KAPITEL 19

Die Vampirin kämpfte sich gerade konzentriert durch zwei Jahrhunderte blutige Vampirkriege, als sie das zerknüllte Blatt Papier an der Stirn traf und sie hochschreckte. Von ihrem Angreifer fehlte jede Spur.

 

Erst seine Stimme lenkte sie auf seine Spur: „Also noch einmal: Wieso genau machen wir das hier?“

 

Edward sah genauso begeistert aus, wie seine Stimme klang, als er hinter ihr und in der Deckung eines Berges staubiger Ordner auftauchte.

 

Sofia konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Selbst mit Spinnweben im Haar und so staubig, dass sein schwarzer Anzug grau wirkte, war Edward der attraktivste Mann, den sie je kennengelernt hatte.

 

Hätte ihr Herz noch geschlagen, hätte es einen Schlag ausgesetzt, als ihre Blicke sich trafen und Edward seine sinnlichen Lippen zu einem genüsslichen Lächeln verzog. Es lenkte sie von seiner Frage und ihrer Aufgabe ab, und als es noch mehr in die Breite wuchs, wurde ihr klar, dass der Vampir eben diese Wirkung auf sie einkalkuliert hatte.

 

„Ich habe es dir schon dreimal erzählt, und es wird beim vierten Mal nicht anders!“, maulte Sofia und wischte eine der wenigen noch lebenden Spinnen mitsamt des Netzes von einem Regal, das brüchig wirkende Pergamentrollen enthielt.

 

„Man sollte meinen, Morna hätte hier mit Hilfe ihrer Magie Ordnung halten können.“

 

„Dafür ist Magie nicht da!“, widersprach Edward aus Gewohnheit und wandte sich einem weiteren Aktenberg zu, der sich vom Boden bis auf eine Höhe von 1,50 Meter auftürmte.

 

„Wofür ist Magie denn dann da, wenn sie es nicht einmal schafft, Dokumente leserlich und sauber für die Nachwelt zu erhalten?“

 

„Baby, ich weiß ja, dass du ein Geschichtswurm bist, aber das hier geht wirklich zu weit!“

 

Edward stand plötzlich neben Sofia, nahm ihr die Pergamentrolle aus der Hand, und gab ihr keine Möglichkeit sich ihm zu entziehen, bevor er ihren Mund in Beschlag nahm.

 

„Schon besser!“, wisperte er an ihren Lippen, bevor er seinen Kuss vertiefte.

 

Jeder Zungenschlag war köstlich, ein aufreizendes Spiel, an welches sie sich längst hätte gewöhnen sollen, doch Edward war wie süchtig machendes Naschzeug: Man konnte nie genug von ihm bekommen – und zum Glück auch nicht an einer Überdosis sterben.

 

Wider besseres Wissen ließ sie zu, dass der Vampir sie näher zog, sein Spiel nicht nur mit der Zunge sondern auch mit seinen Fingern auf ihrem Körper spielen konnte. Erst als seine Hände unter ihr Oberteil glitten, um ihre nackte Haut zu berühren, entschied sie sich gegen diese zwar verlockende, aber auch zeitraubende Ablenkung.

 

Edward bemerkte mit wachsendem Vergnügen, wie seine Liebste mit ihrer Lust zu kämpfen hatte. Sie erwiderte zwar seinen Kuss und schenkte ihm das kurze Vergnügen einer Berührung, versuchte aber vehement, seine Hände einzufangen. Dass sie überhaupt kämpfte, zeigte ihm deutlich, dass mehr hinter ihrer scheinbar ziellosen Suche steckte als Joel und der Aufenthaltsort von Magnus‘ menschlicher Tochter.

 

Sie wusste, dass es ihr nicht mehr lange gelingen würde, ihre mentale Barriere gegen Edward aufrechtzuerhalten. Bereits jetzt versuchte sie sich auf zu viele Dinge Jennifer Schreiner Honigblut gleichzeitig zu konzentrieren: Mentale Abwehr, körperliche Abwehr und Weitersuchen. Schließlich gab sie auf.

 

„Okay, okay!“ Sie befreite sich aus Edwards Griff.

 

„Findest du nicht auch, dass hier etwas nicht stimmt?“

 

„Wenn du mit „Hier“ die Vampirgesellschaft meinst: Sie hat noch nie gestimmt.“

 

Sofia verdrehte die Augen. „Morna ist kaum tot, da beginnen Rebellionen gegen Maeve und ein System, welches seit Jahrhunderten gültig war.“

 

„Ein System, welches auf der Macht ihrer Schwester basierte – und auf den Ketten!“, konterte Edward und schlich mit raubtierhaft anmutenden Bewegungen hinter Sofia her, die sich auf sein Spiel einließ und langsam zurückwich.

 

„Was ist mit den jungen Vampiren?“

 

„Was soll mit den jungen Vampiren sein?“ Edwards Stimme war heiser. Ein Laut der samtigen Dunkelheit versprach, Seidenlaken und sanfte Unterwerfung unter seine Lust.

 

Sofia wich weiter zurück, nicht gewillt, sich tatsächlich von ihrer Suche abbringen zu lassen.

 

„Sie sind melancholisch und betreiben Selbstmord als Volkssport!“, übertrieb sie in der Hoffnung, Edward von einer komplett ehrlichen Antwort abzubringen.

 

„Zufall!“, behauptete der Vampir und trieb seine Gespielin weiter zwischen Akten, Dokumenten und Ordnern Richtung Wand.

 

Doch erst, als Sofia in der Ecke stand, gab sie auf. „Und was ist mit dir?“ Ihre Stimme war sanft, als sie all ihre Befürchtungen in ihre Frage legte.

 

„Was ist mit mir?“ Unbewusst zog sich Edward ein Stück von Sofia zurück.

 

„Du wirkst müder … und ….“, Sofia suchte nach dem richtigen Wort „… älter.“

 

„Das liegt an dem guten und reichlichen Sex!“, behauptete Edward. Seine Abwehrhaltung war noch deutlicher geworden.

 

„Willkommen zu Hause, Xylos! Du hast dich optisch sehr verändert!“, neckte Sofia. Edward musste lächeln. Es behagte ihm nicht, wie gut sie ihn durchschaute. Seit Tagen hatte er sich Mühe gegeben, Normalität aufrecht zu erhalten. Seine Müdigkeit der Anspannung und der Rebellion zugeschrieben. – Doch inzwischen stand er nur noch jeden Abend auf, weil er Sofia liebte.

 

„Glaubst du, das ist auch ein Zufall?“, fragte Sofia. „Guck dir Hasdrubal an.“

 

„Was ist mit Hasdrubal?“, erkundigte sich Edward argwöhnisch.

 

„Er ist nicht gerade die lebensfrohe Glückseligkeit in Person.“

 

„Hasdrubal ist…“ Edward bremste seine Worte noch rechtzeitig. Hasdrubal war kein Freund – immer noch nicht – und würde es wohl auch nie werden. Aber er war auch weit davon entfernt, ein Feind zu sein. „Was ist mit Xylos?“, sagte er stattdessen. Wenn die Veränderung tatsächlich ältere Vampire betraf, wie Sofia offenbar vermutete, mussten sie auch Xylos betreffen.

 

„Xylos würde es nicht einmal merken, wenn er wieder zurück in der Steinzeit wäre und eine Keule über den Kopf gezogen bekäme!“

 

Schon während sie den Satz aussprach, begriff die Vampirin, dass sie mehr brauchte als Worte, um ihren Verdacht deutlich zu machen. Edward würde immer Gegenbeispiele suchen – und finden.

 

Der Vampir war erstaunt, als Sofia ihre Gedanken so weit öffnete, dass er sich nicht einmal zu konzentrieren brauchte, um einen Blick in ihre Sorgen und Ängste zu werfen. Ihre Emotionen waren verworren und unsicher. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Doch unter allem spürte er ihre Liebe – zu ihm und zu seiner Familie. Eine nahezu abgöttische Zuneigung, die seine gesamte Familie erwiderte. Wie kleine, silberne Punkte tanzten einzelne Erinnerungen, Bruchstücke auf der mentalen Verbindung zwischen ihnen, erinnerten Edward an Sofias Hilfe, seiner Familie ein neues Leben zu ermöglichen. Frei von Mornas Fluch konnten sie sich – frisch aus dem magischen Schlaf – nach zwei Jahrtausenden endlich wieder frei bewegen. Mit Personalien und Geld, das Edward in all den Jahrhunderten angesammelt hatte.

 

Jetzt sah Sofia all das bedroht, fühlte eine Gefahr, die sie nicht definieren konnte und nicht zu fassen bekam. Es waren keine Rebellen, keine Personen, die sie fürchtete, es war eine Bedrohung, die im Wesen der Vampire selbst zu lauern schien.

 

„Wonach suchen wir also wirklich?“ Durch Sofias Liebe spürte Edward aberwitzige Hoffnung in sich aufflammen. Eine Emotion, die er sich nicht erklären konnte. Vor allem, weil er bis vor wenigen Minuten nicht einmal in Worte hätte fassen können, dass das Wissen einer Bedrohung in seinen Knochen steckte, in seinen Zellen und in seinem Blut; und unterschwellig an seinem Bewusstsein gezehrt hatte.

 

Er drehte sich zu dem Wörterchaos. Seine Hoffnung verflog und ließ Unsicherheit und Verwirrung zurück. Wenn es etwas gibt, was Jahrhunderte lang übersehen worden war, würde Maeve es dann nicht längst wissen? Und Hasdrubal? Die Information würde nicht hier liegen, unter all dem Dreck.

 

Oder? Der Vampir dachte an Magnus und war sich auf einmal nicht so sicher an was er noch glauben sollte. Freunde erwiesen sich als intrigant, Feinde als Freunde und menschenverachtende Frauenliebhaber als hilfreiche Gefährten. Magie verging, Hexen starben und Rebellen wurden geboren und das einzige, dessen er sich hundert Prozent sicher war, war Sofia und ihrer Liebe zu ihm.

 

„Wo also fangen wir an und wonach suchen wir?“ Er klang entschlossen.

 

Sofia überlegte, wog die Gefahr ab, die den jungen Vampiren drohte, gegen die, die sie in Edward spürte. Ihre Objektivität geriet dabei immer mehr ins Schwanken, bis sie sich für die Lösung entschied, die ihr Herz befahl. Das eine Problem konnten sie eventuell lösen, das andere nicht.

 

„Du suchst Magnus‘ ganzen Kram – Daten zu seinen Häusern, seinen Grundstücken, seinen Schätzen. Und ich suche alles zu den alten Vampiren. Ich will wissen, wer die Ältesten sind – und wo sie sich aufhalten.“

 

„Um was zu prüfen?“

 

„Ich will wissen, ob es ihnen ähnlich geht wie dir. Fühlen sie sich müde? Alt? Ausgebrannt? Ist ihre Existenz mit einem Mal so sinnlos, dass sie am liebsten nicht mehr aufstehen würden? Sich nicht mehr bewegen?“

 

Edwards Blick wurde traurig, während er Sofia fixierte. Er war offensichtlich kläglich bei seinem Versuch gescheitert, den merkwürdigen Schatten auf seinem Leben vor seiner Gefährtin geheim zu halten.

 

„Ich weiß, dass du nur noch für mich existierst!“ Sofias Blick wurde traurig, bevor sie sich wieder in den staubigen Dokumenten auf die Suche nach Informationen machte. Nach Antworten, auf die sie keine Frage kannte. Jennifer Schreiner Honigblut