Kapitel 9

 

 

»Er hat dir tatsächlich geschrieben?«

»Ja«, sagte Donna in einem singenden Ton.

Michelle besuchte ihre Freundin in der Mittagspause im Copley Plaza Hotel. Sie hatte die SMS auf dem Handy erhalten und war sofort zu ihr geeilt.

»Das ist doch nicht möglich.« Michelle spürte Eifersucht aufkommen.

»Was soll das heißen?«

»Nichts. Sag‘ schon, was hat er dir geschrieben?«

Donna und Michelle saßen in der Hotelbar und bestellten sich einen Cocktail. Das war ein Grund um anzustoßen.

»Er ist ein unglaublich lieber und gefühlvoller Mensch, Michelle. Das kannst du dir nicht vorstellen.«

»Ja.«

»Seine Worte streicheln mich wie eine sanfte Brise. Und er ist so ehrlich und offen. Er erzählt mir so vieles, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen. Als ob wir uns schon Jahre kennen würden. Keine Floskeln, Michelle. Es ist tatsächlich so. Ich glaube ich bin verliebt. Verliebt, Michelle!«

»Du bist schnell und oft verliebt, liebe Donna. Das ist bei dir schon zu so einer Art Sport geworden. Du treibst diesen oft, innig, hast dabei aber einen großen Verschleiß an Mitspielern.«

»Schön hast du das gesagt, du ...« Donna sah ihre Freundin harsch an. »Nur weil du nicht den Richtigen findest, nimmst du mir immer die Freude, wenn ich verliebt bin.«

»Ja, rede du nur. Ich bin die Böse. Ist schon klar. Ich kann gerne gehen. Von dir degradiert zu werden, hab‘ ich nicht nötig.«

Michelle zog den Strohhalm aus ihren Cocktail und warf ihn hinter die Theke.

»Beruhige dich wieder, Michelle. Ich habe das doch nicht so gemeint. Ich bin einfach nur glücklich. Lass mich dieses Gefühl doch leben.«

Michelle sah Donna einige Zeit stumm an und überraschte sie dann mit einer unerwarteten Geste.

»Ich freue mich doch auch für dich.« Sie legte ihren Arm auf Donnas Schulter und drückte sie zu sich heran. »Wenn ich den Richtigen finde, dann wirst du dich sicherlich auch mit mir freuen ... auch wenn ich diesen Gedanken nach vierunddreißig Jahren aufgegeben habe.«

Donna erzählte Michelle wichtige Passagen aus Toms Brief und sie tauschten ihre Meinungen aus.

»Das Copley Plaza bezahlt Sie nicht für einen Plausch mit ihrer Freundin, Ms. Parrish«, sagte der Hotelmanager mit einem Lächeln.

Donna drehte sich um und sah, dass er lächelte.

»Ist schon gut, Ms. Parrish. War nur ein Scherz. Kommen Sie dann bitte in mein Büro, wegen der Einteilung in der Küche für diese Woche«, sagte er freundlich. 

»Danke. Ich bin sofort da«, sagte sie mit einem lieblich, verträumten Gesichtsausdruck.

 

Donna hatte sich extra eine Stunde früher frei genommen, um Julia einen lange versprochenen Wunsch zu erfüllen. Sie durfte sich in einem Kaufhaus mit einer großen Modeabteilung ein Kleid aussuchen. Das musst du von mir geerbt haben, Kleines, sagte ihr Donna. Julia war eine schwierige Kundin. Der Geschmack wie die Mutter, sagte die Verkäuferin.

Nach der Shoppingtour gingen sie noch zu McDonalds und Julia war rundum glücklich. Ich habe die beste Mom auf der Welt, flüsterte sie ihr ins Ohr. Danach gab sie ihrer Mutter noch einen dicken Kuss auf die Wange.

Auf dem Nachhauseweg wollte Julia mehr über das Liebesglück ihrer Mutter wissen.

»Denkst du, Mom, dass er sich in dich verliebt hat?«

»Na, übertreiben wollen wir es nicht, aber dieser Brief ist so ... ich finde schon keine Worte mehr. Es passt einfach so vieles, Kleines.«

»Kommt der uns auch mal besuchen?«

»Nicht so schnell. Aber er hat mich eingeladen, bei ihm ein Wochenende zu verbringen.«

»Machst du das, Mom?«, fragte Julia. Sie sah ihrer Mutter an, dass sie sehr glücklich war.

»Ich werde ihm jetzt erst mal auf seinen Brief antworten, dann sehen wir weiter.«

 

Der anstrengende Tag neigte sich dem Ende entgegen. Julia schlief tief und fest. Donna hatte endlich die zweite Stunde am Tag nur für sich, nach der Mittagspause, in der sie sich fit hielt immer Sport machte. Sie hatte sich dieses Leben nicht ausgesucht. Sie wurde hineingestoßen. Sollte das so bis an ihr Lebensende weitergehen?

Donna saß an ihren Schreibtisch und nahm ein erstes Stück Papier zur Hand. Die Zeit für Tom war gekommen. Sie sah, bevor sie den ersten Buchstaben schrieb, Tom Avellones Foto an. Er sah gut aus. So schön hatte sie ihn sich nicht vorgestellt. Er schrieb, dass er nur noch in Jeans und Pullover durch die Wälder zieht, auch das konnte seine natürliche Schönheit nicht schmälern. Er hatte kurze dunkelbraune Haare und eine gute Figur. Der körpernahe Anzug saß wie für ihn geschneidert. Sein Gesicht erzählte etwas und seine Augen riefen tiefe Verwirrung bei Donna hervor. Sie waren so unergründlich tief und schön. Die Augenfarbe konnte sie nicht erkennen, aber vielleicht hatte sie dazu ja später noch Gelegenheit. Sie nahm den Stift zur Hand.

 

Tom!

 

 

 

Was soll ich Dir nur schreiben? Oh weh, in meinem Kopf geht es ziemlich chaotisch zu. Was bist Du nur für ein interessanter, schöner und anziehender Mensch. Ich glaube, mit Dir könnte ich Gespräche führen bis zur Bewusstlosigkeit, lachen bis ich explodiere, schreiben bis mir die Finger bluten. Ohne Dich je leibhaftig  gesehen zu haben, breitet sich so ein seltsames Glücksgefühl in mir aus. Ich kann nur sagen: „Wahnsinn!“

 

Ich wusste, es gibt Dich. Wie könnte ich es sonst denken? Kennst Du Freuds Psychoanalyse? Man geht davon aus, dass jeder Trieb im Menschen die Rückkehr in seinen alten Zustand anstrebt. Demnach müsste dies beim Liebestrieb bedeuten, dass eine lebende Substanz, die mal eine Einheit war, aber zerrissen wurde, die Wiedervereinigung anstrebt. Ich finde das sehr interessant.

 

Denn alles ist Energie, wir, um uns und in uns. Bist Du ein Teil „unserer“ Substanz? 

 

Durch Zufall las ich Deinen Brief. War es wirklich ein Zufall? Zwei Menschen mit großem Lebenshunger, die ihre Seele bewusster und intensiver entdecken wollen. Wir streben, wie es scheint, nach parallelen Dingen, und das Schicksal hat uns wohl zusammengebracht.

 

Ein Satz (na ja, eigentlich fast alles) in deinem Brief hat mir besonders gut gefallen. „Das Gefühl zu spüren, wir sind ein Team, im Leben und fürs Leben.“

 

Ja, zur Zweisamkeit gehört auch Freiheit, aber auch Toleranz und Vertrauen. Es ist schön sich sehr nahe zu sein. Dennoch ist jeder sein eigenes „Ich“. Ein eigenes Bewusstsein, ein Individuum eben. Ich verabscheue die Männer, die nicht mehr los lassen. Dann fühle ich mich bedrängt, und ich werde wütend. Zwar finden es viele reizend, wenn ich wütend bin, aber dann rette sich wer kann. Solche Menschen geben sich selbst auf, sind nur noch in „Deiner Welt“ glücklich und dann habe ich das Gefühl zu ersticken. So, als wenn man mir jeden Atemzug raubt. Dabei ist doch jeder für sich ein ganz geheimnisvoller Planet und dort sollte man suchen und entdecken.

 

Ich bin von niemandem der Besitz, aber gerne bereit zu teilen.

 

Sehr wichtig ist mir auch das Vertrauen. Egal, wie verrückt oder verworren etwas aussehen mag, ich würde geschenktes Vertrauen nicht enttäuschen.

 

Probleme, Fehler und Eigenarten: Ohne dies wäre kein Salz in der Suppe, nichts zu bewältigen, zu hoffen, zu streben. Es wäre langweilig. Fehler sind zum Lernen da und nun mal dazugehörend. Außerdem können manche Eigenarten so glänzend schön sein wie pures Gold.

 

Ungeheuer amüsant finde ich auch, wie Du Deinen Gedanken freien Lauf lässt. Das „Kaminfeuer – Decke – Liebe genießen – ...“, einfach wunderschön von Dir!

 

Ich finde Dich ... ? Hmm, ich glaub‘ für Dich muss ich erst noch ein besonderes originelles Wort finden. Ein sehr, sehr liebes!

 

Du bist das, wonach mein Herz lechzt. All die Dinge die Du schreibst, würde ich Dir nicht nur bestätigen. Nein, mir fällt auch noch so verdammt viel dazu ein. Du hast auch diese Art an Dir, die ich an mir wieder erkenne. Aus Dir strömt so ein intensives, strebendes Gefühl voller Romantik und Tiefe. Die Worte mit denen Du Dich mir mitteilst sind so ergreifend. Du wirst sicherlich ein toller Schriftsteller, aber vor allem bist Du wohl ein unglaublich lieber Mensch!

 

Trotz der Faszination „Dich“ wohl gefunden zu haben, gibt es noch eine sehr wichtige Angelegenheit, die ich Dich unbedingt wissen lassen muss. Vielleicht verliere ich Dich jetzt, bevor sich je etwas entwickelt hat.

 

Ich habe eine zehn Jahre alte Tochter und sie heißt Julia. Bisher war dies noch nie ein Problem. Doch es soll Männer geben, die damit nicht zu recht kommen.

 

Ich hoffe, Du gehörst nicht zu diesen Männern. Dann wäre ich natürlich sehr enttäuscht, dennoch müsste ich es akzeptieren.

 

Es wäre aber auch interessant einen „guten Freund“ gefunden zu haben.

 

Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass wir ein sehr schönes, außergewöhnliches, verrücktes und von vielen beneidetes Paar sein könnten. Jeder mit viel Fantasie und Abwechslung im Kopf. Wir würden uns gegenseitig noch viel lebendiger machen.

 

Jetzt heißt es abwarten. Abwarten, wie Du auf mein Kind reagierst. Wenn die Einladung zu Dir dann immer noch gilt, komme ich gerne. Alleine natürlich.

 

Ich lebe in Boston, wie Du weißt, und Du im kleinen Mackville in Vermont. Ich habe eine Bekannte in Harvard gefragt, das sind rund dreihundert Meilen. Damit ist die Strecke zwischen uns kein großes Problem. 

 

In Kürze geht der Zeiger meiner Wanduhr auf zwölf vor. Zeit zum Schlafen.

 

Nun Tom, wie immer Du Dich auch entscheidest, lass es mich wissen. Doch ich denke weiter positiv.

 

Wenn das Spiegelbild Deiner Seele Dir zulächelt, werden Vorstellung und Realität miteinander verschmelzen.    

 

 

 

In diesem Sinne, liebe Grüße,

 

Donna

 

 

Donna fühlte sich während des Schreibens wie eine vierzehnjährige Highschool-Schülerin, die einen Brief an ihre erste Liebe verfasst. So ein glückliches Gefühl machte sich bei jedem Wort breit, dass sie zu Papier brachte. Es war so schön mit Tom zu sprechen.

Blätter treiben im Wind
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