KAPITEL 28

„Das ganze Ruhrgebiet ist durchlöchert, überall sind noch die alten Bergwerkstollen, ein idealer Aufenthaltsort für Vampire“, behauptete Sofia wie ein überenthusiastischer Reiseführer, als sie in Essen – ganz in der Nähe der Zeche Zollverein – aus einem Schatten auftauchten.

 

„Großartig!“, kommentierte Edward. „Ich dachte immer, wir würden die alten Pestgruben bevorzugen oder Katakomben.“

 

Bei der Erwähnung der unterirdischen Grabstätten lief ein kalter Schauder über Sofias Rücken. Beinahe wäre auch ihr Grab in einem unterirdischen Labyrinth zu finden gewesen. Namenlos und verschüttet.

 

„Sollten die Eingänge nicht verschüttet sein? Und die Stollen?“, wandte der Magistrat ein.

 

„Hat es je einen Vampir gestört was sein sollte?“, neckte die Vampirin zurück.

 

Edward grummelte leise. Sofia hatte recht, was noch lange nicht bedeutete, dass ihm die Möglichkeit gefiel. Wenn tatsächlich das ganze Ruhrgebiet ein Spielplatz der ältesten Vampire war – inklusive unterirdischer Privatwege und Residenzen, befanden sie sich auf unbekanntem Parkett – oder auf einer einzigen, riesigen Falle. Er wünschte sich, sie hätte die Bergwerke einfach nie erwähnt. Manchmal war ihr Verstand einfach zu scharf, scharf genug, um sich selbst damit umzubringen.

 

„Wieso fangen wir ausgerechnet bei einem Weltkulturerbe an zu suchen?“

 

„Irgendwo müssen wir anfangen.“ Sofia drehte sich zu der Zeche. „Außerdem wollte ich sie mir schon immer mal anschauen!“

 

„Verdammt!“ Edward reagierte eine Sekunde vor Sofia und zog sie in den Schutz des Gebäudes zurück. Mit dem Rücken zur Wand.

 

Die Vampirin erkannte die Falle erst, als sie die Aura des Vampirs zuordnen konnte, der die anderen anzuführen schien: Nemesis! Es waren viele. Überall. Selbst in der Kanalisation und in der Luft. Die Masse war jedoch nicht das Problem, sondern das Alter.

 

Sofia versuchte die Blutsauger zu scannen, doch es gelang ihr nicht. Er musste die Alten vor ihnen erreicht und für sich gewonnen haben. Sie zog ihre Glock, obwohl sie wusste, wie sinnlos die Waffe war. Ein Tropfen auf einem heißen Stein.

 

Sie konnte spüren, wie immer mehr Vampire zu dem dichten Ring stießen, der sich um Edward und sie gebildet hatte, konnte fühlen, wie überall in Essen Nemesis‘ Verbündete gelauert hatten. An jeder Stelle, die irgendeine mögliche Verbindung zu Bergwerken oder den Stollen haben konnte.

 

Anscheinend war er sich sicher gewesen, dass Edward und sie kommen würden, aber nicht, wohin genau.

 

Edward griff nach ihrer Hand. Ein symbolischer Akt, der wie ein weltlicher Widerhall ihrer geistigen Verbindung wirkte, die sich nun in voller Stärke zwischen ihnen auftat. Wie unter einem inneren Zwang folgte Sofia Edwards Anleitung, konzentrierte sich auf ihre Emotionen. In diesem Falle Verwirrung, Wut und Angst, und versuchte das brisante Gemisch einzuschließen, um es für ihre Zwecke zu benutzten.

 

Die Hitze war überwältigend. Das Wissen um die Hitze, denn die Temperatur selbst blieb nicht im Ursprungskörper, sondern richtete sich nach außen, suchte gezielt nach Opfern. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Doch sie brannten nicht. Das unsichtbare Feuer und die Verheerung blieben aus.

 

Selbst als Edward nach Sofias Kraftreserven griff, die durch ihren Bund nahezu verdoppelt worden waren, gelang es ihm nicht, die mentale Schutzmauer der Angreifer zu erschüttern. Irgendwie hatten sie es geschafft, ihr gemeinsames Ziel zu einer gemeinsamen mentalen Fähigkeit zu bündeln.

 

Die Masse macht´s, dachte die Vampirin und wünschte sich Joels Fähigkeiten. Edward trug zwar ebenfalls sein Schwert, aber Sofia sah die zwei Hauptprobleme. Eines davon war sie. Wie konnte er in ihrer Nähe bleiben und gleichzeitig kämpfen?

 

Das Näherrücken der Vampire war lautlos und wirkte so langsam, dass die Bedrohung Sofias Sinne erschütterte und noch mehr schärfte. Die Vampirin konnte erkennen, dass die Rebellen versuchen würden, Edward und sie voneinander zu trennen – und Edward das nicht zulassen würde. Aber er musste! Schon allein, um zu kämpfen.

 

„Traurig, dass der Magistrat der Königin ohne den Schutz der Hexe nicht mehr genügend Macht hat, um den echten Problemen Herr zu werden!“, spöttelte eine Stimme, die Sofia sofort Nemesis zuordnen konnte.

 

Sofias Bitte an Edward zu kämpfen, kam zu spät – verhallte ungehört in dem kakophonischen Aufruhr in der mentalen und weltlichen Realität. Als wären Nemesis Worte ein Startsignal, katapultierte sich die mentale Anstrengung der Vampire nach außen, beschränkte sich nicht mehr länger auf ein Halten der Stellung, sondern wurde zu einem bereits vorher geplanten und geübten Angriff.

 

Die Erschütterung erfasste Sofias gesamten Körper, doch die Abwehrübungen, die Edward ihr beigebracht hatte, halfen, die Energie ohne Schaden aufzunehmen und in den Boden abzuleiten. Trotzdem prickelte ihre Haut, und ihre Nerven bebten.

 

Doch die eigentliche Kraft und die Hitze des Angriffs richteten sich gegen Edward. Unter der geballten mentalen Gewalt ging der Magistrat in die Knie. Die Kraft, die es ihn kostete, zu widerstehen und zu überleben, zehrte an seinem Körper. Die Vampirin wusste nicht, ob es kleine Risse in seiner Verteidigung waren, die ihm Wunden zufügten, oder ob ihm die Anstrengung Blutstropfen durch die Poren trieb, aber die roten Flecken auf dem Gesicht mit dem schmerzverzerrten Ausdruck ließen Sofias Herz verkrampfen.

 

Sie schloss die Augen, ignorierte die näher kommenden Vampire und konzentrierte sich auf das helle Glühen hinter ihren Lidern. Mit einem verzweifelten Versuch griff sie nach ihrer Verbindung und sandte ihre geistige Energie zu Edward.

 

Er blockte sie aus. Komplett. – Und versuchte ihren Bund zu trennen. – Sie öffnete die Augen und starrte ihn an, während sich Entsetzen in ihr breit machte. Sein Aussperren konnte nur eines bedeuten: Er wusste, dass sie verlieren würden, und wollte nicht, dass sie gemeinsam mit ihm unterging.

 

Nemesis schien das Aufgeben seines Feindes an Sofias Körperhaltung abzulesen, denn sein Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine unheimliche Maske des Triumphes.

 

„Mach dir keine Sorgen um deine Liebste!“ Der Blick, mit dem er die Vampirin bedachte, war lüstern und besitzergreifend. „Ich werde mich ausgiebig und sehr, sehr lange mit ihr befassen.“

 

Der Angriff überrumpelte Sofia nicht – und überrumpelte sie trotzdem. Es waren zu viele. Selbst dadurch, dass sie von Anfang an gespürt hatte, dass sie sie von Edward trennen wollten, hatte sie keinen Vorteil, konnte sich nicht gegen die Flut der Körper Jennifer Schreiner Honigblut wehren, gegen die brachiale Gewalt. Ihre Schüsse trafen, richteten aber keinen Schaden an. Zumindest keinen, der groß genug gewesen wäre.

 

Hände griffen nach der Vampirin, entrissen ihr die Waffe, griffen und hielten sie. Unbarmherzige Schraubstockgriffe ohne Besitzer, mehr Hände als Vampire, ein Schieben und Drängen, welches sich zwischen sie und Edward geschoben hatte, tonlos, wortlos und lautlos.

 

Doch anders als bei dem Angriff in Prag wurde nicht an ihr gezerrt, sie nicht verletzt, sondern nur gehalten. Wehrlos musste sie zulassen, dass eine stabile, silberne Kette um ihre Arme und Handgelenke geschlungen wurde, hinab zu ihren Fußknöcheln und um ihren Hals.

 

Wieder versuchte sie, ihre Konzentration auf Edward zu lenken, statt die Schmerzen zu kontrollieren, die die Kette ihr zufügte. Sinnlos.

 

„Wenn du dich benimmst, werde ich ihm ein schnelles Ende gewähren!“, flüsterte Nemesis. Sie ahnte, dass er derjenige mit der Kette gewesen war – und mit dem Schlüssel. Die anderen Hände verschwanden von ihr, die vampirischen Besitzer wandten sich Edward zu und ließen sie in Nemesis Verwahrung.

 

„Schau gut zu!“ Eine starke Hand legte sich unter Sofias Kinn um ihre Kehle und zwang sie zuzusehen, was mit Edward geschah, während die andere sich um ihre Taille schloss und ihren Körper fest an Nemesis presste.

 

Wie wilde Hunde hatte sich der Vampirmob auf Edward gestürzt und in ihm verbissen. Sofia konnte den metallischen Blutgeruch in der Luft riechen, die Verzweiflung und den Hunger. Das Reißen der Haut, wenn sich die Reißzähne in sie bohrten erschien ohrenbetäubend laut, übertönte das Rascheln der Kleider und war ebenso ekelerregend wie das gierige Saugen und die Schmatzgeräusche, wenn ein Vampir seinen Trank beendete, um einem anderen Platz zu machen.

 

Sofia versuchte sich aus dem eisernen Griff zu befreien, doch Nemesis hielt sie unnachgiebig, ließ ihr Zappeln mit stoischer Ruhe über sich ergehen.

 

Edward öffnete die Augen und sah Sofia an. In seinem Blick lag solche Qual und solch Bedauern, dass sich ihr ein Aufschrei entrang.

 

„Es ist deine Entscheidung!“ In Nemesis triumphierende Stimme mischte sich Erregung.

 

Schlagartig verharrte die Vampirin, erlahmte in Nemesis Armen. Stumm bat ihr Blick Edward um Vergebung. Nemesis Hände bewegten sich. Die eine glitt von Sofias Taille unter ihr Hemd, hielt sie weiterhin fest und dicht an den Körper des Vampirs gepresst, während die andere über ihren Hals nach unten strich, über ihren Busen und weiter hinab.

 

Trotz seines Versprechens ließen die anderen Vampire nicht von Edward ab.

 

Sofia zwang sich zur Ruhe. „Wenn Edward stirbt, sterbe ich auch!“ Ihre einzige Hoffnung bestand darin, dass Nemesis Verlangen nach ihr groß genug war, um Edward zu verschonen. Wenigstens, bis er mit der Vampirin fertig war.

 

„Du bist stark und wirst nicht sterben!“, behauptete der Rebellenführer. Seine Rechte glitt in Sofias Jeans.

 

Edward brach den Augenkontakt ab, indem er die Lider schloss. Unter Tränen sah Sofia zu, wie er jegliche Gegenwehr einstellte.

 

„Ich würde wahnsinnig werden“, wandte Sofia mit spür- und hörbarer Gewissheit ein, als Nemesis seine Hand unter den Bund ihrer Unterhose gleiten ließ. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Nemesis lachte. Ein unangenehmer Laut. „Das ist mir egal. Du wirst mein. Meine Königin zu meinen Füßen!“

 

Sofia begann sich wieder zu wehren. Für Edward hätte sie alles riskiert und alles getan. Doch wenn er sowieso sterben sollte, wollte auch sie kämpfend untergehen.

 

„Requiescat in pace!“ Die geflüsterten Buchstaben tanzten mit überirdischer Klarheit in der Dunkelheit, verbanden sich zu melodischen Wörtern, lähmten die Szenerie und die Vampire. Doch sie ergaben erst einen silberhellen Sinn, als die wogende Hitze kam. Unerwartet, von allen Seiten, selbst aus dem Boden. Als lehnte sich das Land selbst gegen die Blutsauger auf.

 

Sofia konnte spüren, wie sich Nemesis Temperatur veränderte. Von eiskalt zu warm wurde, während um sie herum Vampire einem unsichtbaren Feuer zum Opfer fielen, aufflammten und verglühten, ohne sich noch einmal regen zu können. Ihr tonloses Verbrennen war zu schnell – selbst für vampirische Sinne – ging in Sekundenbruchteilen vonstatten, und selbst die Asche war verweht, bevor die leere Stelle auffiel.

 

Dann begannen der Tumult, das Auflehnen und die Schreie. Die Geräusche steigerten sich zu einer Kakophonie, während die Gerüche von brennender Kleidung und verkohlendem Fleisch beißend wurden.

 

Nemesis wich mit einem entsetzten Gesichtsausdruck von Sofia zurück. Beinahe so, als vermutete er in ihr den Ursprung der machtvollen Dominanz, die seine mentale Mauer zum Zittern brachte.

 

Doch auch Sofia spürte die fremde Kraft. Sie prallte mit voller Wucht gegen ihren geistigen Schutz, ihre Schilder zerbarsten in tausend kleine Splitter und wurden zu einem Nichts zerfetzt. Das heiße Glühen erfasste jede ihrer Zellen, wurde schmerzhaft, unerträglich. Sofias einziger Gedanke galt Edward, der sich auf dem Boden wand, als glühe der Asphalt. Sie versuchte eine Hand nach ihm auszustrecken und zu rufen, doch es war zu spät.

 

Die Hitze war überall, lähmte, brannte und verzehrte.

 

Dann war es vorbei, ebenso schnell und unerwartet, wie es gekommen war. Die Leere und die Stille waren ohrenbetäubend und unheimlich.

 

Sofia kam taumelnd auf die Füße und stolperte zu Edward. Seine Kleidung hing in Fetzen, die einst makellose Haut hatte im schimmernden Licht des Mondes die Farbe von fahler Asche angenommen, während die blutigen Spuren, Kratzer und Bisse wie bodenlose, rot klaffende Wunden wirkten – teilweise den Blick auf Muskelfasern, Sehnen und Knochen freigaben – und blieben. Noch im Laufen biss Sofia sich ins Handgelenk, ignorierte den Schmerz und versuchte sich die Pulsader zu öffnen

 

„Spar dir deine Kraft, Mädchen!“ Die heisere Stimme klang wie eine zerkratzte Schallplatte. So alt, als sei sie ein Hauch aus der Vergangenheit. Die Töne schienen von überall zu kommen, beinahe, als wären sie schon immer dort gewesen und hätten nur auf ein Ohr gewartet, welches geneigt war, zu hören.

 

Sofia konnte spüren, wie der Befehl sie zum Gehorsam trieb und ihr Körper stehen blieb, obwohl sie selbst nichts anderes wollte, als Edward zu helfen. Wie eine Marionette drehte sie sich zum näher kommenden Sprecher.

 

Er wirkte so leer, so ausdruckslos, dass selbst seine Aura nicht sichtbar war. Hätte sie ihn nicht gesehen, hätte sie niemals bemerkt, dass er anwesend war. Wie ein lebloser Jennifer Schreiner Honigblut Gegenstand glitt er durch die Nacht, seine Bewegungen gemessen, und brachte gerade genügend Kraft auf, um zu ihr zu gelangen – keinen Deut mehr.

 

Es war unmöglich ihn einzuschätzen, unmöglich zu entscheiden, ob er Freund oder Feind war oder überhaupt irgendetwas. Niemals zuvor hatte die Vampirin jemanden erlebt, der in der Lage war, alles abzuschirmen und nichts auszustrahlen, als sei er gar nicht da.

 

Benommen nahm sie wahr, dass ein anderer Vampir aus dem Schatten trat und sich neben Edward kniete. Besorgt gelang es ihr, einen Teil der Trance abzuschütteln und sich umzudrehen. Ihre Besorgnis war umsonst. Der Vampir hatte bereits den Kopf des Magistraten in seinen Schoß gebettet und ließ ihn von seinem Blut trinken.

 

Als er ihren Blick auffing, konnte sie den sexuellen Glanz in ihnen wahrnehmen.

 

„Oh nein!“, murmelte sie. Selbst wenn das Blut eines der ältesten Vampire nahrhafter und heilsamer sein mochte als ihr eigenes, war sie nicht gewillt zuzusehen, wie ihr Liebhaber in die Ekstase eines anderen Mannes geriet.

 

„Du könntest als Katalysator fungieren!“, schlug der Vampir-who-wasn´t-there vor. Er stand dicht bei ihr, und seine Stimme schien direkt über ihre Haut zu streichen. Wie eine unsichtbare Liebkosung, die ihre Nerven zum Vibrieren brachten.

 

„Leck mich!“, meinte Sofia und versuchte sich aus der Realitätsblase zu entfernen, die sich um sie und den Fremden gebildet zu haben schien.

 

„Das wäre der nächste Vorschlag!“ Selbst das Lachen klang alt, humorlos.

 

„Ist schon in Ordnung!“ Obwohl sein Gesicht vor Erregung zu strahlen schien, und seine Stimme vor Lust verzerrt war, gelang es dem anderen Vampir, sich von Edward zu lösen.

 

Als er aufstand, und ihn das Licht einer Straßenlampe erleuchtete, erschrak die Vampirin. Hatte sie bereits den anderen als „leer“ kategorisiert, so war das Wesen vor ihr tatsächlich beinahe eine Statue. Die Augen schienen das einzig Lebendige in einem alabasterfarbenen Gesicht zu sein, jedoch bar jeglichen lesbaren Ausdrucks. Es schien keine Linien oder Falten, keine Poren oder feinen Härchen mehr zu geben, nur Haut, die hart und fest erschien wie polierter Stein. Und doch verzog sie sich jetzt unter Sofias prüfendem Blick, und ließen den flüchtigen Eindruck eines müden Lächelns entstehen.

 

Als sie dieses Gesicht zum ersten Mal gesehen hatte, war es blutbesudelt gewesen, triumphierend in einer grausamen Schlacht und für immer auf eine Buchseite gebannt.

 

Der plötzliche Adrenalinstoß vermischte sich mit einer erschreckenden Erkenntnis. Sie fuhr auf dem Absatz herum. „Wart ihr nicht …?“

 

„Feinde?“, unterbrach der leere, alte Vampir.

 

Er trat nun ebenfalls ins Licht, um Sofia einen besseren Blick zu gewähren. Er wirkte ungewaschen. Wie eine lebensgroße Puppe, die zu lange vergessen in einer Ecke gelegen hatte, und die staubig geworden war, die Kleidung brüchig und ausgeblichen.

 

Seine Haare hingen ungekämmt nach unten, wirkten zu müde, um das aufzuweisen, was die Werbung „Sprungkraft“ und „Glanz“ nannte. Nur seine ungebrochene Haltung und sein Gesicht erinnerten an den anderen Heerführer der letzten Schlacht, der im Buch erwähnt und interviewt worden war.

 

„Das ist lange her, Mädchen! Sehr lange …“ Die Stimme des Alten verklang, als seine Erinnerung in die Vergangenheit driftete. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Manchmal verbindet eine Jahrtausende andauernde Feindschaft mehr und tiefer als jede Freundschaft!“ Sofia glaubte eine Mischung aus Bedauern und Zuneigung in den Worten der Statue zu hören.

 

Der Alte gab einen Laut von sich, den ein schlecht gelaunter Gott als Lachen geschaffen haben mochte, und meinte, nahezu im Chor mit der Statue: „Freunde kommen und gehen, aber gute Feinde bleiben einem ein ganzes Leben lang erhalten.“

 

Das belustigte Grollen der Beiden ließ darauf schließen, dass sie die weltbekannten Aphorismen genau für solch ein Gespräch gesammelt hatten – oder zur eigenen Belustigung.

 

Edwards geistige Liebkosung durchbrach die surreale Wolke um die Vampirin, strich beruhigend durch Sofias Sinne, verzauberte sie und riss sie aus dem Bann der beiden Alten. Das Blut hatte Wunder gewirkt, die Wunden waren verschwunden, Leben in seinen Körper zurückgekehrt.

 

Während Sofia neben ihm niederkniete, hob sie ihr Gesicht und sah die alten Vampire an. Ihr „Danke!“ kam aus tiefstem Herzen, und es erschütterte sie, die Müdigkeit der beiden Fremden zu bemerken und ihr Alter. Ihre Motivationslosigkeit!, korrigierte sie sich. Fast wie Edward. Nur er hat mich als täglichen Anreiz.

 

Edward lächelte sie an, als spüre er ihren Gedankengang und versuchte so, ihre Besorgnis zu zerstreuen. Seine Hand fand ihre und drückte sie beruhigend. Sofias Blick glitt über ihn, untersuchte seinen Körper und war dankbar.

 

„Ich bin in Ordnung!“, behauptete Edward mit mehr Nachdruck, als ihm angesichts der Situation zustand.

 

Die Vampirin schenkte ihm ein Lächeln, doch ihre Gedanken schweiften bereits wieder zu den anderen, zu den anderen älteren Vampiren und ihren Motivationsquellen. Xylos hatte seine Unbekannte oder notfalls seine Selbstverliebtheit. Hasdrubal und Maeve konnte sie nicht einschätzen. Doch ihre größte Sorge galt Joel. Er mochte es zwar nicht bemerken, aber er schien immer mehr mit den Schatten zu verschmelzen, ein Teil der echten, elementaren Finsternis zu werden, und drohte sich in der Dunkelheit zu verlieren.

 

„Du machst dir Sorgen um die Vampire?“, erriet die Statue Sofias Gedankengang.

 

„Ehrlich gesagt gehen mir die meisten von ihnen am Arsch vorbei!“

 

Die Art Lachen, welches nun folgte, hatte Sofia oft von ihrem Großvater gehört. Es war mehr ein leichter Tadel über ihre Wortwahl und die Ausdrücke der Jugend als echtes Amüsement.

 

„Also bist du nur wegen Edwards Arsch hier?“, meinte der Alte. Belustigt, als drehe er jedes Wort genüsslich in Gedanken hin und her, als er ihren Ausdruck persiflierte.

 

Edward fand endlich die Kraft, dem Gespräch nicht nur zu folgen, sondern sich auch überrascht aufzusetzen.

 

„Natürlich kennen wir dich, Junge!“ Das Lachen des Staubigen klang erdig.

 

Sekundenlang war Edward versucht zu widersprechen oder einen Tadel ob seines Status zu erheben. Doch wie sollte man mit jemandem über sein Alter streiten, der Äonen zählte?

 

Stattdessen entschied er sich für: „Danke für die Hilfe.“

 

„Apropos Hilfe!“ Sofia lächelte und kam auf den Punkt. „Es gibt da ein kleines Problem!“ Jennifer Schreiner Honigblut

 

In kurzen Worten schilderte Sofia das Verhalten der jungen Vampire, die steigende Rate der Selbstmorde und die Müdigkeit der Älteren.

 

Der Vampir, der zu lange verschüttet gewesen zu sein schien, nickte zustimmend. „Ich, für meinen Teil, würde am liebsten liegen bleiben. Egal, ob Tag oder Nacht.“

 

„Was heißt, du würdest wollen? Du machst es doch!“, widersprach der Vampir-dergar-nicht-da-war. Seine Stimme war bar jeglichen Vorwurfs.

 

„Den wievielten haben wir?“ Die staubige Statue wirkte verwirrt.

 

„Zehnter Oktober!“, meinte Sofia und versuchte zu ergründen, wieso die Statuenhaftigkeit sie noch mehr störte als die Leere des anderen. Und noch mehr als Hasdrubals uralte Augen.

 

„Halt dich nicht mit Tagen und Monaten auf, Kind! Ich meinte das Jahr! Nach einer unterirdischen Ewigkeit verliert man den Überblick.“

 

Sofia brauchte einen Moment, um sich von dem Schock zu erholen. Dann antwortete sie: „Zweitausendundsieben nach Christi Geburt.“

 

„Na, immerhin die Zeitrechnung stimmt noch!“, grollte Mr. Statue, doch der andere Alte wirkte nicht glücklich über die Späße des anderen.“

 

„Manchmal steht er da und bewegt sich einfach nicht mehr. So, als fehlte ihm jegliche Motivation.“ Er deutete mit einer Geste auf die verkohlte Hose des anderen. „Ich habe sogar schon versucht, ihn zu verbrennen, doch es hat ihn weder gestört, noch hat es geklappt.“

 

„Du hast was?“

 

Sowohl Sofia als auch der Alte ignorierten den Schmutzfinken.

 

Endlich begriff die Vampirin, was sie störte: Die Mimik. Oder besser ihr Fehlen. Der angeschmorte Vampir wirkte nicht nur wie eine Statue, er wurde zu einer!

 

Strange!, dachte Sofia. Edward ist auf dem Weg müde zu werden, der müde Hasdrubal auf dem Weg leer zu werden, der leere Vampir auf dem Weg zur Statue … und die Statue konnte froh sein, wenn sie nicht von seinem besten Freund verbrannt wurde, um auf Lebenszeichen getestet zu werden.

 

„Was ist mit den anderen alten Vampiren?“

 

Die beiden Alten wirkten schuldbewusst und mieden Sofias Blick, bis sie entsetzt fragte: „Ihr habt sie doch nicht etwa getötet?“

 

Die empörte Antwort kam Synchron: „Sie spielen Schach!“

 

Mehr durch Instinkt als durch ihre vampiristischen Fähigkeiten konnte die Vampirin die Halbwahrheit erkennen und hakte nach: „Sie spielen Schach, oder ihr spielt mit ihnen Schach?“

 

„Ich gewinne!“, behauptete der Schmutzfink.

 

„Nicht, wenn du wieder zwei Tage verpennst!“ Der Blick des leeren Vampirs galt Sofia: „Dann müsste ich dem Befehl der Königin entsprechend alleine spielen! Sonst löscht uns die Hexe aus.“

 

Der Angekohlte drehte sich zu Edward: „Also, Herr Magistrat: Wer von den beiden Rothaarigen ist vor Kurzem gestorben? Die Königin oder die Hexe?“ Jennifer Schreiner Honigblut