KAPITEL 15

Xylos starrte durch die Dunkelheit auf die hell erleuchtete Wohnung des Jungvampirs, der sich selbst den Vampirnamen Als-wären-wir-in-einem-schlechten-Film Andromedos gegeben hatte.

 

Die Trauer und der Kummer über einen Verlust hingen um den Jungen wie ein übler Geruch. Xylos hatte exakt dieselbe Aura bereits einmal gesehen: Millisekunden bevor die brennende Vampirfackel an ihm vorbeigeflogen war.

 

Der Callboy fragte sich, was einen Vampir so schwer treffen konnte, dass er bereit war, sich buchstäblich in Luft aufzulösen. Selbst als er sich konzentrierte und seine geistigen Fühler ausstreckte, stieß er nur auf allumfassende Verlorenheit. Etwas, mit dem er bei Melanie gerechnet hatte – nicht aber bei Philip. Einem Jungen, der noch sein ganzes Vampirleben vor sich hatte.

 

Xylos wandte sich den Mitbewohnern Philips zu und verharrte über einer schmerzenden Wunde: Der Verkehrsunfall, an dem vielleicht niemand die Schuld hatte – nur das Schicksal. Philip hätte seine Eltern niemals retten können.

 

Aber da war noch mehr. Eine Unsicherheit, die sich in den Köpfen der jungen Vampire festgesetzt hatte, und die direkt hinter ihrem Bewusstsein lauerte wie ein Schleier, der die Welt in einem anderen Licht zeigte, eine Ahnung, die alles Erlebte verblassen ließ.

 

Xylos blinzelte und konzentrierte sich noch mehr. Die gesamten Vampire der WG standen auf einer der zwei Schwellen. Die erste Hürde war die, vor der AndromedosPhilip sich befand: Das Loslassen seines alten Lebens. Man musste sich von den Menschen trennen, die man geliebt hatte, denn irgendwann würden sie die Veränderung bemerken – oder eben, dass man sich nicht mehr veränderte. Dieser Schritt war für viele Vampire eine Qual. Bislang wichtige emotionale Bindungen wurden bedeutungslos und durch Ewige ersetzt.

 

Der zweite Schritt war das Akzeptieren der Welt: Die Welt veränderte sich, wurde moderner. Kriege zogen über Länder und verschwanden wieder. Katastrophen geschahen und Sprachen wurden zu Erinnerungen. Geschichte geschah, und man stand außerhalb.

 

Xylos konnte sich nicht daran erinnern, dass das Ablösen von der realen Weltgeschichte ihm Probleme bereitet hatte. Er war dankbar gewesen für die Chance, hatte Maeve all seine Liebe und seine Hoffnung geschenkt, Emotionen, mit denen sie nichts mehr anfangen konnte, aber akzeptiert hatte. Sie hatte ihn unsterblich gemacht. Seine Welt und sein Leben war ohnehin Tage zuvor zu einem Scherbenhaufen zerfallen.

 

Doch diese Stimmung in der Vampir WG behagte ihm nicht. Ein melancholischer Vampir konnte Zufall sein, aber nicht alle. Nicht, wenn er wenige Stunden zuvor schon Zeuge eines Verglühens geworden war.

 

Irgendetwas stimmt nicht! Der Vampircallboy setzte sich in Bewegung. Vampire brachten sich nicht einfach so um. Dazu waren sie zu elitär und zu sehr handverlesen. Sie mussten Tests und Prüfungen bestehen, bevor Maeve – früher gemeinsam mit Morna – einer Umwandlung in einen Blutsauger zustimmte.

 

Als sich Xylos in Bewegung setzte, um mit Philip zu sprechen, erkannte er eine Anwesenheit. Sie hielt sich geschickt am Rande seines Bewusstseins auf, gerade weit genug entfernt, um nicht erkannt zu werden. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Der Callboy verharrte reglos. Zum zweiten Mal in kürzester Zeit mit einer Aura konfrontiert zu werden, die er nicht einordnen konnte, nervte und ließ ihn wütend werden. Wütend genug, um beinahe die feindliche Präsenz nicht zu spüren, die sich hinter ihm materialisierte.

 

„Nemesis!“ Xylos fuhr herum, darauf eingestellt, sich augenblicklich zu verteidigen.

 

Doch der andere Vampir stand nur lässig hinter ihm, ein hämisches Grinsen im Gesicht. „Merkwürdig, oder?“ Er nickte in Richtung der melancholischen Vampir-WG.

 

Xylos zuckte nonchalant mit den Schultern. „Die Königin sucht dich!“

 

„Ich habe keine Königin!“ Nemesis fauchte beinahe.

 

„Interessant!“ Xylos veränderte kaum merklich seine Körperhaltung, um einem Angriff besser ausweichen zu können. Obwohl er immer noch den unbekannten Vampir in seinem Rücken spürte, behielt er Nemesis im Auge, den er als gefährlicher einstufte. „Da frage ich mich doch, wem du vor etwa 2100 Jahren Gefolgschaft geschworen hast.“

 

„Du bist nicht älter als ich!“, warnte Nemesis. Er setzte sich langsam in Bewegung und begann seinen Gegner zu umkreisen.

 

Xylos ließ ihm den Spaß und drehte sich mit ihm, sicher, dass Nemesis nicht angreifen würde, bevor er den Callboy wieder mit dem Rücken zu dem zweiten Angreifer platziert hatte. Langsam sammelte Xylos all seine vampirisch-magischen Ressourcen und baute konzentriert seine geistige Abwehr auf. Beherrscht genug, um Nemesis in dem Glauben zu lassen, er sei zu lässig und selbstgefällig, um seinen Widersacher ernst zu nehmen.

 

„Ich kann selber rechnen, vielen Dank! Und der Dritte Punische Krieg war nur kurz vor dem Dritten Makedonischen.“

 

In der Tat wog Xylos seine Chancen ab. Was mochten zwei Jahre Unterschied bedeuten, wenn man Tausende von Jahren alt war? Er wusste, was Hasdrubal, Joel und Edward an seiner Stelle gemacht hätten – und entschied sich dafür, erst einmal eine andere, friedliche Lösung zu suchen.

 

„Was willst du?“ Xylos gab sich Mühe, seine Stimme freundlich klingen zu lassen.

 

„Dich, an meiner Seite!“

 

Der Callboy blieb verblüfft stehen.

 

„Überrascht dich das wirklich?“ Nemesis lächelte. „Wir sind einander sehr ähnlich.“ Der Karthager lachte, und der Ton rollte durch die Nacht, wob ein Netz um Xylos und zog sich langsam zusammen. Großartig! Ein gutgelaunter Soziopath!, dachte Xylos. Doch sein eigener Ruf musste wirklich schlimm sein, wenn ausgerechnet Nemesis glaubte, ihn auf seine Seite ziehen zu können.

 

„Du kannst nicht glücklich darüber sein, dass die Königin die Ketten verbietet und Frauen zu gleichberechtigten Partnern heranziehen will!“ Nemesis schlug in dieselbe Kerbe wie seine Freunde auf der Ratssitzung in Rom.

 

„Es ist mir egal!“ Xylos stolperte beinahe über seine eigene Wahrheit. Er war froh, dass Nemesis keine Ahnung hatte, dass sich seine Motivation verändert hatte. Wenn es Xylos zuvor egal war, weil er ohnehin zu seinem Vergnügen kam, war es nun Melanie, die bei seiner Aussage in seinen Gedanken spukte.

 

Nemesis pfiff leise durch seine Zähne. „Egal, soso …!“ Sein Blick war lang und prüfend. Doch er schien die Information, die er suchte, nicht zu finden.

 

„Ich nehme an, deine Position unter der Königin ist gut genug, um sich nicht verbessern zu wollen?“ Die Stimme des anderen Vampirs war sanft, trug Untertöne von Manipulation mit sich, gegen die Xylos gefeit war. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Im Gegensatz zu dir halte ich meinen Schwur – und mein Versprechen!“

 

Nemesis lachte. Der Ton waberte durch die Nacht, beschwor Erinnerungen an Orgien, an endlose Blutnächte voller Macht und Gier und Leidenschaft. „Ich rieche, wie sehr du deinen Schwur gehalten hast!“ Plötzlich wurde er sehr ernst. „Wer ist die Kleine?“

 

Xylos konnte spüren, wie er für Sekunden die Kontrolle über seinen Gesichtsausdruck verlor und die Wut, die er empfand, durchblitzte. Auch darüber ärgerte er sich.

 

„Ah …!“, genüsslich dehnte Xylos Gegner diesen einen Laut, ließ ihn auf seiner Zunge rollen, wie einen erlesenen Geschmack, und ließ Xylos so wissen, wie er „die Kleine“ bedienen würde. „Der große Callboy will nicht teilen?!“ Schlagartig verflog jegliche Freundlichkeit aus Nemesis Zügen. „Das war schon immer dein Problem!“

 

Im selben Moment, an dem Xylos die Anwesenheit des unbekannten Vampirs wieder hinter sich spürte, knapp außerhalb seiner geistigen Reichweite, griff Nemesis an.

 

Xylos, der mit einem Angriff geistiger Natur gerechnet und sich gegen ihn gewappnet hatte, reagierte augenblicklich, doch sein Gegner war schneller als erwartet – viel schneller. Xylos versuchte mental zurückzuschlagen, doch es war zu spät. Nemesis prallte mit Wucht gegen ihn, riss ihn von den Füßen und zerstörte seine Konzentration für einen geistigen Erstangriff.

 

Xylos versuchte den Schwung seines Angreifers zu benutzten, um ihn unter sich zu rollen und die Oberhand in diesem Ringkampf zu gewinnen, doch er verhedderte sich in seinem eigenen Mantel.

 

„Tragisch!“, behauptete eine weibliche Stimme und Nemesis verharrte reglos. Xylos konnte die Verwirrung des anderen Vampirs beinahe körperlich spüren. Er selber war auch überrascht – allerdings positiv.

 

„Gestorben, weil er so viel Wert auf Mode legte. Ein guter Grabsteinspruch!“

 

Nemesis Zähne, eben noch zum Zubeißen bereit, entfernten sich langsam, beinahe unmerklich, von Xylos Hals, während sich der Vampir zu einem neuerlichen Angriff bereit machte.

 

Doch Sofia kam ihm mit einer merkwürdig anmutenden Bewegung zuvor, mit der sie aus Nemesis direkter Angriffszone schlenderte. Xylos wunderte sich über ihren Leichtsinn, da auch sie die Präsenz in ihrem Rücken haben musste. Er konzentrierte sich auf den Punkt in der Entfernung, der rot auf seinen Nervenbahnen getanzt war. Weg! Gewohnheitsgemäß prüfte er Sofias Aura, fand jedoch keine Übereinstimmung. Wer immer Zeuge des Kampfes zwischen ihm und Nemesis gewesen war, war verschwunden, als die Vampirin auftauchte.

 

„Sofia!“ Wieder ließ Nemesis Versuchung und Leidenschaft in einem Wort mitschwingen. „Dies hier geht dich nichts an!“, schmeichelte er in einem Tonfall, der unzählige Frauen verlockt und manipuliert hatte.

 

Xylos wünschte sich, wenigstens den Kopf so weit heben zu können, um die Vampirin sehen zu können, oder seine mentalen Fähigkeiten zu nutzten. Er versuchte sich zu konzentrieren, doch Nemesis Abwehrmauern standen ebenso sicher wie seine eigenen. Und der andere Vampir war ihm zu nahe, um auf feurige Art und Weise angegriffen werden zu können.

 

Sofia lachte leise. Ein Laut, den Xylos in den letzten Wochen schätzen gelernt hatte. Jetzt erinnerte er ihn an Melanie, und seine Eingeweide verkrampften sich bei dem Gedanken daran, dass Nemesis etwas von der Existenz einer Frau in Xylos‘ Leben ahnte. Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Du von allen Vampiren solltest doch wissen, dass die Königin keine gute und faire Regentin ist!“ Nemesis Worte galten der Vampirin.

 

„Das mag sein, aber die Alternative ist noch schlechter!“

 

Nemesis bleckte seine Zähne. Aus Xylos Position eine gefährliche, symbolische Zurschaustellung von Reißzähnen. Das Geräusch, welches aus Sofias Richtung kam, ließ sich sofort zuordnen: Edwards Glock.

 

Nemesis hatte sich von Xylos gelöst, bevor dieser begriff, und ebenso schnell hatte Sofia geschossen. Der Callboy konnte den Einschlag in untotes Fleisch hören. Doch auch für Sofia war Nemesis zu schnell. Zu schnell in der Nacht verschwunden.

 

„Verflucht!“ Die Vampirin beugte sich zu Xylos, der immer noch mit seinem Mantel kämpfte. Mehr aus Wut auf sich selbst und Ungeduld, als wegen eines echten Problems.

 

„Bist du in Ordnung?“

 

„Nein, mein Ego ist empfindlich angeschlagen.“

 

„Was wollte er?“

 

„Das Übliche!“ Als er an Sofias Gesichtsausdruck sah, dass sie nicht verstand, fügte er hinzu: „Schließ dich uns an! Wir verändern die Gesellschaft! Wer braucht eine Königin? Frauen für alle!“ Er zuckte mit den Achseln. „Eben das Übliche.“

 

Sofia nickte und starrte nachdenklich in die Nacht. Die Dinge hatten sich so schnell geändert, dass sie kaum noch hinterherkam. Informationen über die Struktur der vampirischen Rangordnung, Magie und Zerfall lösten einander im Minutentakt ab.

 

Ihr eigenes Leben hatte sich in dem Moment verändert, als sie in einem verschlossenen Sarg aufgewacht war – als Blutsaugerin und Spielball eines Wettkampfes, der seit Jahrhunderten tobte. Niemand hatte damit gerechnet, dass sie den uralten Fluch um Edward brechen und seine Familie befreien würde. Am allerwenigsten die Hexe Morna, die letztendlich die Kontrolle über ihre Ränkeschmiede verloren hatte, und durch die Hand ihrer eigenen Schwester gestorben war.

 

Xylos konnte Sofias Gedanken beinahe von ihrem hübschen Gesicht ablesen. Am liebsten hätte er sie geschüttelt und ihr klargemacht, dass sie keine Schuld an dem Aufruhr trug, dass sie nur um ihr Leben gekämpft hatte, und alles andere die Konsequenz einer verpfuschten Politik war.

 

Edwards Aufgabe! Und er war sich sicher, dass der Magistrat der Königin bereits alles getan hatte, um seine Frau von ihren Schuldgefühlen zu befreien.

 

Also tat der Callboy das Einzige, in dem er gut war. Er lenkte sie ab, indem er die Glock in ihrer kleinen Hand ausgiebig beäugte. „Ich bin beeindruckt!“

 

Sofias schelmisches Grinsen zeigte dem Vampir deutlich, das sie auf „beeindruckend“ verzichten konnte, solange sie nur eine Waffe hatte, um sich zu schützen.

 

„Und ich dachte, du glaubst, jedes Leben sei wertvoll und einmalig!“, witzelte er und war froh, ein echtes Lächeln auf Sofias Lippen zu erkennen.

 

„Jedes Leben IST wertvoll!“, bestätigte die Vampirin, verstaute die Waffe in ihrem Holster und fügte hinzu. „Aber manche Leben sind wertvoller als andere.“

 

„Danke. Nehme ich an!“ Xylos verbeugte sich spielerisch. „Ist Edward auch hier?“

 

„Nein!“ Sofia schüttelte den Kopf, was ihre blonden Haare in reizvolle Bewegung versetzte. „Er versucht, Informationen für Joel zu finden, ich habe mich nur kurz verdrückt.“ Jennifer Schreiner Honigblut

 

Xylos starrte einen Augenblick lang in die Dunkelheit, dorthin, wo kurz zuvor ein unbekannter Vampir gestanden hatte. Obwohl er wusste, dass es überflüssig war, entschloss er sich zu fragen: „Hast du den anderen Vampir erkannt?“

 

„Welchen anderen Vampir?“

 

„Dort hinten!“ Er ließ seinen Worten eine Bewegung folgen und deutete in die Richtung, aus der er die Aura empfangen hatte.

 

„Da war nichts.“

 

„Dann muss ich mich getäuscht haben.“ Enttäuscht ließ Xylos den Arm wieder sinken. Unbekannt und schnell.

 

„Ich glaube nicht, dass du dich getäuscht hast!“, murmelte Sofia

 

„Warum? Weil ich mich nie täusche?“, neckte Xylos schelmisch. „Noch einmal danke!“

 

„Idiot!“ Die Vampirin blickte noch kurz in die Finsternis, bevor sie sich zu dem Callboy umdrehte. Ihre Bewegungen waren beinahe so anmutig wie die ihrer Schwester. „Willst du eigentlich nicht wissen, wieso ich zufällig zum richtigen Zeitpunkt vorbeigekommen bin?“

 

„Wäre direkt meine nächste Frage geworden!“

 

Kommentarlos kramte Sofia in ihrer Jackentasche, zückte einen Brief und reichte ihn dem Callboy.

 

Xylos Magen revoltierte, als er die Handschrift des Magnus erkannte. Gib den Schlüssel Sofia und Sofia allein!, hörte er den Sterbenden sagen. Hatte er vorher noch an Sofia einen Brief geschrieben? Kannte er die Verlockung des Schlüssels für Xylos? Die Verlockung, die Melanie für ihn darstellen würde?

 

Der Callboy spürte, wie seine Beine nachzugeben drohten, als er sich vorstellte, dass Magnus geplant hatte, ihm Melanie zuzuführen. Der Alte musste gewusst haben, dass Xylos nicht widerstehen konnte und sie zu einem Vampir machen würde. Wie musste Magnus gelacht haben, als er sich ausmalte, alles Sofia in einem Brief mitzuteilen und dem Callboy Melanie wieder wegzunehmen.

 

„Würdest du bitte lesen?“ Er konnte die Ungeduld in Sofias Worten hören. Nein! Hätte Sofia auch nur den Hauch eines Verdachtes, hätte sie auf mich geschossen, nicht auf Nemesis!

 

Xylos überflog die erste Seite. Sie enthielt nichts weiter als eine Entschuldigung und Erklärungen für Magnus Intrigen, die Sofias Erschaffung betrafen. Er war verblüfft darüber, dass Sofia ihn diese Zeilen lesen ließ; sie sagten mehr über ihr Vertrauen in ihn aus, als ihr vielleicht bewusst war.

 

Angestrengt starrte er auf die fein geschwungenen schwarzen Linien, damit Sofia nicht sah, wie sehr er sich über ihre Gunst freute, darüber, dass sie ihn mochte und ihn akzeptierte, obwohl sie ihn für einen frauenverachtenden Callboy hielt, der alles beglückte, was nicht bei Drei auf dem Baum war. Vielleicht würde sie ihn doch nicht erschießen, wenn sie hörte, dass es zurzeit ihre Zwillingsschwester war, die sich im Licht seiner Aufmerksamkeit sonnte.

 

Er drehte den Zettel um und fand genau zwei weitere Sätze, die ihrer Wichtigkeit nach nummeriert zu sein schienen: „1. Pass auf Xylos auf, er ist wichtig! 2. Gibt Joel jede Information, die er benötigt, sein Ziel ist die Unsterblichkeit.“ Jennifer Schreiner Honigblut

 

„Ich dachte, du kannst mir etwas dazu sagen!“, meinte Sofia, noch während Xylos das Blatt hin und her drehte, um zu kontrollieren, ob er etwas Wichtiges überlesen hatte, oder ob es eine geheime Nachricht gab.

 

Die Erleichterung, die er beim ersten Lesen gespürt hatte, war nach Sekunden verflogen und machte Verärgerung Platz. „Magnus kann froh sein, dass er tot ist!“

 

„Er ist tot?“

 

Xylos sah in Sofias himmelblaue Augen. Er konnte den Ausdruck in ihnen nicht zuordnen, glaubte aber neben Wut und Frust auch Erleichterung zu sehen. Immerhin hatte sie es dem Magnus zu verdanken, dass sie als Vampir in einem Sarg erwacht, beinahe Opfer von Mornas Zauberkünsten geworden war. – Und ihre Schwester ermordet. Zumindest glaubt sie das!

 

Xylos schloss die Augen, um gegen sein Gewissen zu kämpfen. Es wäre richtig, es ihr zu sagen. Aber es fühlte sich nicht richtig an! Es fühlte sich so an, als sei die Wahrheit das Falscheste, was er je gemacht oder gedacht hatte.

 

Vielleicht später, tröstete er seinen Verstand, wenn du die Nase von Melanie voll hast!

 

„Warum bist du wichtig, und warum ist Joels Ziel die Unsterblichkeit?“ Sofias Blick fing seinen ein und hielt ihn fest. Xylos hatte das ungute Gefühl, durchschaut zu werden.

 

„Oh Baby!“ Er gab sich Mühe, seinen Tonfall schmeichelnd klingen zu lassen. „Erstens, ich bin immer wichtig und zweitens: Vielleicht hat er sich verschrieben und meinte Sterblichkeit. Schließlich sucht Joel doch das Elixier der Sterblichkeit nicht das der Unsterblichkeit, oder?“

 

„Verschrieben!“, echote die Vampirin ungläubig und ignorierte geflissentlich Xylos erste Aussage.

 

„Genau, schließlich sind wir doch bereits unsterblich, oder?“

 

Sofias Blick irrte zu dem Haus, in dem sich die Vampir-WG befand. Kurz nach den Schüssen waren alle Lichter gelöscht worden. „Ja, nahezu!“ Ihre Stimme war so leise, als spräche sie nur aus Versehen einen Gedanken aus, der ihr gekommen war.

 

„Wollen wir?“ Er bot ihr seinen Arm zum Einhaken an und nickte in Richtung WG.

 

„Uh-oh!“ Sofia schniefte, als ihr der Geruch auffiel, der an Xylos hing. Weiblich und verlockend. Er roch nach Leidenschaft und Sex. Soviel zu seinem Schwur.

 

„Wer ist denn die Glückliche?“ Der Duft der Frau kam ihr bekannt vor, weckte Erinnerungen, die sie nicht einordnen konnte. An Fröhlichkeit und Geborgenheit. Dinge, die sie erst wiederentdeckt hatte, seit sie die magische Verbindung mit Edward eingegangen war. Einen Bund zwischen ihnen, der ihre Kräfte vervielfachte, der sie für die Emotionen und teilweise sogar für die Gedanken des anderen zugänglich machte, und der nur durch den Tod gebrochen werden konnte.

 

Nur wenige Vampire waren je diese enge Verbindung miteinander eingegangen, und lange Jahrhunderte war der Bund gänzlich verboten gewesen, denn durch ihn war Maeve wahnsinnig geworden. In dem Moment, in dem ihr Partner sich das Leben – den Untot! – genommen hatte. Danach hatte Morna die Existenz von Vampirinnen ausnahmslos verboten und die Ketten als Ausgleich geschaffen. Nicht einmal, um den Vampiren Macht über Frauen zu verschaffen, sondern um ihnen eine Alternative anzubieten. So konnten sie eine Frau zu ihrer Gefährtin in der Ewigkeit machen.

 

Der Bund war in Vergessenheit geraten, bis Edward ihn mit Sofia eingegangen war. Jennifer Schreiner Honigblut

 

Sofias prüfender Blick glitt über Xylos, und sie versuchte das Wissen, das sie durch den Bund mit Edward erhalten hatte, anzuwenden. Der Callboy mochte es noch nicht wissen, aber die Frau, mit der er sich zurzeit beschäftigte, faszinierte ihn. Diese Emotion strahlte so deutlich von ihm aus, dass sein Gesicht, obwohl es gleichzeitig unglaublich unschuldig und unglaublich schuldbewusst wirkte, seine berechnende Schönheit verloren hatte.

 

Sie war sich sicher, den Geruch schon einmal gerochen zu haben – doch nie in dieser Intensität – und das Wissen blieb direkt unterhalb ihres Bewusstseins, trieb auf den Wellen ihrer Vergangenheit und blieb unfassbar.

 

Xylos hätte unter Sofias argwöhnischem Blick am liebsten die Augen geschlossen. Er hätte sich denken können, dass sie den Geruch erkannte. Doch Sofia begriff offensichtlich nicht. Konnte mit ihrem vampirischen Geruchsinn, der wesentlich besser war als der eines Menschen, die neuen Informationen im Duft nicht ihrem alten Wissen zuordnen.

 

Jetzt kam es darauf an, die Antwort so zu formulieren, dass sie als Wahrheit zu erkennen war, und Sofia ihn trotzdem nicht erschoss. Er ließ seine Stimme ruhig und normal klingen, als er sagte: „Es war erst, nachdem ich Magnus gefunden hatte. Und du kennst die Vampirin nicht.“ Wahrheit.

 

Vampirin?! Sofia nickte und versuchte die Information zu verarbeiten. Sie hatte Xylos für intelligenter gehalten, für standhafter. Wenn er tatsächlich eine Frau zu einem Vampir gemacht hatte, musste es ihm ernst sein. Womit auch immer.

 

Trotzdem wurde Sofia das nagende Gefühl nicht los, etwas übersehen zu haben, während sie die vier Stufen zur Eingangstür hinaufgingen, und die drückende Melancholie sich schwer um ihre Person legte. Wie kann es sein, dass so viele junge Vampire auf einmal trübsinnig werden? Xylos wirkte nachdenklich, als lausche er auf den Kummer im Inneren des Hauses.

 

Der Callboy klingelte, doch im Haus antwortete niemand. Kein Geräusch war zu hören. Er ahnte, dass inzwischen Hasdrubal verständigt worden war – und mit ihm die Schatten.

 

„Siehst du, das hast du jetzt davon, dass du einen lockeren Zeigefinger hast! Die Leute haben Angst vor dir!“

 

„Immerhin lasse ich mich nicht von jedem dahergelaufenen Vampir finden!“, konterte Sofia.

 

„Autsch!“ Xylos spielte den Gekränkten. Doch Sofia war erfreut darüber, dass ihr endlich einfiel, was sie übersehen hatte. „Du solltest dein Handy ausmachen!“

 

„Mein Handy?“ Xylos starrte sie verwirrt an.

 

„Ja, und dir ein neues anschaffen, eine neue Nummer unter einem anderen Namen.“

 

„Mein Handy?“ Xylos versuchte einen Zusammenhang zwischen Nemesis Angriff, der Präsenz, Sofias Anwesenheit und der Niedergeschlagenheit der jüngeren Vampire herzustellen.

 

„Ja! Was denkst du denn, wie ich dich gefunden habe?“

 

Er starrte die Vampirin an, die bis vor Kurzem noch ein Mensch gewesen war. So also hat Nemesis mich aufgespürt – und der unbekannte Vampir?! Ein Plan formte sich in seinem Hirn. Er musste unbedingt mit Hasdrubal und Maeve sprechen! Jennifer Schreiner Honigblut