Kapitel 1

 

 

Ungewöhnliche Stille umgab sie. Sie lag auf einem selbstgezimmerten Holzbett, das ihr Onkel in liebevoller Kleinarbeit angefertigt hatte. In das Kopfteil hatte er den Kopf seines Lieblingspferdes auf der Farm eingeschnitzt. Durch ein paar extra Schrauben hatte er das Quietschen beseitigt, das Donna immer ärgerte. Sie schlief zuvor immer als Letzte auf der Farm ein. Das bescheiden möblierte Zimmer war nur für sie da, wenn sie zu Besuch auf der Farm ihres Onkels war. Zweimal im Jahr durfte sie ihn besuchen. Es waren die schönsten Wochen ihrer Kindheit.

Die ersten Sonnenstrahlen dieses Aprilmorgens fielen auf ihr Gesicht. Sie vernahm das Wiehern der Pferde, das Blöken der Schafe und die Laute der Kühe. Es waren Laute, die wie Balsam auf ihrer kindlichen Seele wirkten. Vor drei Tagen, als sie von Zuhause wegfuhr, hatten ihr ihre Eltern wieder das Übliche angetan. Sie drehte sich auf die Seite und schlug die strahlend weiße Bettdecke hoch. Auf ihren Oberschenkeln konnte sie dunkelblaue Flecken sehen. Sie wollte das hoch gerutschte Nachthemd nicht weiter schieben. Sie wusste, was auf ihrem Oberkörper zu sehen war. 

Die Farm ihres Onkels lag in der Region Peaks of Otter in den Blue Ridge Mountains, Virginia. In einem idyllischen Tal hatte ihr Onkel die Farm seines Vaters übernommen. Zuvor war schon dessen Vater Besitzer dieser Farm gewesen. Es war ein weißes Holzhaus mit grauen Holzschindeln und einem gemauerten Kamin. Eine kleine Veranda zierte die Vorderseite des Hauses. Ihr Onkel hatte keine Mühen gescheut und mit seinen drei Söhnen das Haus mit seinen zwei Scheunen weitläufig mit einem weißen Zaun umgeben. Es war schwierig für ihren Onkel von der Apfel- und Pfirsichernte zu leben. Er besaß einige Plantagen, doch der Profit schmolz in den Jahren dahin. So entschloss er sich, sein Land für Touristen zu öffnen. Nun hatte er zehn Pferde, einen Reitplatz und einige Kühe, die er zur Schau stellte. Aus dem Fell der Schafe machte ihre Tante Futter für Jacken, Kissen und Bettzeug.

Donna durfte ihren siebten Geburtstag auf der Farm feiern. Es war damals ihr erster Besuch. Jetzt kam sie schon fünf Jahre her. Und sie hatte sich in alles verliebt was es zu sehen gab.

Sie stand vom Bett auf und ging zum Fenster. Sie schob den weißen, frisch nach Blüten duftenden Vorhang zur Seite und sah es: das was ihr im Herzen Freude bereitete. Sie sah die in sich ruhende Natur und die widerspenstigen Tiere, die sich nach ein paar Worten und Blicken ihres Onkels beruhigten. Für sie war ihr Onkel ein Mann mit heiligen Händen. Nur mit Menschen tat er sich schwer. Nicht mit allen, aber denen, die Unruhe stiften und den Frieden entzweien wollten, denen stellte er sich mit breiter Brust in den Weg. Er konnte so viele Streitigkeiten beilegen. Das gelang ihm bei den willigen, aber immer mehr Geld fordernden Arbeitern, wie bei den aufstrebenden und satten Geschäftspartnern und den gut zahlenden, aber oft zu ausgelassenen Gästen. Auch bei der für ihn über alles stehenden Familie konnte er Streitigkeiten schnell beilegen.

Donna fühlte die Magie dieses kleinen Landstriches im Tal des Blue Ridge Mountain. Unendlich liebevoll waren die Wochen auf der Farm ihres Onkels. So wie immer.

Am Tage ritt sie mit dem schönsten Pferd des Stalles aus. Sie kannte die Rasse nicht, weil sie keine Pferdekennerin war. Sie liebte nur alle Lebewesen, die in irgendeiner Form Liebe und Frieden ausstrahlten. Das fast schneeweiße Pferd war solch ein Geschenk Gottes. Es begrüßte sie mit einem unverkennbaren Wiehern. Donna streichelte es. Ihr Onkel hatte der Stute ihren Namen gegeben. Donna. Sie waren wie Schwestern. Das hatte ihr Onkel mit der Namensgebung erreicht. Donna, das Pferd, schleckte bei der ersten Berührung immer ihre Hand. Darin befand sich ein Stück Zucker. Einer der drei Söhne ihres Onkels hatte sie bereits gesattelt und somit konnte Donna sofort aufsteigen und losreiten. Sie war so leicht wie eine Feder; Donna, das Pferd, spürte auf ihrem Rücken eine kaum vorhandene Last. Donna galoppierte auf der weißen Stute entlang der wild bewachsenen Berge und Hügel. Sie trug beim Ausritt immer die gleiche Jeans, die an den Säumen ausgefranst war und über der linken Gesäßtasche ein kleines Loch hatte. Über ihren Oberkörper hatte sie ein Sweatshirt mit einer beige-grünen Virginia-Stickerei übergestreift. Er war ein Geschenk ihres Onkels bei ihrer Ankunft.

Abends trafen sich alle zum Abendbrot. Sie genoss jede der Geschichten, die ihr Onkel, ihre Tante und deren Söhne erzählten. Für alle Themen war Platz. Die Arbeit, das Geld und auch ein wenig für die Liebe. Auch dieser Aufenthalt, der Donna Stärke verlieh um weiter durchzuhalten, nahm wie all die Jahre zuvor ein viel zu abruptes Ende. Sie würde wieder zurückkehren – in die Hölle.

Als sie mit vierzehn wieder zu Besuch war, auf der Farm ihres Onkels, wusste sich nicht, dass sie hierher nie wieder zurückkehren würde. Auch in diesem Jahr hatte der Frühling seine Zauberhand über das Land gelegt. Die prächtigen Farben begannen sich zu entfalten und der Region den winterlichen Hut zu rauben. Ihr Onkel hatte eine schwere Lungenentzündung überstanden, an der er beinahe gestorben wäre.

Donna weinte, wenn sie aus dem Munde ihres Onkels das Wort Tod vernahm. Sie liebte ihren Onkel, so wie sie keinen anderen Menschen liebte. Bei ihrer Ankunft stand er wie eine unerschütterliche Eiche am erneut weiß gestrichenen Zaun. Im Gras war die Spur der Farbe zu sehen, die herunter getropft war. Sie wurden erst kurz vor ihrer Ankunft fertig.

Ihr Onkel schickte alle ins Haus und setzte sich mit Donna in die zwei auf der Veranda stehende Schaukelstühle. Er griff hinter sich und holte einen mit Rosen bedruckten Geschenkkarton hervor. Donna lächelte. Das wäre doch nicht nötig gewesen, Onkel, sagte sie, wie jedes Jahr. Aber noch nie war es so nötig wie in diesem Jahr, dachte ihr Onkel. Sie hob den Deckel des Kartons an – und er kam zum Vorschein: der dunkelbraune Rucksack, den sie auch zwanzig Jahre später noch über der Schulter tragen sollte. Ihr Onkel sagte, dass sie darin alles Schöne, Geheimnisvolle und Wichtige aufbewahren sollte. Er hatte dem Rucksack etwas von seiner Magie übertragen. Noch verstand Donna nicht ganz, doch bald würde sie verstehen. Sie presste den Rucksack ganz fest an sich und freute sich aus tiefsten Herzen. Sie küsste ihren Onkel. Es sollte der letzte Kuss sein. Donna reiste nach zwei Wochen ab. Prächtige Märsche durch die Berge Virginias, das Reiten der Pferde, Streicheln der Schafe und Melken der Kühe wurden ihr zuvor geschenkt.

Danach kehrte sie nie wieder zurück.

 

Die folgenden Jahre vergingen so langsam wie ein brennend heißer Sommer in Texas. Ihre Eltern waren noch schlimmer als je zuvor. Was in diesen Jahren in ihre Seele eingebrannt wurde, veränderte ihr ganzes Leben. All ihr Tun und Denken wurde bestimmt durch die schrecklichen Vorfälle in diesen Jahren. Sie wurden verübt, von Menschen, die sie lieben und ihrem Leben einen Sinn geben sollten. Sie entzogen ihr die Liebe so heftig, wie ein Tornado, und entrissen ihr den Sinn, ein Leben, so wie sie es führte, fortzusetzen. Ein Wink des Schicksals bewahrte sie vor dem endgültigen Ende.

Mit achtzehn war sie dann so weit. Die kurze Zeit auf dem St. Joseph’s College in Brooklyn, New York nutzte sie intensiv, um ihrem Traumberuf ein Stück näher zu kommen. Sie interessierte sich ausschließlich für Psychologie. Später einmal Menschen helfen und ihr Wissen weitergeben zu können, das wollte sie aus tiefstem Herzen. Sie konnte es nicht verwirklichen. Es war die Zeit zu gehen – untertauchen für immer. Verschwinden aus diesem Leben mit ihren Begleitern. Sie hatte bis jetzt nie erfahren dürfen, was ein schönes Leben war. Doch das würde sich jetzt ändern, dachte sie.

Sie ließ alles hinter sich und zog mit wenig Geld die Ostküste auf- und abwärts. Sie verweilte nur kurz an jedem Ort. Sie verdiente sich ihr Geld in Portsmouth, Virginia, Virginia Beach, Baltimore, Philadelphia, bis sie vom Küstenort New Bedford, Massachusetts nach Boston gelangte. Dort gefiel es ihr. Sie blieb. Zu Anfang nur einige Monate, doch daraus wurde ein Jahr und nun war es fast schon ein Jahrzehnt. Es begann mit der Liebe zu den vielen Grünflächen. Ob das die zauberhaften Seenlandschaften der Back Bay Fens waren – die den poetischen Namen Emerald Necklace, smaragdgrüne Halskette, trugen –, wo sie ganz in der Nähe Jahre später arbeiten würde. Oder der Boston Common und der Public Garden, dort schwelgt sie nur zu gern auch heute noch in Erinnerungen an Virginia und die Farm ihres Onkels, oder der manchmal rau und dann wieder sich fein wie eine Dame gebende Charles River, der Boston in zwei Hälften teilte. Dort wo sie immer gern dazugehören wollte, zur Wiege der geistigen Elite, dem Spielplatz der Forschernaturen, kann sie heute nur bei ihren zahlreichen Besuchen sehnsüchtig hinterher blicken. Die Harvard University wäre ihr Ziel gewesen, doch bereits bei ihrer Geburt wurde ihr Leben von anderen in die falsche Bahn gelenkt. Sie hatte den Ehrgeiz, doch der alleine reichte im amerikanischen Bildungssystem nicht aus. Boston konnte auch hart zu ihr sein. Die ersten Jahre schlug es ihr immer wieder ins Gesicht, doch sie behauptete sich. Sie hielt sich mit einigen Jobs über Wasser; Kellnern in den Citycafès, Drecksarbeiten beim Boston Globe und nochmals – nachdem sie sich geschworen hatte, sie würde es nie wieder tun – mit Tanzeinlagen in Clubs, bei denen sie viel Haut zeigen musste. Dann leuchteten die Sterne über Jahre hinaus nur für sie. Donna hatte eine spät entdeckte Gabe in die Wiege gelegt bekommen. Sie konnte aus verschwindend geringen, eigentlich unbeachteten, einfachen Wörtern Texte mit viel Emotion schreiben. Sie gründete mit einem Freund, den sie zwischen den Anfeuerungsrufen zur Charles River Regatta kennen gelernt hatte, eine eigene Produktionsfirma. Er verlieh ihren Balladen den Klang und die Melodie. Beide ergänzten sich, so wie der Baum und das Blatt. Ihr Erfolg ging über die Grenzen New Englands hinaus. Sie stürmten mit einem Song, den sie für ihren Onkel, Virginia und die Liebe geschrieben hatte, sensationell in die Top 100 der Staaten. Es war ihr größter und ihr einziger Erfolg, der in den Vereinigten Staaten wahrgenommen wurde, aber nur, weil sie es so wollte.

Donna hatte das Talent und das Aussehen, ganz groß herauszukommen. Die Manager standen Schlange. Sie musste nicht weiter für ein paar lumpige Dollars arbeiten und ihren zehn Jahre alten Toyota weiterfahren. Sie konnte ihre kleine Wohnung in der Ivy Street eintauschen gegen ein großes, luxuriöses Apartment am Park Drive. Die Welt stand ihr offen. Doch dann kam Julia.

Blätter treiben im Wind
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