Kapitel 3

 

 

»Und ihr habt wirklich einen Zwischenstopp in Washington eingelegt, fragte Michelle Prescott.

»Sag‘ ich doch«, antwortete Donna.

»Wenn mir das jemand anders erzählen würde, dann würde ich es nicht glauben. Doch bei dir, Donna, gehört das tatsächlich noch zu den kleinen Verrücktheiten Donna Parrish, Michelle Prescott und Anne Fisher saßen wie immer Mittwochabend in Raymond’s Diner am Memorial Drive. Bei dem Blick hinaus, durch eines der sechs großen Fenster, sahen sie im Schein der Straßenlaternen den still ruhenden Charles River. Raymond Sacco war Besitzer des Diners und zugleich großer Fan des Schriftstellers Raymond Chandler. In der Nähe der Kasse hing ein Original Plakat des Buchcovers von Chandlers Meisterwerks The Lady in the Lake. Er war stolz auf dieses seltene und teure Stück.

Nun war Anne an der Reihe. Michelle fragte Donna schon den ganzen Abend. »Erzähl, wie bist du überhaupt zu der Adresse des Liebesbrief-Absenders gekommen

Donna rutschte auf der mit Kunstleder bezogenen Sitzbank hin und her. Ihre Jeans war beim Waschen eingelaufen. Sie kniff nun an manchen Stellen. Sie legte eine Pause ein, bevor sie kräftig durchatmete. Donna hatte in den letzten Minuten die Geschichte des Liebesbriefs erzählt.

Sie suchte einen Roman bei ihrem Internet-Buchhändler und fand unter den Kundenrezensionen einen Brief mit der Unterschrift T.

Sie hatte geweint, als sie ihn ausdruckte und nochmals las. Sie weinte innerlich in jeder Sekunde, in der sie an den Brief dachte. In einem Moment fand sie es nicht richtig, dass sie den Brief eines Fremden las und auch noch für sich ausdruckte, zumal er doch gar nicht für sie bestimmt war. Zum anderen dachte sie dann: Es ist Schicksal! Sie tat etwas, was ihr zehn Minuten später bereits wieder Leid tat.

Donna knüllte die Seiten des ausgedruckten Liebesbriefs zusammen und warf sie in den Papierkorb. Sie leerte diesen dann schnell in einen der großen Container vor dem Mietshaus. Jetzt fühlte sie sich wieder freier – aber nur für wenige Minuten. Sie musste einfach erfahren, wer sich hinter T. verbarg.

Sie hatte erst vor kurzem, zusammen mit Julia, Message in a Bottle auf DVD angesehen. Dort gelang es einer Journalistin einen in sich gekehrten, aber unendlich viel Liebe schenkenden Einsiedler ausfindig zu machen. Doch das war nur ein Film, der auf einem Roman beruhte. Aber ihr Brief war Wirklichkeit!

Donna ging zum Container vor dem Haus und stieg hinein. Sie suchte den zusammengeknüllten Liebesbrief, da dieser auf den Websites des Buchhändlers bereits wieder gelöscht worden war. Sie sah es als Wink des Schicksals an, dass sie genau zu diesem Zeitpunkt auf den Seiten des Internet-Buchhändlers war.

Die Nachbarn sahen sie bereits mit verächtlichen Blicken an, was sie denn im Müllcontainer suchte. Nach etwa zwanzig Minuten hatte sie den Brief wieder gefunden.

Donna sah Anne tief in die Augen.

»Über dem Liebesbrief stand eine E-Mail-Adresse – [email protected]. Das war mein Glück. Ich tippte den Namen der Seite ein und war überrascht was ich las. Es handelte sich um einen Designershop in Washington, D.C.«

Die Bedienung mit rotem Rock schenkte den drei Freundinnen die vierte Tasse Kaffee ein. Anne hatte sich noch ein Stück Apple Pie bringen lassen. Sie aß einen Bissen und legte die Gabel dann sofort wieder zur Seite.

Michelle und Anne fragten im Duett: »Wie ging ‘s weiter?«

»Die Anschrift hatte ich schnell raus. Louisiana Avenue, direkt am Capitol. Einfacher ging ’s nicht. Die Besitzer schienen ein Lester Howell und ein Ty Evans zu sein. Die Initialen von der E-Mail, ta, passten nicht. Vor Ort wird dich das Problem klären, dachte ich mir, und so kam es zu dem Abstecher nach D.C. Die Tage mit Julia am Havasu Creek waren traumhaft, so dass ich diesen Kurzurlaub mit diesem Stopp krönen wollte.«

»Wie fand Julia deine verrückte Idee?«, fragte Anne.

»Sie kennt ihre Mutter. Mach‘ nur Mom, sagte sie, das wird sicherlich ein Spaß. Sie sieht das ganz gelassen. Es weiß keiner, wie die Geschichte weitergehen wird.«

»Ja, ja. Was passierte dann in Washington? Erzähl‘ schon!«, sagte Michelle. Sie schlürfte an ihrer Tasse Kaffee.

Michelle war eifersüchtig, nur nach innen. Es klang alles so romantisch. Der Brief und wie Donna auf ihn gestoßen war. Ihr passierte so etwas nie. Dillon, Donnas letzter Freund, war ein Verlierer, aber er war schön. Donna hatte ihn nach drei Wochen durchschaut und ihn aus ihrem Leben verbannt.

Michelle war nur ein Jahr älter als Donna, und stand mit ihrem Aussehen – lange, blonde Locken und einer schlanken Figur – ihrer Freundin sicherlich in nichts nach. Sie bekam immer das ungenießbare Gemüse unter den Männern ab, Donna dagegen die prallen Früchte. Doch hatten weder sie noch Donna bis jetzt den Mann gefunden, der ihr Herz in Watte packen und mit einem seidigen Tuch umhüllen konnte.

Michelle bewunderte wieder Donnas Antlitz. Ihr Aussehen, ihre Aura. Einem Menschen wie Donna begegnet man nur einmal im Leben. Sie war glücklich, Donna zu ihren besten Freundinnen zählen zu dürfen. Sie hatte ihre Freundschaft aber schon einmal aufs Spiel gesetzt. Michelle dachte ungern daran zurück.

Mit Washington, D.C. verband Donna keine guten Gedanken. Sie war schon einmal dort. Kurz bevor sie untertauchte. Sie musste gegen ihren Vater aussagen.

»Ich suchte das T-T Glamour auf ... und wurde dort enttäuscht. Einer der Besitzer, ich weiß nicht wer es war, wollte mich entfernen lassen, so drückt er sich aus, wenn ich nichts kaufen möchte. Und wie ich aussah, das kurze Oberteil und die Jeans hat ja ein Loch, sagte er pikiert.« Donna zog bei ihren Erzählungen Grimassen und imitierte die hohe Stimme des Mannes.

Michelle und Anne mussten unweigerlich lachen. An Donna war ein Showtalent verloren gegangen. Beide konnten Donnas Auffassung nicht teilen, ihr ganzes Leben auf Julia zu fixieren. Anne Fisher war glückliche Mutter von zwei Kindern und arbeitete trotzdem als Chefsekretärin bei einer Bank. Sie verstand Donnas Entscheidung nicht, ihr Talent als Sängerin und auch als Schauspielerin einfach so wegzuwerfen. Sie wirkte in ihrem Auftreten und auch ihrem Tun oft so unnahbar. Dass sie weinte, vor ihnen weinte, war bisher noch nie geschehen.

»Ich fragte ihn, ob er mit den Initialen ta etwas anfangen könnte. Er sah mich an, dann sagte ich drei schöne – geheime – Worte zu ihm, und er lächelte. Tom Avellone war sein Name, ta. Er war Teilhaber dieses Modegeschäfts und verkaufte vor einigen Monaten seinen Anteil an Lester Howell, ... und zog weg ... weg aus Washington ...«

Anne nutzte die Pause, in der Donna ihre Tasse Kaffee leer trank, und aß schnell ihren Kuchen zu Ende.

Michelle dachte über die drei Worte nach, die Donna wohl gesagt haben könnte. Ihre Freundin war ein Phänomen. Donna lächelte und sagte einfach nur ein paar ganz normale Worte und bei ihrem Gegenüber dachte man zu erkennen, dass ihn gerade eine Fee geküsst hatte. Michelle bemerkt das auch immer wieder in Raymond’s Diner. Hier kannte sie fast alle, aber es kamen auch neue Gäste hinzu, und sie sahen Donna mit einem Blick der Faszination an.

So heißt er, dachte Donna erneut, und freute sich innerlich bei diesem Gedanken. Schöner Name.

»Mittlerweile hatte ich den Namen meines Gegenübers erfahren. Ty Evans hieß er, und er rückte dauernd seine Krawatte zurecht. Ich schien ihn jetzt nervös zu machen«, sagte Donna und spielte dabei mit ihren Blicken, wie Kinder mit Murmeln. »Er hat sein Appartement verkauft, vier Koffer gepackt – Ty Evans half ihm dabei –, einige Möbel einer Spedition übergeben und weg war er.«

»Dass er weg ist, wissen wir ja«, drängte Anne, »wohin ist er denn nun?«

»Aufs Land! Und zwar in die tiefste Provinz, sagte Evans. Irgendwo in den Wäldern von Vermont hat er sich ein Haus gekauft. Mehr wusste er leider auch nicht. Ich war betrübt«, sagte Donna, und zog dabei die Mundwinkel nach unten.

»Doch meine Julia war sehr eifrig. Sie brachte mich auf die Idee, einfach die Geschäftsleute der Louisiana Avenue abzuklappern, vielleicht hatte er ja noch was gekauft, bevor er abreiste, und hat es sich nachschicken lassen. Und tatsächlich, er hatte sich einen antiquarischen Schrank gekauft, den er per Spedition geliefert bekam.  Die Geschäftsführerin, eine Dame über sechzig, sagte zuerst ... Tom Avellone? ... Vermont! ... und dann ... Mackville hieß der Ort!«

»Ja und, wo liegt Mackville?«, fragte Michelle.

Blätter treiben im Wind
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