Kapitel 7

 

 

Gegenwart

 

Tom stand vor einem, sich im Sonnenlicht zum König erhebenden, Ahornbaum. Seine feuerroten Blätter funkelten wie Edelsteine. Der Ahorn war in Vermont die tonangebende Baumart. Viele lebten von diesen Bäumen. Hauptsächlich die Menschen, die daraus den berühmten Maple Sirup gewannen. Doch auch Tom lebte davon. Er atmete die Farben und die reine Luft ein, die sich durch die Blätter schlängelte. Hier, in der Nähe von Hardwick und Mackville hatte er gelernt, dass man auch Farben einatmen konnte.

Tom spazierte zuerst durch die Wälder, später am Nichols Brook entlang. Der Fluss machte den Eindruck, als ob darin Diamanten lagen, die man einfach nur noch greifen musste. Die Strahlen der Herbstsonne vermittelten diesen Eindruck, in dem sie ihre Kräfte bündelten und ihre Spitzen auf den See hinabwarfen. Der Indian Summer war im Begriff den Vorhang zum ersten Akt hochzuziehen. Die Blätter begannen ihre eigenwilligen Farben anzunehmen.

Tom standen die Schweißperlen auf der Stirn. Die Tüten voller Lebensmittel die er trug, wurden auf die Dauer immer schwerer. Er hatte es Cooper versprochen, dass er ihm diesen Weg abnehmen würde.

Cooper Cheetwood war ein neunzigjähriges Vermonter Urgestein. Wie die gigantischen Granitsteine von Barre. Als vor fünf Jahren seine Frau Diadora starb, starb auch ein Teil von ihm. Ein Teil der für immer weg war. Cooper hatte nur noch seine Veranda, auf der er täglich in seinem Schaukelstuhl saß und in weiter Entfernung den Mackville Pond beobachtete. Die Wellen, die sich weich im Licht brachen, vermittelten ihm ein Gefühl des Friedens. Er wollte nur noch die Natur sehen, sonst niemanden mehr. Bis vor kurzem ein junger Mann bei ihm an die Tür klopfte und ihn um eine Auskunft bat. Tom Avellone, stellte er sich vor. Cooper kam schnell mit ihm ins Gespräch. Er war keiner der Mackville-Rasse. Sie hassten ihn alle. Er war, nach dem Tod seiner Frau, für sie zu einem Aussätzigen geworden. Keiner wollte mehr etwas mit dem alten Mann zu tun haben. Seine Beine konnten nicht mehr das leisten, was sie noch vor zwanzig Jahren geschafft hatten. Daher bot ihm Tom seine Hilfe an. Er versprach ihm, dass er ihm einmal die Woche Lebensmittel bringen würde. Tom machte das gerne.

»Hallo, Tom«, begrüßte Cooper ihn, »komm herauf. Ich hoffe, du hast gute Sachen für mich gekauft.«

»Wie immer, Coop. Marie hat weiterhin keine große Auswahl in ihrem Store.«

»Sie wird für all die Landeier aus Mackville auch nichts weiter aufnehmen.«

Cooper Cheetwood hatte selbst nie eine größere Stadt wie Burlington gesehen. Daher war er auch ein Landei. Er schimpfte nur zu gerne über die Dorfbewohner, die ihn mit Verachtung straften.

Tom betrat die weiß gestrichene Veranda. Sie sah seiner zum Verwechseln ähnlich.

»Sag‘ doch so was nicht. Marie ist doch ein lieber Mensch.«

»Dieses alte Waschweib meckert doch nur. Oder hat sie sich das mittlerweile abgewöhnt?«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Heute schimpfte sie über Pfarrer O’Conner. Er hatte am Sonntag in der Predigt einiges gesagt, das ihr nicht passte«

»Ich sag‘ es dir doch, die ändert sich nie«, bestätigte Cooper seine Vermutungen.

»Soll ich die Lebensmittel gleich in die Vorratskammer bringen?«

»Ja, das wäre nett, Tom.«

Tom räumte zügig die gekauften Lebensmittel in die Regale der Vorratskammer und kehrte zurück auf die Veranda.

»Dein Blick auf den Mackville ist an solch schönen Tagen wie heute ein Augenschmaus der besonderen Art, Coop. Dein Haus liegt fast noch schöner als meines.«

»Nur so kann ich mein Erdenleben noch ertragen. Ich sehe in den Weiten des Sees immer das Bild von Diadora. Sie lächelt mir immer zu, Tom. Sie will mir damit sagen, dass sie mich sieht und auf mich wartet. Mit offenen Armen wartet sie auf mich.«

»Rede doch nicht so dummes Zeug. Du wirst noch das ganze Dorf überleben, Coop. Genieße das Jetzt. Sieh dir nur den ersten Akt des Indian Summer an. Das ist doch etwas, das man nicht wieder missen möchte, wenn einem einmal der Blick gewährt wurde.«

»Sicher doch. Aber ich habe schon so viele September wie diesen erlebt. Ich kann mich nur noch bedingt freuen«, sagte Cooper gedrückt.

»Sieh doch nicht alles so düster.«

Tom ging hinter Cooper und massierte ihm einige Minuten die schmerzenden Schultern.

»So, ich gehe jetzt wieder. Ich muss anfangen auch hier ein bisschen zu arbeiten. Ich besuche dich wieder, Coop.«

Cooper Cheetwood bedankte sich bei Tom und sah sofort wieder auf den See hinab. Er sah darin – wieder – Diadoras Lächeln.

 

Toms Haus lag mitten in den Wäldern – nicht so wie das von Cooper auf einer Anhöhe –, einige Meilen außerhalb von Mackville. Es sah aus, wie viele Häuser in Vermont. Ein doppelstöckiges rotes Holzhaus mit Eckpfeilern und einem zentralen Kamin, der seine Ausläufe mitten im Wohnzimmer hatte und dort seinen Reiz versprühte. Das steile Dach war mit Holzschindeln gedeckt. Die große Veranda hatte sich Tom mit seinem neu gewonnen Freund Shawn Lambert selbst gebaut. Er lebte eben in einem typischen Vermonter clapboards.

Sein täglicher Wecker war das Rascheln der Blätter, die durch das frisch gestrichene Fenster in sein Schlafzimmer drangen. Sein Himmelbett hatte er die letzten Tage früh verlassen und war bereits im Morgengrauen aufgebrochen um durch die Wälder zu wandern. Er schnallte sich einen Rucksack mit Proviant und einem guten Buch auf. Jeden Tag ein neues. So verlebte er die letzten Tage, in beruhigender Stille und erlebnisreicher Fantasie.

Seinen Umzug vom verschmutzten, kriminellen und hektischen Washington, D.C. hatte er noch keine einzige Sekunde bereut. Mit dem Geld, das er für seinen Anteil am T-T Glamour bekam, konnte er hier im friedlichen Mackville in Vermont Jahre, ja vielleicht sogar Jahrzehnte leben.

Er hatte sich entschlossen einen unterbezahlten Job als Werbetexter für die Geschäftsleute rings herum anzunehmen. Nachdem hier viele nicht einmal wussten, was Werbung ist, konnte Tom sie eines Besseren belehren. In Vermont wurden zwar keine grellen Werbetafel erlaubt, so wie das sonst überall in den Vereinigten Staaten der Fall war, aber ein guter Satz im Laden oder im Restaurant würde dann doch nicht schaden, so dachten die Inhaber. Für ein kleines Fest in der nächst-größeren Stadt Hardwick hatte er bereits den Aufmachersatz beigesteuert. Er wurde dafür zum Essen eingeladen und ihm stand ein Einkauf im Store frei. Was wollte er mehr. Er hatte das Großstadtleben satt.

Tom machte den ersten Schritt auf seine, ebenfalls frisch gestrichene, weiße Veranda. Sie stach in der Rhapsodie in Ahornrot besonders hervor. Er sah seinen selbst geschnitzten Briefkasten lächeln. Mit viel Liebe zum Detail hatte er ihn aus einem Stück Holz einen Briefkasten geschnitzt. Mit einem Lachen auf der Frontseite. Von vorne war nun immer sofort zu erkennen, wenn er gefüllt war. Dann lächelte er. Er hatte ihn nur zur Zierde an der Tür angebracht, da er nie Post erwartet hatte.

Keiner kannte seine Adresse, außer den Bewohnern von Mackville, doch von denen würde ihm keiner einen Brief schreiben.

Er zog den Brief heraus. Sehr klein war mit einer lieblichen Schrift seine Adresse auf das Kuvert geschrieben worden. Wer war das?

Tom ging in sein Haus und setzte sich auf das mit braunem Stoff bezogene Sofa. Der Kamin und die kleinen Treppe, die in den ersten Stock führte, lag zu seiner Rechten. Oben befand sich nur das Schlafzimmer.

Er öffnete den Brief mit einem Messer, das er aus der Küche geholt hatte und las ihn. Seine Augen funkelten. Was fühlte er?

Angst, dass alte Wunden wieder aufreißen würden? Angst, dass eine unbekannte Frau versuchte, in sein Leben zu treten? Oder Freude, über die schöne und interessante Vorstellung einer ihm völlig Unbekannten, die einen Liebesbrief gelesen hatte, den er damals für seine Debbi geschrieben hatte. Ein Liebesbrief, der nur kurz bei einem Internet-Buchhändler aufgetaucht war, und den er schnell wieder entfernt hatte.

Er wollte den Brief wieder in das Kuvert stecken als ein unscheinbar kleines Foto herausfiel. Er hob es vom Boden auf. Was er sah, traf ihn wie ein Blitz.

Blätter treiben im Wind
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