamer Majestät durch all den Schmutz hindurch, halb erhaben halb lächerlich, ein Ritter von der traurigen Gestalt.

Bis um Mitternacht geschlossen wurde, irrte er im Hyde Park oder St. James' Park hin und her. Der Regen sickerte durch Moos, Farnkräuter und tropische Gewächse. Das silberne Boot des Mondes durchfurchte die Wolken, die sich burgähnlich in zackigen Umrissen am trüben Horizonte ballten. Die Giebel von Bukingham Palace umwob der nächtige Trauerflor. Im melancholischen Wasser spiegelten sich spukhaft die Sterne. Auf den sammetweichen Wiesen, deren Smaragdgrün der funkelnde Morgenthau des Frühlings wie mit Demanten besät, wo Hammelheerden behaglich wiederkäuend geweidet, wo ihm oft das sonnenstaubdurchrieselte Laub der Eichen ein rosiges Antlitz mit goldigem Haar als englisches Ideal seiner Träume heraufgezaubert hatte – dort lagerten jetzt über geschmolzenem Schnee schwarz und schwer immer tiefere Schatten.

Bleierne Müdigkeit lastete auf dem Einsamen. Manchmal fuhren seine Finger über sein bleiches vornehmes Gesicht in seltsam mechanischem Takt – dann war ihm, als ob er träume, als ob er sein vergangenes nutzloses Leben nur geträumt. War er Kavalier, Dandy, Offizier gewesen? War er nicht stets ein einsamer Grübler wie jetzt, ein verkappter Dichterdenker incognito? Immer verhaßter wurde ihm sein bisheriges Leben – sollte er in dasselbe zurückkehren, wenn sein Urlaub abgelaufen? Konnte er das noch, selbst wenn er wollte? Aber was dann! Vermögen hatte er ja nicht, ein jüngerer Sohn. Wovon leben! Er hatte sich von seiner Appanage soviel zusammengespart, um diese Reise machen zu können. Davon konnte er vielleicht noch bis Herbst hier leben. Sein Urlaub, den er auf unbestimmte Zeit »gesundheitshalber« genommen, um dessen Verlängerung er erfolgreich eingekommen war, gestattete ihm das. Aber was dann!

Er schien sich der Beklagenswertheste der Menschen. Als ihn einmal eine Nachtwandlerin, die am Park-Laue entlang pirschte, manierlich und ohne Zudringlichkeit fragte, was die Uhr sei – vielleicht, um einen Austausch schöner Seelen anzuknüpfen, vielleicht auch nicht – herrschte er sie, aus seinen Gedanken aufgestört, an: »Was geht Sie die Uhr an bei Ihrem Handwerk? Geh und arbeite!« Die Frau wich zaghaft zurück und murmelte: »Bitt' um Verzeihung!« Dann seufzte sie, kaum hörbar, indem sie sich abwandte: »Arbeite! Gebt mir Arbeit!« Krastinik, der arme Edelmann, dessen übermäßig hohe Trinkgelder allen Kellnern den »Grafen« verrathen sollten, stutzte. Der Kavalier fühlte sich getroffen. Dann eilte er der »infortunate lady« (wie die Engländer es taktvoll nennen) nach und drückte ihr, ohne zu sprechen, eine halbe Krone in die Hand. Jaja, wie oft sprachen ihn nicht Greisinnen, welche Zündholzschachteln in den Bar-Rooms verkauften, auf sein nobles Gesicht hin an und murmelten dazu mit der eigenthümlichen ruhigen Anständigkeit, welche man in England so oft beim niedersten Volke bewundert, ihr Busineß-Sprüchlein: Sie hätten zwei Tage nichts gegessen. – Doch der vornehme Herr fühlte sich unglücklicher als sie Alle! »Gebt mir Arbeit!« hallte es in ihm wieder. Arbeit, die keine standesgemäße Sclaverei, Arbeit für meinen erwachten Geist. »Geh und arbeite!« Sich selbst mußte er das zurufen. Sollte er länger verschmachten in thatlosem Träumen?

Seine Gespräche mit dem alten Freund und Mentor Lord Dorrington (Lady Dorrington's weltlicher Sinn paßte dem Neffen längst nicht mehr) konnten nicht dazu dienen, ihn aufzumuntern. Der alte Herr litt an einem Unterleibsleiden, das er zwar standhaft ertrug, sich aber dafür an seinem widerspenstigen Corpus durch grämliche Sentenzen rächte.

»Ach, liebes Kind, wenn erst die Verdauung gestört ist, dann ist Alles zum Teufel. Das menschliche Leben hat drei Stadien: Erst denkt man nur an die Liebe, dann nur ans Essen, dann nur an die Verdauung. Da hab' ich mal auf meinen Streifereien im steirischen Hochland einen Spruch gefunden – er stand an einem gewissen Ort – der gefiel mir so, daß ich mir ihn notirt hab.« Und der alte Herr citirte mit schadenfrohem Schmunzeln:

 

»Die Pfaffen, die sich Götter nennen,

Sie müssen all' in dieses Haus.

Doch wenn sie nicht verdauen können,

Dann ist es mit der Gottheit aus.«

 

Krastinik lachte hellauf: »Das ist wirklich druckfähig!«

Sehr oft kam das Gespräch auf militärische Dinge. Der Lord hatte in jüngeren Jahren (noch nicht zur Lordschaft avancirt, sondern als »sehr ehrenwerther Mr. Dorrington«) bei der Garde-Artillerie gedient. Seinen äußerst liberalen radikal aufgeklärten Gesinnungen schien jedoch das gesammte Soldatenspielen nur ein nothwendiges Uebel. Mit der Ironie eines erfahrenen Skeptikers beobachtete er die Wettlage auf dem Continent, welcher sich mehr und mehr zu einem einzigen Heerlager zu verwandeln schien.

»Ja, lieber Xaver, Militarismus und Socialismus – das sind die beiden großen Sachen. Scylla und Charibdis. Alles Andere wird dazwischen zermalmt.«

Krastinik schwieg eine Weile. »Sie haben den Krim-Krieg mitgemacht. Warum erzählen Sie so ungern aus Ihrer militärischen Carrière?«

Dorrington zuckte die Achseln. »Ja, Du hast eben noch keinen Krieg mitgemacht, mein Lieber.«

»Waren Sie nie ehrgeizig?«

»Ach Gott!« Dorrington lachte leicht auf; dann nickte er vor sich hin, wie in Erinnerungen verloren. »Haha, da war's z.B. in der Schlacht bei Inkerman. Da fährt die Batterie eines Rivalen vor mir über eine Schlucht an den Feind heran. ›Sehn Sie, Herr Major!‹ riefen meine Offiziere. ›Mir haben hier den ganzen Angriff abgeschlagen und nun nimmt der uns die Ehre vorweg!‹ Es kochte in mir, aber ich bezwang mich und gebot dem Stabstrompeter das Signal zu blasen: ›Halt an, halt an!‹ Da kommt mein Oberst vorüber und brüllt aus voller Kehle: ›Um Gotteswillen, Herr Major, sind Sie toll? Der will grade auffahren und Sie lassen »Halt an« blasen?‹ Kaum hat er's gesprochen, da kommt auch schon jene Batterie zurück, gräulich zerschossen; hatte gleich Kehrt machen müssen. Aber bei dem Wahnwitz war die Hälfte der Bemannung vom Schützenfeuer des Feindes gefallen, ehe sie nur zum Abprotzen kam. Haha,« Dorrington lächelte bitter, »nachher, als der Befehl kam: ›Das Ganze avanciren‹, ging ich grad bis zu jener Stelle vor. Wir konnten nicht weiter; so dicht standen die Truppen aneinander und so voll lag's von Todten und Verwundeten in der Schlucht. Ich ließ Halt machen und Kartätschen einsetzen. Ja, da lagen die Artilleristen von jener Batterie noch umher, die so nutzlos vom Ehrgeiz ihres Chefs geopfert. Ich kann Dir sagen, lieber Junge, aus den Augen der Sterbenden leuchtete ein wahrer Haß. – So sieht der militärische Ehrgeiz aus, so!«

Krastinik wiegte nachdenklich sein Denkerhaupt. »So! Sie haßten also Ihr Metier?«

»Wie man's nimmt. Ein Kamerad toastete mal auf mich bei 'ner Offiziersmesse: ›Ein seltsamer Kerl, der Dorrington. In der Schlacht an der Alma hört‹ ich ihn commandiren: ›Drittes Geschütz, Feuer! Ach, die armen Menschen! Fünftes Geschütz, Shrapnell laden! Gott, dies Elend!‹«

Krastinik schwieg nachdenklich; allerlei Gedanken wirbelten ihm im Kopf herum. Der Plan, seinen Abschied zu nehmen, trat ihm nah und näher.

Zersetzend wirkten auf ihn auch Discussionen über erotische Dinge, die er mit seinem Mentor pflog, der wie alle früheren Lebemänner nicht gut auf die »Liebe« zu sprechen war.

Seine geschwätzige Wirthin hatte dem Grafen eine seltsame Mär erzählt, als sie ihm seine Flasche Porter zum Lunch um vier Uhr brachte. In der nächsten Porter-Filiale hatte ein junger Mann eine Banknote wechseln lassen. Der Chef der Handlung warf zufällig einen näheren Blick darauf und entdeckte zu seiner Ueberraschung ein Zeichen, das er auf Banknoten, die durch seine Hände liefen, zu machen pflegte – ein üblicher Usus der Londoner Geschäftsleute bei dem Umsichgreifen gefälschten Papiergeldes. Die Nummerzahl der Banknote aber belehrte ihn, daß dieselbe am selben Tag von ihm beim Wechseln einer größeren Summe an eine ältere Dame übergeben war, die in derselben Straße wohnte. Das erregte seinen Verdacht. Er zog einen Detective ins Vertrauen und ließ den jungen Mann beobachten, da dieser sich wiederholt in der Gegend blicken ließ. Und was ergab sich als Resultat? Daß die Banknote freilich nicht entwendet, sondern von der Dame (verheirathet und über erotisches Alter längst hinaus) nebst manchem anderen Sümmchen dem Jüngling gespendet worden war – für gewisse Dienste.

Krastinik, eine ursprünglich romantische Natur, fand mehr und mehr Gefallen an der naturwissenschaftlichcynischen Auffassung seines Freundes. Eine glühende Schönheitstrunkenheit hatte auch Dorrington's Gemüth in der Jugend beherrscht. Er verstand die duftige Wonneberauschung, welche Krastinik's Sinne gefangen hielt, indem er den Liebreiz des Weibes und die Holdseligkeit der Natur wie ein sich innerlich Bedingendes zugleich empfand. In den Tiefen süßester Geheimnisse schwelgte einst auch er. Doch mit sanftelegischen Herbstgefühlen ward sich der Alternde bewußt, daß der rosige Mai und der goldene Sommer für immer ihm entschwunden seien. Diese blutvolle Erinnerungssehnsucht schied so schwer vom Genusse und wollte kaum entsagungsstille werden, wenn auch mildere Klänge ehelichen Friedens in ihm nachtönten, wie abendliche Glocken.

»Jaja,« belehrte er grämlich seinen jungen Freund. »Um das weibliche ewig Leibliche dreht sich Alles. Erst mußt Du Deine Papierseiten mit erotischem Oel beschmieren: dann wird sich das Leben schon von selbst darauf abmalen lassen. Aber nie ohne diese Untermalung mit erotischem Sekkativ.« (Er kannte letzteren Kunstausdruck als Amateur, der gern in den Studios umherbummelte, um als gefürchteter »Kenner« bei jeder Ausstellung der Royal Academy of Arts zu kritteln.) »Beiläufig, die O'Donnogan beklagt sich, Du besuchtest sie gar nicht mehr. Nun und Egremonts?« Er werde nächstens mal wieder dort vorsprechen, sagte der Graf. »Ja ja, die holde Alice! Wie ein Lämmlein steht sie da in weißem Gewande und – scheert Gimpel. Eine Meisterin der vielverheißenden Herumschmachterei, the little flirt. Na, nichts für ungut,« begütigte er, als Krastinik, auf dessen Arm er sich lehnte, unwillig aufzuckte. »Wir alten Leute sind derb!«

»Wie befindet sich denn Mr. Egremont?«

»Ach, der ist völlig verrückt vor Pomposität. Jetzt hat er den culinarischen Größenwahn. Will aus dem Saft von Kibitzeiern, Spargel, Hummer und Austern eine Pasteten-Sauce construiren, die seinen Namen verewigen soll. Er will sie ›Jubiläumspastete‹ taufen, zu Ehren der Königin Victoria. Gastronomische Streberei! Daß Gott erbarm!«

Kraftinik stattete dem zur Ruhe gesetzten Beherrscher des geistigen Lebens der »Britischen Aristokratie« einige Tage darauf einen Besuch ab und schnitt Miß Alice, die wieder tiefsinnig gemüthvoll in ihre kluge Ruhe gewickelt dasaß, gewaltig die Cour. Man wurde sehr warm.

»Sie müssen nicht so liebenswürdig sein! Das wird mir gefährlich,« flötete das sanfte Amphibienweibchen mit ihrer molluskenhaften Anschmiegsamkeit. Die Heuchelei mancher Frauennaturen grenzt an Genialität. Denn sie scheint naiv-unbewußt.

Da wurde Mowbray gemeldet und ein eigenthümliches Lächeln flog über Alice's zarte Züge, indem sie in ihren weichen Fauteuil und ihre Musselinrobe gleichsam versank. Krastinik empfahl sich sofort. Dieser Geck war ihm unerträglich.

Er begann, über seine Gefühle ernstlich mit sich zu Rathe zu gehen.

Wenn er Maud und Alice sah, waren sie ihm gleichgültig; so wie sie ihm aus dem Gesichtskreis entschwanden, ergriff ihn heftige Neigung für sie. Auch der umgekehrte Fall trat ein, daß er in ihrem Beisein voll Verliebtheit strotzte und später kühl vergaß.

Alles nur Scheinliebe. Der, Modelle und Anregungen, suchende, Egoismus des Künstlers herrschte bereits so mächtig in ihm, daß er, sobald ihm ein anziehendes weibliches Wesen in den Weg kam, sich gleichsam Rechnung von deren Vorzügen und seiner etwaigen Liebesbegierde für sie ablegte.

Die O'Donnogan war ihm gänzlich zuwider geworden. Lebemänner, die einige Haare verloren haben, werden selten von koketten Wittwen und älteren Salondamen gereizt.

Seine Liebesbedürfnisse wuchsen ins Krankhafte. Zwei Ideale schwebten ihm vor. Entweder eine durch Erotik bis zur Schwindsucht Verlebte, die sich Frieden suchend an ihn schmiegte. Oder ein zartes keusches Wesen. Ja, er liebte Alice, dies reine vornehme Geschöpf – wie er sie sich ausmalte. Jeder unreine Gedanke mußte sich in ihrer Nähe zu edelster Ritterlichkeit läutern. Man mag Leidenschaft für eine Kokette empfinden, aber wahre Liebe wird stets nur Ergebniß von Achtung und Vertrauen.

Er haßte diesen Lassen, den Mowbray. Der war gewiß ein Roué und die sind nie zu bekehren. Erst mögen ihn Keuschheit und Herzensgüte reizen, später aber wird er stets das Experiment als höchste Wollust versuchen, die Reinheit mit seiner eigen Gemeinheit zu beflecken.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Dabei stieg seine innere Unruhe. Eine nervöse Psychose bemächtigte sich seiner.

Krastinik war einer von denen, die in jeder Lage zum Extremen neigen und schwerfällig auf demselben Punkte beharren. Er konnte stundenlang im Bette faulenzen, gleich jenem spleenigen Engländer, der sich die Kehle abschnitt, um sich nicht jeden Morgen ankleiden zu müssen. Und ebenso konnte er unmäßig arbeiten, sobald ihn der Trieb dazu ergriff. Nur daß diese fieberhafte Ausschweifung des Geistes nie nachhaltig blieb. Denn er dachte nie an wahre Kunst, sondern nur an Befriedigung seiner Eitelkeit. Er litt noch stark an Weltlust, ohne es zu wissen, und sprach von seinem Idealismus, wie der Beamte von staatlicher Ordnung predigt, weil er an seinen Gehalt denkt. Der Kunst aber muß man sich ganz allein hingeben. Sie will keine andern Götter neben sich. Zu dieser Höhe gelangt man erst nach strenger Selbstschulung.

Krastinik fing fortwährend Neues an, statt Eines auszufeilen. Skizzenhaft Unausgeführtes häufte sich. Er wälzte Plan auf Plan im Kopf und wiederholte sich die Entwürfe unablässig hintereinander – ohne daß er die Kraft fand, einen zu beginnen. Damit hing es logisch zusammen, daß er in seiner ausschweifenden Phantasie wähnte, sich in Besitz aller Genüsse setzen zu können, und hinterher eine pomphafte Uebersättigung empfand, als habe er schon allen Ruhm, den er heißhungrig in weiter Ferne ersehnte, vollauf genossen. Er hätte in seinen Träumen einen Heirathsantrag der Königin Victoria als ganz natürlich hingenommen. Wie heilsam, daß das Leben diese Voraus-Blasirtheit durch sein langsames Tempo züchtigt. – Die dichterische Zukunftsmusik wälzte sich in seinem Gehirn hin und her und jedes Motiv hinderte das andere. Alles blieb Fragment, da Krastinik noch nicht die Fähigkeit gelernt hatte, sich auf etwas Bestimmtes zu concentriren in Genuß und Arbeit. – Unter seinen Stoffen, die sich durcheinanderschoben, schien ihm keiner der rechte. Zaudre eine Sekunde, so wird eine Stunde daraus. Wer zupft und trödelt oder (wie ein Autor von einem Druckfehler, der ihm drohend entgegengrinst) sich von jeder Kleinigkeit hypnotisirt fühlt, – der verlasse nur die thätige Laufbahn. Man muß sich auch in den kleinen Gewohnheiten des Lebens eine forsche Genialität aneignen. Wer ewig am Ufer zaudert, eh er ins Flußbad springt, holt sich nur einen Schnupfen.

Sein Spleen wurde immer widerlicher. Er ärgerte sich über jeden Penny, den er zu viel gab; über jede zerkaute Cigarrenspitze, deren Nikotin er unachtsam seinem Speichel zugeführt; über jedes zähe oder zu ausgebratene Beafsteak. Mangelte ihm der Appetit oder war die Verdauung gestört, so forschte er als echter Krankheitshypochonder nach den Gründen dieses schweren Unglücks. Selbst in der Vergangenheit stocherte er herum, wie ein Lumpensammler in müffigem Kehricht. Er erinnerte sich, daß er als Knabe viel in eisigen Kellereien des Heimathschlosses mit den Söhnen des Kastellans Versteck gespielt, noch heiß vom gegenseitigen Haschen – das hatte sicher seiner Lunge tuberculose Keime eingeimpft! Warum hatte er einst dies und das gethan, dies und das unterlassen! Er grollte noch nachträglich Personen, die ihn im Comfort gestört.

So wurde er ein regelrechter Genuß- und Gesundheitsjäger, wie alle Leute, die ihre Begierden weder ganz zähmen noch ganz sättigen; halbgesättigt, brechen diese stets unvermuthet neu hervor und schwächen den Willen. Statt mit unfruchtbarem Genörgel die Zeit zu verschwenden, hätte er aus Prinzip lüderlich werden sollen. Denn so wie man den physischen Schmerz vergißt, sobald man sich zwingt, nicht daran zu denken – genau so den moralischen.

Aber Krastinik hielt Lüderlichkeit für unter seiner Würde; und je mehr er körperlichen Sport trieb (Boxen, Schwimmen, Marschiren), um sich aufzumuntern, desto sublimer und ernster wurde er. Ach, für ihn wäre etwas stupide Lebenslust der gesundeste Sport geworden. Für den Nebel der Sentimentalität giebt's nur ein probates Mittel: Den Rausch der Ausschweifung. Der Strom der Pein und der Strom der Lust quellen im Gefühlsleben nebeneinander. Dämmt man den einen, bricht der andere hervor.

Am Ende nahm seine widerliche Hypochondrie so bedrohlich zu, daß sie eine Art Verlustwahn nährte. Er bildete sich manchmal geradezu ein, daß ihm dieser Omnibus-Conducteur beim Wechseln Sixpence, jener Kellner eine halbe Krone zu wenig zurückgegeben habe. Dann glaubte er steif und fest, daß er in Inverneß zwei Guineas vergessen habe, die er vorm Schlafengehn unter den Spiegel gelegt haben wollte.

Seine Seele verkleinerte sich gleichsam in grämlichem Egoismus. Er verglich seine physische Natur mit derjenigen eines Laffen wie Mowbray und glaubte, daß höchste brutale Kraft auch höchstes Glück bedinge. Er beneidete die Engländer also um ihr Klima und ihre Erziehung, welche ihnen eine so überlegene physische Elasticität verliehen, und hielt sich selbst in demselben Maße vom physischen Glück entfernt. Und wie ein solcher unwirscher Neid seine leibliche Maschine nicht verbessern, sondern nur die Säfte stocken machen konnte – so peinigte er sich noch mehr, indem der Neid auf die so weit überlegenen Glücksgüter seiner englischen Umgebung ihn zu verkniffener Geldgier führte. Da er nun diese durch Erwerb nicht befriedigen konnte, so keimte in ihm »the good old gentlemanly vice«, der Geiz. Er fing an, innerlich den Mammon anzubeten. Hätte ihm ein Erie-Prinz ein Douceur angeboten, seinen Namen unter einen faulen Actienschwindel zu setzen – er hätte sich in gewissen Augenblicken wirklich dem Teufel verschrieben, er, von Natur so vornehm und ehrenhaft! Etwas der Sache wegen thun, schien ihm jetzt höchste Thorheit. Sein litterarisches Talent, an das er fest glaubte, sollte ihm einfach dienen, goldne Eier zu legen. Er wollte Sensationsromane schreiben, wie Gregor Samarow, Lustspiele wie G.v. Moser, dessen »Krieg und Frieden« er in noch ärgerer Adaptirung auf einer Londoner Bühne kennen lernte. Jedes höhere Streben schien in ihm erloschen.

Mit einem gehörigen inneren Ruck machte er sich also wirklich an die Arbeit. Er arbeitete an jener Novelle »Nachhülfe wird gesucht«, deren seltsame Exposition er einst dem Damen-Areopag bei Dorrington verlesen hatte. Dabei fiel es ihm jedoch schwer auf die Seele, daß ihm dies kein deutsches Familienjournal drucken werde; und er beschloß daher, äußerst abzudämpfen – möglichst salonfrivol und beileibe nicht cynisch zu werden, auf daß die schöne Leserin schamhaft hinter dem Fächer kichern könne, ohne sich äußerlich verletzt zu fühlen.

Die Arbeit schritt rüstig vor. Allein die Gestalt des Idealisten Goodenough machte ihm bei seinem jetzigen Gemütszustand und materialistischen Prinzip viele Schwierigkeiten. Er wollte diese Figur ja nicht der Lächerlichkeit, sondern dem Mitleid empfehlen, und dies wollte nicht recht gelingen. Hätte er nur irgend ein Modell gefunden!

Während dieser Arbeit stachelte ihn ein Wahngebilde, das er für Wahrheit hielt. Die so stark aufmunternden Worte, die Alice bei ihrem letzten Beisammensein geflötet, schienen ihm die Gewährung süßen Lohnes zu versprechen. Enthielten sie nicht ein halbes Geständniß tieferer Neigung? Der Unerfahrene ahnte gar nicht, daß in England sogar wirkliche engagements, ehe sie offiziell geworden, noch nichts Bindendes zu bedeuten haben. So setzte sich denn bei ihm eine Art Reflex-Liebe fest, indem er sich steif und fest einredete, ihr Schmachten entspringe einer unbefriedigten Liebessehnsucht. Aber ob für ihn? Wohl fiel ihm ein, daß vielleicht Mowbray – doch nein, nein, diesen Gedanken verwarf er. Wie konnte ein so ernstes kluges Wesen an solch einem nichtssagenden »schönen Mann« Gefallen finden!

Allein, diese Eifersucht bohrte ihm den Stachel der eingebildeten Reflexliebe noch stärker ein. Ja, wenn er unwillkürlich argwöhnte, sie habe ihn am Ende zum Narren, dann erst recht. Haß der Liebe, aus dem Zorn gekränkter Eitelkeit hervorgegangen, verstärkt gerade darum die Gefühle, weil die Selbstsucht mit tangirt wird. Haben doch Haß und Liebe, die so nahe beieinander schlummern, denselben Ursprung.

Er war also allen Ernstes verliebt. Die Leidenschaften sind ja völlig unbewußt und stehen nicht in unserem Belieben, sondern bilden sich gleichsam mechanisch.

Um seinen Traum nicht zu zerstören und weil er einmal gelesen hatte, Abwesenheit und scheinbare Kälte vermehre die Liebe (eine jener Regeln, die lauter Ausnahmen zuläßt), mied er Egremonts drei Wochen lang. Auch um seine Arbeit zu fördern, wie er denn fast gar nicht ausging. Nun trieb es ihn wieder dorthin.

Aber zu seinem Befremden empfand er alsbald, daß ihm, obschon sehr höflich aufgenommen, eine auffallende Kälte entgegenwehte. Miß Maud warf ein paar mal spitze Bemerkungen hin, als er von seiner Schriftstellerei plauderte: Ja, heute schreibe Jedermann. Alice schien sehr gelangweilt und gleichgültig. Als er gereizt den Schmollenden spielte, verstand sie ihn gar nicht.

Er war außer sich. Dazu, hatte er jetzt seit vielen Tagen sein Herz mit schönen Gefühlen kasteit, dazu – –

Nichts ist belehrender und charakter-festigender, nichts aber auch verwundender für die Eigenliebe, als die seltsame Ueberraschung, sich in einem befreundeten Hause überflüssig zu finden. Die Abstufungen von plötzlicher Kälte zu allmählicher Kühle sind weniger verletzend, als die Erkenntniß, daß unsre Abwesenheit keineswegs bemerkt oder gar schmerzlich empfunden wurde.

Der Bankerotteur glaubt, Jeder werde ihn zur Thüre hinauswerfen – im Gegentheil! Man ist gespannt, zu erfahren, was ein solcher Herr eigentlich von uns will. Du hast Deine Frau geprügelt wie stadtkundig? Das glaubst Du in jedem Antlitz zu lesen? Eingebildeter Narr! Wir haben Alle ganz Anderes zu bedenken.

Aber wähne doch auch nicht, man habe, weil Du vier Wochen abwesend warest, sich gefragt: Mein Gott, was fehlt ihm, warum kommt er nicht? – Dein leerer Platz ist alsbald wieder gefüllt und im nächsten Caféhaus hat man sich einen neuen Freund geholt.

Hervorragende Naturen sind nicht eitler, wie mittelmäßige. Sie sind meist zu hochmüthig oder im besten Falle zu stolz dazu. Dennoch leiden sie meist, weil die Einbildungskraft und zugleich die Rücksichtnahme auf das liebe Ich vorherrscht, an dem Größenwahn, sich für besonders gehaßt oder geliebt zu halten. Nichts kann daher eine solche Seele stürmischer erregen und einen tiefern Abgrund in ihr aufreißen, als die entwürdigende Gleichgültigkeit, mit der man sie auf dasselbe Niveau mit ihrer Umgebung herabzieht. Eine Ahnung von der Unmöglichkeit der wahren Liebe und von der Schwierigkeit, verständnißvolle Theilnahme für die volle eigne Bedeutung zu finden, geht ihnen auf.

Zu Hause fand er die Karte eines Herrn vor, der in einer Stunde wieder vorsprechen wollte. »Eduard Rother, Maler? Hm, den Namen las ich schon öfter. Aus Berlin? Was will der von mir? – Meinethalben, ich bin zu Hause.«

 
Größenwahn
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