Kapitel 2

 

 

10 Jahre später

 

Sie hatte es ihr schon lange versprochen. Der Flug war zwar nicht billig, aber für ihre Tochter Julia würde sie ihr Leben geben.

Sie war der Mittelpunkt in ihrem Leben. Sie war die Blume, die das ganze Jahr über blühte. In jeder Minute, in der sie nicht da war, fragte sie sich, was sie gerade tat. Hoffentlich passierte ihr nichts. Sie könnte es sich nie verzeihen.

Sie überholten zu meist Wohnmobile mit Familienvätern und Männern über sechzig am Steuer. In den Wintermonaten würde man sie Snowbirds nennen, weil sie der Kälte des Nordens entflohen. Jetzt, am Wochenende vor Labor Day, war es nur die Anhäufung von Urlaubern. Sie wollten die Tage ihren Liebsten gönnen, und in die Welt der monumentalen Magie, Hexerei und unglaublichen Erscheinungen eintauchen.

Sie hatten sich einen Honda gemietet und starteten von Las Vegas aus. Donna war nicht glücklich über die anstrengende Fahrt, doch entschädigten sie die Zwischenstopps am Lake Mead und den vielen Plateaus. Sie sahen, wie aus Hitze, Kälte, Wind und Wasser, die die Baumeister dieser charakterreichen und weitläufigen Landschaft waren, zwischen tief eingeschnittenen Flusskehren eine prächtige und mit dem Namen der Unvergänglichkeit getauften Felswildnis aufragen.

Wenn Donna nicht Joshua im Copley Plaza kennen gelernt hätte, dann hätten sie zu Hause in Boston bleiben können. Joshua war ein weit entfernter Verwandter eines noch lebenden Havasupai-Indianers. Er hatte es ihnen ermöglicht, dass sie an diesem Wochenende Maultiere und Pferde zur Verfügung gestellt bekamen, damit sie den Kraft raubenden Ritt in den Havasu Canyon antreten konnten. Vor einem Feiertag war das Gebiet um den Grand Canyon ausgebucht. Wenn man eine Wanderung mit Führer und Maultier durch die Steinwüsten unternehmen wollte, dann waren Planungen von mindestens einem halben Jahr nötig, um diese in die Tat umzusetzen.

Joshua sah Julia in die Augen ... und da war es um ihn geschehen. Er machte einige Anrufe, und tatsächlich sollte seine Nachricht bis in das Tal des Havasu Canyon gelangt sein. Dort, wo das Leben noch von jahrhundertealten, überlieferten Traditionen bestimmt wurde.

Julia sah sich immer die bunten und mit vielen Fotos bestückten Bildbände vom Grand Canyon an, die ihr Donna gekauft hatte. Sie wollte dort unbedingt hin und auf den großen Felsen stehen, wie sie die Plateaus nannte – und noch an einen anderen Ort. Nach einem vollen Tagesritt und Temperaturen von bis zu 40 Grad, dem Passieren von gefährlichen Abhängen, langen und steilen Pfaden und dem kurzen Dank im Dorf der Havasupai-Indianer hatten sie es geschafft. Vor ihren Augen zeigte sich schier Unglaubliches. Es hatte sich angedeutet, doch wirklich wahr haben konnten sie es erst jetzt. Bilder in Büchern hatten sie sich angesehen, ja, aber dass zwischen der spröden Kalksteinwüste solch ein Paradies auf sie warten würde, das wurde erst jetzt Wirklichkeit.

Vorbei der Staub, unterbrochen die Weite, gestohlen das Herz des Canyons. Sie waren angekommen in einer Oase der Stille und der Ausgeglichenheit, die durch das Rauschen des Wassers friedlich untermalt wurde. Inmitten der roten Felswände, am Havasu Creek, reichte ein Naturidyll dem nächsten die Hand. Nicht nur der Duft des frischen Grases, das leuchtete, wie als ob Sterne am Himmel auch am Tag hell ihren Schein in dieses Tal schickten, sondern auch der Anblick der Pappeln, Ahorn- und Obstbäume und die in kurioser Schönheit gewachsenen Büsche besänftigten die Seele und erfreuten das Herz.

Sie machten Halt, im Land des blaugrünen Wassers. In unmittelbarer Nähe des kristallklaren Baches tummelten sich Kormorane, Eisvögel, Kolibris und zahlreiche andere Vogelarten.

Donna bestand darauf, die nächsten dreißig Stunden mit Julia alleine zu verbringen. Der Führer ritt murrend weiter ins Indianerdorf Supai, in dem er übernachten, und sie morgen wieder abholen würde. Er mochte es nicht, wenn Urlauber allein ihre Wege gingen. Doch Donna war sehr überzeugend in ihren Ausführungen. Das Zelt, in dem sie schlafen würden, hatte Julia auf ihr Pferd geschnallt bekommen. Donna und ihr Pferd waren für den Proviant zuständig.

Rundherum erstreckten sich Felswände bis zu achtzig Meter in die Höhe. Nur links von ihnen war es anders. Sie sahen dort keine kahle Felswand, die über Jahrtausende hinweg zu dem wurde, was sie heute ist. Es war wie ein Leuchten eines Spiegels, wenn Licht darauf fällt. Es war Wasser. Wasser, das aus dreißig Metern tosend in die Tiefe stürzt und sich in einem großen, natürlichen Becken sammelte. Sie standen am Rande des grün funkelnden Baches und ließen ihre Gedanken schweifen. Es fielen ab, die Sorgen und Ängste, die sie in Boston Tag für Tag ausstanden. Hier, am Havasu Creek, war die Welt anders, sie war friedlich und gab einem das Gefühl geliebt zu werden. Julia wusste, dass Donna alles für sie geben würde. Julia sah hoch. Sie sah in Donnas Augen, und spürte das erste Mal seit langer Zeit so etwas wie innere Zufriedenheit aus ihrem Blick sprechen. Ach, sie liebte sie so sehr. Sie sah in die Augen ihrer Mutter.

Donna erinnerte sich wieder an die ersten Tritte gegen ihre Bauchdecke. Sie streichelte darüber und sprach mit ihr. Oft antwortete sie mit einem weiteren Tritt. Die Geburt verlief mit einigen Komplikationen, aber, als sie Julia in Händen hielt, wusste sie: Julia ist mein rettender Engel.

Sie fühlte das erste Mal in ihrem Leben wahre Liebe. Ihr Onkel liebte sie anders. Julia konnte sie mit einfachen Gesten oder einer ihrer vielen gekonnten Arten zu Lächeln so viel bedeutende und uneingeschränkte Gefühle des Glücks vermitteln, wie das nie jemand anders schaffen würde.

Julia hatte ihr nun zehn Jahre gemeinsames Leben geschenkt. Es waren trotz aller Entbehrungen, Hindernissen und Niederschlägen die schönsten Jahre ihres Lebens.

Der brennende Tag hatte sich gen Ende geneigt und ein lauschig warmer Abend stand bevor. Donna hatte das silberfarbene Zelt neben dem Bach mühsam aufgebaut. Unweit von ihnen war eine Holzbrücke mit Geländer zu sehen; nach deren Überquerung war es nicht mehr weit nach Supai. Neben dem Zelt war eine Pappel zu sehen. Ihre Äste waren bereits morsch. Einige Meter weiter rauschte einer der Havasu Falls in die Tiefe. Am Fuße des Falls, in dem natürlich geschaffenen Becken von der Größe eines kleinen Swimmingpools, hatten Julia und Donna zuvor ein Bad genommen. Es fühlte sich an, als ob sie in einem Whirlpool sitzen würden. Das Wasser schäumte und massierte alle Stellen der Haut auf ungewöhnliche Art. Mitten in der Wüste in einem erfrischend kühlen Whirlpool zu baden war ein sagenhaftes Erlebnis. Wer es nicht selbst sah, würde es kaum glauben.

Sie spielten wie Geschwister. Sie bespritzten sich mit dem klaren Wasser und schnitten dabei lustige Grimassen. Dabei mussten beide lachen. Sie genossen die Ausgelassenheit des Moments. Danach ließen sie sich einfach nur in dem natürlichen Becken treiben. Donna dachte an all die schweren Jahre zurück. Jetzt war sie vierunddreißig. Sie hatte nur Julia, aber sie wollte die Jahre über nie mehr. Julia füllte ihr Leben aus. Sie musste hart arbeiten, im Copley Plaza Hotel, dass sie sich und ihre Tochter den Unterhalt finanzieren konnte. Eigene Vergnügungen, so wie dass vor Julias Geburt selbstverständlich war, hatte sie sich seitdem nie mehr geleistet. Die Reise in das Gebiet des Grand Canyon war endlich wieder ein Geschenk an sie selbst und an ihre Tochter.

Julias Vater, Maurice, konnte für sie nie diese Liebe aufbringen, die nötig gewesen wäre. Er sah sie als Beiwerk – zur Liebesbeziehung mit Donna –, aber nie als festen, wichtigen und den größten Bestandteil ihrer Liebe an. Doch dann passierte das, was Donna hoffte, nie wieder erleben zu müssen.

Der Führer hatte gesagt, dass sie in diesem Paradies nur ein kleines Feuer machen dürften. Donna hielt sich an die Anweisungen. Die Nacht hatte ihre Flügel über den Havasu Creek ausgebreitet. Einzelne Sterne funkelten am Himmel und der laue Wind spielte in den Bäumen und Büschen Melodien der Unbeschwertheit. Zwischen dem vielen Grün um sie herum waren vereinzelte Stellen mit rotem Sand. Dort hatte Donna das Feuer entzündet. Die Schatten der Flammen erschufen viele verschiedene Figuren auf ihren Gesichtern. Ihre Haare waren wieder getrocknet, obwohl das bei Donna schwieriger war. Sie saßen sich gegenüber, jeder auf einer warmen Decke als Untergrund.

»Mom, du weinst ja« , sagte Julia. Sie sah in die glasigen Augen ihrer Mutter.

Donna wischte sich mit dem Ärmel ihres weißen Sweatshirts die Tränen aus dem Gesicht. Der Tag, die Stunden, jetzt der Augenblick; alles war so überwältigend. Sie zog ihren braunen Rucksack – der natürlich auch bei dieser Reise nicht fehlen durfte – zu sich heran und griff hinein. Sie wollte Julia etwas zeigen.

Donna zog die Hand wieder heraus. Sie sah ihre Tochter an.

Julia hatte strahlende kastanienbraune Augen und dunkelbraune, schulterlange Korkenzieherlocken. Und sie war ein glückliches Mädchen. Donna und Julia lachten und freuten sich über vieles, auch wenn sie wenig besaßen.

»Ist nicht schlimm, mein Liebes. Nur der Tag ... es war so schön mit dir. Und das alles erleben zu dürfen, in diesem Garten Eden ... ich bin so glücklich ... ich lieb‘ dich, ganz, ganz fest, Julia

Julia stand auf, ging um das Feuer herum zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss. »Das weiß ich doch, Mom. Ich lieb‘ dich auch über alles auf der Welt« , sagte Julia strahlend.

»Was wolltest du denn gerade aus dem Rucksack holen

Donna Parrish lächelte nur.

Blätter treiben im Wind
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