KAPITEL 9

Xylos wusste, dass er eine Schwelle übertrat. Die von einem frauenfeindlichen Arsch zu einem Mann, der einem Freund gegenüber wortbrüchig wurde.

 

Doch er tröstete sich mit dem Gedanken, von Neugierde getrieben zu sein und nicht von Bosheit. Außerdem hatte Magnus ihm den Schlüssel anvertraut – seine letzte Handlung auf Erden – und wenn einer wusste, wie es um Xylos wirkliches Wesen, seinen Charakter, bestellt war, dann Magnus.

 

Der ehemalige Vampir musste einkalkuliert, sogar damit gerechnet haben, dass die Aufforderung, den Schlüssel nur Sofia – ausdrücklich nur Sofia – zu geben, Xylos Interesse wecken würde. Was verbirgt ein Freund vor mir? Welche letzte Tat hat er ausgeheckt? Xylos lauschte in sich hinein, fand jedoch keine Antwort.

 

Im Zimmer konnte er eine menschliche Aura spüren, schwach und undeutlich, mit unruhigen Gefühlen. Die Anwesenheit war so schwach, dass der Mensch entweder das perfekte „in sich ruhen“ gefunden hatte, ein Nirwana, um das ihn jeder Suchende beneiden würde, oder er schlief.

 

Xylos tippte auf Letzteres.

 

Seine Tochter? Der Callboy verwarf den Gedanken so schnell, wie er gekommen war. Mit vielem würde Magnus dir trauen, aber nicht mit seiner Tochter.

 

Vorsichtig schob sich der Vampir in die Wohnung, suchte nach versteckten weltlichen und psychischen Fallen, mit menschlichen und unmenschlichen Sinnen. Vorsicht ist besser als Nachsicht. Schließlich hatte Morna ihrem Bruder auch nicht zugetraut, dass er sie vernichten würde.

 

Doch es gab nichts. Keine Fallen, keine Täuschungen. Es war einfach nur eine wunderschöne, liebevoll eingerichtete Wohnung mit einem Balkon zur Südseite, für den andere Menschen töten würden.

 

Fotos zeugten davon, dass diese Wohnung einmal Sofia gehört hatte und im Grunde immer noch gehörte. Auf einigen Bildern war sie mit ihrer Zwillingsschwester zu sehen. Der Unterschied zwischen ihnen schien so prägnant, dass er beinahe schmerzte. Wo Sofia lebenslustig war, wirkte ihre Schwester betrübt. Der Hauch Melancholie in ihren Augen machte Xylos traurig. Eine schöne Frau sollte nie traurig sein!, dachte er und wunderte sich im nächsten Moment über sich selbst. Was denkst du denn da? Wahrscheinlich projizierst du deine Schwäche für Sofia nun auf ihre tote Schwester.

 

Er trat näher an das Bild. Nur weil Melanie nicht die große Macht ihrer Schönheit verstanden hatte, war sie noch lange nicht gut gewesen, noch lange nicht wie Sofia, die freiwillig auf Spiele und Macht verzichtete.

 

Er warf seine kurze Rührung ab und schlich leise weiter, bemüht, den Menschen im Nebenraum nicht aufzuwecken. Erst als er im Schlafzimmer stand und ungläubig in das Gesicht starrte, welches ihn in seinen Träumen verfolgt hatte, gab er einen Laut von sich.

 

Sein wütendes Heulen klang wie das eines in die Ecke gedrängten Tieres, während er im Stillen Magnus und seine Pläne verfluchte, hoffte, dass es Sofia war, die plötzlich die Augen öffnen und „Buh“ rufen würde.

 

Die Frau auf dem Bett regte sich nicht, schien seine Anwesenheit nicht zu bemerken.

 

„Das kann nicht sein!“, behauptete Xylos und ging wie betäubt um das Bett herum. Natürlich ist es möglich. Es ist ja offensichtlich, dass es möglich ist, aber wie … wann? Jennifer Schreiner Honigblut

 

Der Vampir kniete neben dem Bett nieder und beobachtete, wie die regelmäßigen Atemzüge Melanies Brustkorb hoben und senkten.

 

Vampirschlaf!

 

Wieder verfluchte er Magnus. Sofia hatte Xylos erzählt, was am Abend nach ihrer Umwandlung in einen Vampir geschehen war, und dass sie ihre Schwester getötet hatte. Doch dieses Wesen auf dem Bett war eindeutig nicht tot!

 

Sofia musste sich geirrt haben. Er konnte sich vorstellen, wie sie sich gefühlt haben musste, von Hunger und Angst gequält und mit einer suizidgefährdeten Schwester konfrontiert, die den Tod mit offenen Armen empfangen hatte.

 

Aber Sofia hatte sie nicht getötet. In ihrer Verwirrung hatte sie zwar Melanies Blut getrunken – viel Blut – aber sie nicht getötet. Vielleicht hatte Magnus sogar Sofias Vorstellung manipuliert und ihr Melanies Tod nur vorgegaukelt, bevor er die Frau in den Vampirschlaf versetzte.

 

Dieser raffinierte Intrigant! Xylos wusste nicht, ob er Magnus verachten oder bewundern wollte. Der Alte ging wirklich bis an die Grenzen, um seine Pläne auszuführen.

 

Xylos Lächeln verblasste schlagartig. Was war Magnus letzter Plan? Hatte er Sofia herbringen wollen, oder hatte der alte Fadenspinner Xylos die Frau zugespielt?

 

So wahrscheinlich Xylos die Idee vorher vorgekommen war, dass Magnus ihm absichtlich den Schlüssel gegeben hatte, um ihn zum Herkommen zu bringen, desto abwegiger wurde der Gedanke nun. Magnus würde eine Frau nicht Xylos ausliefern, oder?

 

Das blutrote Kleid, welches Melanies Gestalt bedeckte, sie umschmeichelte wie eine zweite Haut, sprach eine andere Sprache. Xylos hasste sich selbst dafür, den Schlüssel nicht einfach Sofia gegeben zu haben. Jetzt war es zu spät. Er war in Magnus‘ Falle getappt und sein Interesse war geweckt. Immer wieder glitt sein Blick zu Melanies weichem Hals, zu ihrem kaum sichtbaren Puls.

 

Sie ist mein! Xylos schüttelte den Kopf, um den störenden Gedanken zu vertreiben. Wenn er Melanie aufweckte, würde sie sterben. Ebenso endgültig, als ramme er ihr ein Messer ins Herz. Nur ein Wesen konnte aus einem Vampirschlaf erwachen – ein Vampir.

 

Verflucht seiest du Magnus! Xylos stand auf und pilgerte vor dem Bett auf und ab, unfähig, seinen Körper und seine Gefühle ruhig zu halten.

 

Sofia hätte ihre Schwester sicher zu einem Vampir gemacht und sie aufgeweckt, aber diese Option blieb Xylos vorenthalten. Wirklich?

 

Die unerwartete Reaktion seines Körpers erwischte ihn unvorbereitet. Es war nicht die leichte Erregung, die er bei anderen schönen Frauen verspürte, sondern eine Sehnsucht, die ihn zurückweichen ließ. Er erschrak über die erotischen und zärtlichen Gedanken, die in ihm aufstiegen, und erlegte sich strenge Disziplin auf.

 

Als er zum letzten Mal gewagt hatte zu glauben und zu vertrauen, hatte er teuer bezahlen müssen und würde ein Leben lang büßen. Das Leben, welches er gewählt hatte, sah keine Zuneigung vor, keine Romantik und erst recht keine Liebe. Immer wieder hatte er sich davon überzeugen können, dass er recht hatte. Dass Schönheit eine Täuschung war, ein rein äußerlicher Fakt, nur dazu geschaffen, zu manipulieren.

 

Schönheit war über die Jahrhunderte hinweg eine Macht für sich gewesen und geblieben. Ein Zahlungsmittel, eine Verlockung und ein ewiger Wunsch. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Er starrte die Frau auf dem Bett an, die Personifikation all dessen, was er an einer Frau verabscheute. Makellose Haut, hohe Wangenknochen und einen anbetungswürdigen Mund, ihre Haare von einem betörenden Goldblond; mit leichten Locken, die ihr lang und verlockend über die Schultern fielen, ihre Brüste umschmeichelten und den Blick weiterlenkten auf Proportionen, die einem Mann das Wasser im Munde zusammenlaufen ließen, oder in Xylos Fall ihn austrockneten.

 

Melanie verdankte ihre Schönheit nicht der Mode, Makeup, einem Friseur oder günstigem Licht. Ihre war echt, wäre es in all den vergangenen Jahrhunderten gewesen.

 

Xylos Wut auf Magnus und auf Melanie wuchs.

 

Am liebsten hätte er ihr Kleid mit beiden Händen gepackt und entzweigerissen, um einen Makel zu finden. Lügner! Um ihre Kurven freizulegen und sich an ihnen zu vergnügen!, tadelte sein Verstand.

 

Plötzlich fühlte er sich primitiv, wollte besitzen und begatten – und behalten. Für einen kurzen Augenblick beseelte ihn der Gedanke, dass er jedes Recht hatte, sie sich zu nehmen.

 

Dann setzte sein Verstand vollends wieder ein, und Xylos wich zurück.

 

Verflucht! Wenn sie schon im schlafenden Zustand dermaßen auf ihn wirkte, eine Wirkung, die selbst Sofia nie erzielt hatte, wie würde es erst sein, wenn sie wach war?

 

Aber sie wird nie wach sein. Niemals aufwachen, wenn du sie nicht weckst. Und dann stirbt sie.

 

Der laute Fluch, den Xylos Magnus ins Jenseits hinterherschickte, war so unflätig, dass er selbst rote Ohren bekam.

 

Er konnte nicht einfach weggehen, einfach so tun, als hätte er Melanie nie gefunden. Konnte sie nicht Sofia überlassen. Und du hast deinen Schwur erfüllt und Magnus gefunden. Jetzt kannst du dir auch wieder eine Frau und die Macht des Sexes gönnen!

 

Seine Wut auf Magnus, sich selbst und Melanie verblasste langsam, Schönheit hin oder her, und wandelte sich in Mitleid, als ihm ein trauriger Fakt einfiel: Sie hatte versucht, sich umzubringen!

 

Manch einer mochte sie für feige halten, für verdammenswert, aber plötzlich fragte er sich nach der Ursache ihrer Melancholie. Wie oft hatte Morna doch gleich gesagt?

 

Sein Blick glitt zu ihrem Handgelenk, um das sich ein auffällig weißer Verband abhob wie ein störender Fremdkörper. Er löste ihn. Vernarbtes Gewebe zeugte von Melanies vergeblichen Versuchen, sich das Leben zu nehmen. Wie verzweifelt muss man sein, wenn man sich selbst körperliche Gewalt zufügt?

 

Seine eigenen Narben waren verschwunden, als er ein Vampir wurde. Leider hatten sie seine Vergangenheit und Gefühle nicht mitgenommen.

 

Xylos ließ seine Fingerspitzen über die Narben gleiten, und er spürte ihre weiche Haut, genoss das Gefühl ihrer Lebenskraft unter seinen kräftigen Fingern. Sein Körper reagierte augenblicklich auf die verlockende Empfindung. Langsam ließ Xylos seine Hand an Melanies Arm hinaufgleiten, streichelte sanft ihre Ellenbeuge hinauf über ihren Oberarm bis zu den Schultern.

 

Melanies Augen bewegten sich hinter ihren geschlossenen Lidern, zeugten davon, dass sie seine Liebkosung auf einer ihm unbekannten Traumebene mitbekam. Ihre Reaktion erregte ihn, riss ihn hin und her.

 

Xylos ließ seine Hand wieder zurück zu ihren Narben gleiten. Sein Dornröschen sprach etwas in ihm an, was keine Frau zuvor angerührt hatte: Mitleid, Mitgefühl. Ihre Jennifer Schreiner Honigblut Verzweiflung, ihre schreckliche, alles überschattende Einsamkeit berührte seine Seele. Ein Teil von ihm verstand sie besser, als ihm lieb war. Er erkannte sich selbst in ihr.

 

Verlangen schlug mit barbarischer Intensität über Xylos zusammen. Er warf seinen uralten Eid über Bord, den Schwur, den er eben erst dem Rat gegeben hatte und traf eine Entscheidung. Jennifer Schreiner Honigblut