Prolog

 

 

Es gibt intensive Momente, die in Gefühlen erblühen wie ein Rosenstrauch. Dies hier war einer davon. Welch Folgen solch ein Rausch nach sich ziehen kann, stand in den Blättern der Bäume geschrieben. Die Blätter blühen saftig, sie verfärben sich farbenfroh, sie verabschieden sich traurig, bevor sie wiederkommen, und erneut so kräftig erblühen, als wären sie niemals weg gewesen.

Donna wischte sich Tränen aus dem Gesicht. Sie hatte lange nicht mehr geweint. Für wen war der Brief bestimmt? Wer war T.?

Der Himmel zeigte sein freundlichstes Blau. Die Ulmen, Eschen und Eichen färbten sich Blatt für Blatt in die Farben des Herbstes. Das Gras, auf dem Donna saß, blühte noch in saftigem Grün. Der Public Garden war ein Ort des Friedens. Unweit von ihr zog sich eine kleine viktorianische Brücke über ein Gewässer. Das verspielte blaue Geländer, welches die Brücke zierte, war auf beiden Seiten von hohen Steinsäulen unterbrochen. Auf ihnen waren verzierte Metallstangen befestigt, die eine runde, weiße Kugel aufgesetzt hatten. Sobald der Abend Einzug hielt, spendeten sie den Besuchern des Parks freudiges Licht. Auf der Brücke befand sich ein älteres Liebespaar. In ihren Augen war abzulesen, dass sie in weitaus höheren Sphären schwebten – immer noch.

Im leisen Wind, der sie umgab, gingen ihr die Bedeutungen der aufs Papier gedruckten Worte nicht aus dem Sinn. Es waren so schön gewählte Worte. Nur in tiefstem Herzen konnten solch Gefühle geboren werden. War er noch verliebt in diese Frau? Wie konnte der Brief nur auf die Seiten ihres Internet-Buchhändlers gelangen? Donna war verwirrt. Sie sah auf ihre Armbanduhr. Zum wiederholten Male nahm sie nun den Brief zur Hand und las ihn.

 

Ein Liebesbrief

 

 

 

Ich liebte Dich, von dem ersten Augenblick an, als ich Dich sah.

 

Ich liebte Dich, wenn Du mir mit Deinen erfrischend betörenden und kindlich kullernden Blicken den Atem und somit die Sprache raubtest. Ich liebte Dich, für Deine schön gewählten und ergreifend tiefgehenden Worte, die mein Herz erbeben ließen.

 

Ich liebte Dich, wenn Du mich mit Deinen unwiderstehlich verrückten und zärtlich liebevollen Gesten zum Lachen und zum Weinen brachtest.

 

Ich liebte Dich, für Deinen lieblich magischen und leidenschaftlich betörenden Duft, der gerade jetzt und in jeder Sekunde meines Lebens an mir vorbeizieht, wie ein Feld voller Blumen, in das ich unendlich gerne eintauchen möchte.

 

Ich liebte Dich, wenn Du wie ein verwuscheltes Eichhörnchen neben mir aufwachtest, das im Traum die Äste nach neuen Geschichten absuchte, und sie mir in unvergleichlicher Form sofort erzählen musste.

 

Ich liebte Dich, wenn Du, so hilflos tollpatschig und zugleich zum Verlieben schön, sämtliche Dinge in Scherben legtest, und darüber nie Dein Lächeln und Deinen Humor verlorst.

 

Ich liebte Dich, wenn Du nach einem Glas Wein Dinge sagtest, die Dir am nächsten Tag zutiefst peinlich waren, und Deine Wangen sich sanft in die Farbe eines unvergesslichen Sonnenuntergangs verfärbten.

 

Ich liebte Dich, für Deine innerliche und äußere Stärke, mit der Du Menschen mit falschen Behauptungen, irreführenden Bemerkungen und bitterernsten Äußerungen beeinflussen und sogar verändern konntest.

 

Ich liebte Dich, für Deine Gabe, mit wenigen Worten aufbrausende Kinder in ein friedvolles Schweigen zu legen und traurige, ältere Menschen mit einem alles umarmenden Lachen wieder Kraft zu geben.

 

Ich liebte Dich, wenn Du das getan hast, was Du lange Jahre getan hast: nämlich leben! Mit mir, für uns und für die ganze Welt.

 

Ich konnte es damals spüren. Tief in mir drin konnte ich es spüren, Du hattest keinen anderen Ausweg. Doch meine Hoffnung, auch wenn sie noch so tief in einer Schlucht festgehalten wurde, ruhte auf einem festen, aus Liebe gewachsenen, Sockel. Doch nun, Jahre später, ist es so schwer wie die Last von zwanzig Maultieren, die auf meinen Schultern ruhen, weil ich nicht begreifen kann, warum Du es tatest. Aus den düsteren Stürmen und dem tiefen Dickicht hätte es Wege gegeben. Finden, ja finden hätten wir sie können. Aber nur zusammen – nicht allein.

 

Jetzt wo ich hier sitze, Tag für Tag, verrinnen die Sekunden, wie die Minuten, so auch die Stunden wie quälende Schmerzen, die ich zu ertragen bald nicht mehr im Stande bin. Ich bin gefangen von der Zeit. Das unbezahlbare und nie wieder kommende Gut der großen Liebe hält mich gefangen. Aus dieser Haft will ich entfliehen, jetzt, wo ich Dir schreibe, und ich weiß, dass Du nie lesen wirst, was meine Herz, meine Gedanken, mein Ich mir befahl auszusprechen: Ich liebe Dich, jetzt und für alle Ewigkeit.

 

 

 

T.

 

 

Donna Parrish weinte wieder. Nur Einzelne sahen zur ihr herüber, wie sie das Gras mit ihren Tränen tränkte. In einem Augenblick nachdenklich, im anderen überglücklich sah sie in die Gesichter der Menschen und der Natur. Die Natur erwiderte ihr Lächeln, die Menschen nicht. Nur wenige würden nachempfinden können, was sie gerade fühlte.

Sie faltete den ausgedruckten Brief wieder sorgsam zusammen und steckte ihn in ihren Rucksack. Ihre Freundinnen fragten sie immer, warum sie dieses alte hässliche Ding nicht endlich in den Müll gebe. Sie musste Michelle und Anne in ihrer feinen Garderobe dann immer belächeln. Sie konnte mit ihnen gut über alltäglichen Klatsch reden, doch wirklich wichtige Dinge ließ sie weiter in ihrem Herzen schlummern. Ihr dunkelbrauner, mit hellen Ziernähten abgesetzter und über die Jahre hinweg reichlich zerknitterter Rucksack war etwas, über das sie nicht sprechen wollte. Es war ein Geschenk ihres Onkels, der in einer Person mehr Familie darstellte, als ihre leiblichen Eltern das jemals getan haben.

Donna streifte mit den Händen über das Gras und freute sich immer wieder daran, wie viele Zufälle es doch auf einmal brauchte, damit solch ein Glücksfall eintrat. Das Gras kitzelte auf ihren Handflächen. Diesen Brief dort zu finden, war eigentlich nicht möglich. Sie suchte etwas Bestimmtes, und fand dies: Worte der Liebe, des Herzens, der Sehnsucht und des Schmerzes. Sie kannte all diese Empfindungen nur zu gut. Oft traf sie der spitze Pfeil des Schmerzes, die lastenden Stunden der Sehnsucht, das dramatische Pochen des Herzens. Nur Worte der Liebe durfte sie bis jetzt nie vernehmen. Natürlich, das ein oder andere wurde ihr schon gesagt – es entsprach aber nie der Wahrheit. Einmal fühlte sie das Glück, welches durch Liebe entstand, doch andere Mächte hatten Einwände gegen eine Verbindung fürs Leben. Vielleicht war es besser so, denn er sagte nie: Ich liebe Dich! Mit diesem Satz versuchte sich Donna dann immer zu trösten, aber es gelang nur selten. Sie nahm lange Zeit, was sie kriegen konnte. Doch auch dafür, für einen berechtigten Rachefeldzug, wurde sie bestraft.

Sie schnallte sich ihren Rucksack auf die Schulter. Er war leicht. Nur der Brief und die Kleidung für ihre Arbeit waren darin. In einer Stunde würde ihre Arbeitszeit wieder beginnen. Es blieb noch Zeit zu träumen. In der High School, als sie von ihrer Sitznachbarin eine richtige Antwort erhaschte, freute sie sich, wie sich alle freuen, wenn ihnen so etwas gelang. Nun hatte sie wieder eine richtige Antwort erhascht. Eine Antwort, auf so viele offene Fragen in ihrem Leben. Sie glaubte an das Schicksal, und als sie gestern auf den Seiten ihres Internet-Buchhändlers diesen Brief fand, empfand sie das als Zeichen. Sie hatte lange warten müssen. Sollte sie in Erfahrung bringen, wer T. war, dann würde sich ihr ganzes Leben verändern – nur wusste sie das nicht.

Blätter treiben im Wind
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