Kapitel 4

 

 

Tränen standen in ihren Augen. Wie konnte ein Mann nur solch Gefühle zu Papier bringen? Anne schniefte, und ließ sich von Michelle den Brief wiederholt geben. Sie las ihn jetzt bereits zum vierten Mal.

Michelle weinte weder im Kino noch bei Romanen, doch bei diesem Brief vergoss auch sie Tränen. Er war so ehrlich ... nicht von einem Drehbuchautor geschrieben ... er verkörperte die wahrhaftige Liebe. Die drei Freundinnen saßen in Donnas Wohnzimmer. In der Mitte standen sich zwei Sofas mit blauem Stoffbezug gegenüber. Ein Holztisch, einige Regale und ein Schreibtisch – für den Computer – aus dem Versandhauskatalog komplettierten die Einrichtung. Donna hatte lange gespart, für diese einfache Einrichtung.

Michelle arbeitete in der Anwaltskanzlei ihres Vaters. Sie lebte und liebte den Luxus. Bei Donna fühlte sie sich immer zurückversetzt, in ihre Zeit an der Uni. Dort wohnte sie auch so.

Sie trauten ihren Augen nicht. Donnas Augen wurden feucht umrahmt. Weinte sie tatsächlich – vor ihnen!

Donna legte den ausgedruckten Liebesbrief auf den Couchtisch, neben die Vogue und die Sports. Sie begannen zu analysieren.

»Ich denke, der Brief gilt seiner großen Liebe, die er an einen anderen Mann verloren hat«, sagte Anne.

»Wenn du recht hast, Anne, dann ist sie, entschuldigt jetzt, ganz schön dumm. Man verlässt doch nicht solch einen gefühlvollen und so hoffnungslos romantischen Mann«, sagte Michelle und sah auf den Brief.

»Einen Streit hatten sie nicht, davon schreibt er zumindest nicht.«

»So kenne ich dich ja gar nicht. Stehst du plötzlich auf so viel Romantik?«, fragte Anne.

Michelle schlug die Beine übereinander. Sie sah elegant aus in ihrem Designerkostüm.

»Ich habe bis jetzt nur plumpe Anmachen von Männern über mich ergehen lassen müssen. Aber wenn mir ein Mann sagt, er liebt mich auch mit meinen vielen Fehlern, aber auch wegen meiner Stärken, dann würde ich zerfließen wie Honig.«

Donna hörte sich ihre Freundinnen an, wie sie versuchten hinter das Geheimnis von Tom Avellone zu kommen. Was war er nur für ein Mann? Was verbarg sich hinter den Zeilen des Liebesbriefes?

»Kinder, Kinder. Ihr redet von dem Mann, als ob er euch in Kürze die Kleider vom Leib reißen wird, und ihr dann ...«

Michelle lächelte. »Das wäre keine schlechte Idee. Aber, hören wir auf damit. Wenn ich die Frau wäre, und er würde mir jetzt noch mal eine Chance geben, würde ich sofort zu ihm zurückkehren ... er muss ein so liebenswürdiger Mensch sein.« Das so zog sie unendlich in die Länge.

Donna sah Michelle von unten herauf mit einem finsteren Gesichtsausdruck an. Sie spürte einen Funken springen. Einen Funken der Eifersucht. Was bist du nur für ein Dummchen!

Donnas Gesichtszüge hellten sich wieder auf.

»Da kann ich dir nicht widersprechen, Michelle. Wer solch zarte und einfühlsame Worte schreiben kann, die, wie unschwer zu erkennen ist, direkt aus dem Herzen kommen, der muss einfach ein liebenswürdiger Mensch sein ... ein liebenswürdiger Mann sein.«

Julia kam zur Wohnungstür herein. Sie trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck einer Boygroup und Jeans. Sie sah glücklich aus.

»Hey Girls!«

Michelle und Anne begrüßten Donnas Tochter mit der üblichen Anrede.

»Hey Babydoll!« Sie hatten ihr den Namen gegeben, da ihr Gesicht so zart und unbescholten wie das einer Puppe war.

»Ich dachte, du bist mit Erica zusammen. Ihr wolltet doch bei ihr den Bericht über eure Chorsänger ansehen.« Donna nannte die Lieblingsgruppe ihrer Tochter Chorsänger, da sie nur fünf Jahre älter waren als Julia.

Erica wohnte einen Block weiter. Sie war Julias beste Freundin.

»Werd‘ ich auch, Mom. Wir waren nur gerade bei Justin. Der ist nämlich süß, musst du wissen. Ich hol mir nur schnell Saft und ein paar Schokoriegel aus dem Kühlschrank, dann bin ich auch schon wieder weg«, sagte Julia und ging in die kleine Küche.

Einige Sekunden später kam sie bepackt mit Orangensaft und Schokoriegeln zurück und verschwand mit einer kurzen Verabschiedung aus der Wohnung.

»Fängt deine Tochter auch schon an, was?«, fragte Anne. »Meine Große sieht auch schon den Kerlen nach.«

Donna schmunzelte. »Kinder ...«

Donna ging zu ihrem Schreibtisch und holte aus dem oberen Schub eine Karte von Vermont hervor, danach setzt sie sich wieder aufs Sofa.

»Bevor ihr gekommen seid, war ich nicht untätig. Ich suchte verzweifelt den Ort Mackville.«

Michelle sah Donna erstaunt an. »Du hättest doch online suchen können.«

»Ich wollte die Strecke aber nicht ausdrucken, da ist mir eine Karte um einiges lieber.«

Michelle nickte.

»Es dauerte dann ein bisschen, bis ich Mackville auf der Karte gefunden habe. Aber da ist es.«, sagte Donna und deutet auf einen winzig kleinen Punkt auf der Karte.

»Mackville liegt im Caledonia County. Ein kleines Städtchen im Herzen von Vermont. Online habe ich dann auch noch versucht etwas über Tom Avellone zu finden. Fehlanzeige. Außer ein paar Erwähnung über sein früheres Geschäft. Dann habe ich versucht eine Telefonnummer eines Ladens herauszufinden, wo ich anrufen kann um dort nachzufragen, ob ein Tom Avellone bei ihnen im Ort wohnt.«

Donna deutet auf die Nummer auf der Innenseite der Vermont-Karte. Dort hatte sie die aufgeschrieben, die ihr am vielversprechendsten klang.

»Und, hast du schon dort angerufen?«, fragte Anne neugierig.

»Noch nicht, aber das werden wir jetzt sofort nachholen.«

Die Telefonnummer gehörte zu einem kleinen Drugstore. Der einzige in Mackville. Donna wählte die Nummer.

Es meldete sich eine barsche Männerstimme.

»Hallo, mein Name ist Donna Parrish, und ich bin auf der Suche nach einem gewissen Tom Avellone. Dieser müsste in ihrem kleinen Dorf wohnen.« Donna wartete auf eine Antwort – vergebens. »Können Sie mir da irgendwie weiterhelfen?«

»Nein.«

Das war alles. Sie hatte gehört, dass die Vermonter kurz angebunden waren und selten mehr als zwei Wörter benötigten, um eine Frage zu beantworten. Und tatsächlich hatte sie es auch nicht erwartet. Auch bei den anderen Stellen, die sie anrief, wurde sie mit vier, fünf Wörtern abgespeist. Es erwies sich nicht als einfach, mehr über Tom zu erfahren. Besonders ob, und wenn, wo er in Mackville wohnte.

Es vergingen einige Sekunden in denen Donna nur das mürrische Atmen ihres Gegenübers aus der Sprechmuschel hörte.

Michelle und Anne saßen ihr gegenüber. Sie machten fragende Gesichter.

»Was is‘ nun?«, flüsterten sie.

Donna ergriff wieder die Initiative. »Können Sie mir vielleicht jemand anderen geben, der mir weiterhelfen könnte?«

»Warten Sie.«

Donna hörte im Hintergrund Getuschel, bis sich dann eine helle und überaus freundliche Stimme meldete.

»Hey, hier ist Shawn. Wie kann ich Ihnen helfen, Ms. ...«

»Parrish. Donna Parrish. Ich bin auf der Suche nach einem gewissen Tom Avellone. Können Sie mir sagen, ob er in Mackville wohnt?« Sie wartete gespannt auf eine Antwort.

»Wer sagt, dass er hier wohnt?«

»Eine Antiquitätenhändlerin aus Washington, D.C.«

»Aha! « Shawn war überrascht. »Sind Sie eine Geldeintreiberin?«

Donna musste laut auflachen. Ihre Freundinnen wunderten sich. »Nein. Nein. Ich hab‘ andere Gründe, die mich diesen Mann suchen lassen. Sie liegen tief im Verborgenen, wenn Sie verstehen.«

Shaw dachte, er wisse was Donna antrieb, warum sie Tom suchte.

»Er will von Frauen nichts mehr wissen!«, sagte er schnell und knallte den Hörer auf die Gabel.

Donna war überrascht. Was hatte sie denn gesagt? Sie gab nicht auf. Sie rief die Nummer nochmals an.

»Shawn Lambert, ja! « Die Stimme klang immer noch erregt.

Donna versuchte in einigen Sätzen zu schildern, warum sie Tom suchte. Sie log. Notwendigerweise.

»Warum denken Sie, ist er hier zu uns gezogen? Um endlich Ruhe zu haben. Zu oft wurde ihm sein Herz gebrochen. «

»Das hab‘ ich nicht vor. Ich möchte nur seine Adresse, dass ich ihm einen Brief schreiben kann. Mehr will ich nicht. Ich will ihm nur ein paar einfache Zeilen schreiben. Er braucht mir auch nicht zu antworten, wenn er nicht will. Das ist doch kein Verbrechen, oder Shawn?«

Donnas Herz raste. Natürlich hoffte sie auf eine Antwort. Nichts zählt mehr, als eine Antwort dieses unbekannten, gefühlvollen Schreibers.

Er schwieg.

»Shawn?«
»Ich bin noch da. Haben Sie einen Stift zur Hand?«

Blätter treiben im Wind
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