21
Murmelnde Stimmen erfüllten das Haus, die von Erwachsenen und die von Kindern. Die Angehörigen des Volkes blickten sich um, von Neugier erfüllt durch diesen Ort, den seit so vielen Hunderten von Jahren nur Sen'ein gesehen hatten... bewunderten die Lampen und die Energie, die sie speiste – staunten aber keineswegs darüber, da sie Mri waren. Die Kräfte waren da; sie standen zur Benutzung zur Verfügung. Viele Dinge waren nicht zum Begreifen durch Kath oder Kel bestimmt, aber zur Nutzung mit Erlaubnis.
Und der Schrein enthielt wieder Licht: mit den eigenen Händen zündete Melein die Lampen an, und das Pan'en wurde gebracht und hinter den korrodierten Schirmen abgesetzt, um nur dann transportiert zu werden, wenn das Volk selbst zog, um durch die Angehörigen des Hauses verehrt zu werden, solange sie blieben. Gesänge wurden gesprochen, das Shon'jir der Mri, die von Kutath hinausgegangen waren; und das An'jir der Mri, die auf der Heimatwelt geblieben waren.
Wir sind die, die nicht hinausgingen:
Landbegeher, Himmelsseher;
Wir sind die, die nicht hinausgingen:
Weltbewahrer, Glaubenshüter;
Wir sind die, die nicht hinausgingen:
und schön ist unser Morgen;
Wir sind die, die nicht hinausgingen:
und schön ist uns're Nacht.
Die rhythmischen Worte gingen in der Luft um: die lange Nacht, dachte Duncan, neben Niun stehend... ein Volk, das auf dem sterbenden Kutath sein Ende erwartet hatte.
Bis Melein kam.
Die Gesänge versanken im Schweigen; die Halle war still; das Volk ging seiner Wege.
Da war die Kel-Halle.
Einen langen, spiralförmig verlaufenden Weg hinauf, zu einer schattigen Halle, die plötzlich in Licht getaucht wurde... das Kel breitete Teppiche aus, die den Boden ihrer Zelte gebildet hatten und noch sandig waren: die Reiniger glitten in der Vorhalle herum, hielten sich jedoch vom Kel fern.
Das Kel ließ sich in seinem Kreis nieder. Damit war in der Zurückgezogenheit der Halle die Zeit für Neugier gekommen. Augen wanderten über Niun, über die Dusei, und größtenteils über Duncan.
»Er wird willkommen geheißen«, sagte Niun plötzlich und rauh, beantwortete ungesprochene Fragen.
Es gab finstere Blicke, aber keine Worte. Duncan ließ die Augen über den Kreis schweifen, begegnete goldenen Augen, die seinen Blick erwiderten und ihm nicht auswichen – Blicke ohne Liebe, ohne Vertrauen, aber auch – dachte er – ohne Haß. Einem nach dem anderen blickte er so in die Augen, ließ sich ausgiebig betrachten; und er hätte fast auch das Zaidhe abgenommen, um ihnen den Rest seiner Fremdartigkeit zu zeigen. Aber dergleichen war entwürdigend und, wenn im Zorn angeboten, auch beleidigend, ein Tadel ihnen gegenüber. Sie konnten es nicht erwarten; es wäre die Tiefe jeder Kränkung gewesen.
Eine Tasse wurde gereicht, erst Niun und dann Duncan: Wasser der blauen Stengelpflanze in einer Messingtasse Duncan befeuchtete seine Lippen und reichte das Gefäß an Hlil weiter, der nach ihm kam. Hlil zögerte nur einen winzigen Augenblick lang, als ob man von ihm erwartete, nach den Dusei zu trinken; doch dann hob er die Tasse an die Lippen und reichte sie weiter.
Einer nach dem anderen tranken sie in Frieden, auch die Kel'e'ein, die beiden mit Merai verwandt gewesenen Frauen. Es gab keine Zurückweisung.
Dann legte Niun sein Langschwert in Duncans Schoß, und in einer merkwürdigen und ausgearbeiteten Zeremonie zogen alle Kel'ein gleichermaßen, und die Av'ein-kel – auch Duncans – wurden von Mann zu Frau durch den ganzen Kreis weitergegeben, bis jeder wieder sein eigenes in der Hand hielt.
Dann sprach jeder, einer nach dem anderen, seinen Namen voll aus. Einige trugen Namen von beiden Eltern, manche hatten nur den Sochils. Und Duncan nannte mit zu Boden gerichtetem Blick den seinen, Duncan-ohne-eine-Mutter, und fühlte sich seltsam verloren unter diesen Wesen, die wußten, wer sie waren.
»Das Kel-Ritual«, sagte Niun, nachdem sie damit fertig waren, »ist immer noch dasselbe.«
Es gefiel ihnen vielleicht zu wissen, daß dem so war; es gab Gesten der Zustimmung.
»Ihr werdet uns«, sagte Niun, »das Mu'ara der Heimatwelt lehren.«
»Aye«, sagte Hlil bereitwillig.
Es herrschte langes Schweigen.
»Einen Teil des Rituals, wie ich es kenne«, sagte Niun, »höre ich nicht.«
Hlil biß sich auf die Lippe... ein Mann mit Narben eher denn Seta'al, Hlil s'Sochil, grobgesichtig für einen Mri, die schlank waren und feinknochig. »Unser Kath... unser Kath hat Angst vor diesem...« Hlil hielt kurz vor dem Tsi'mri inne und richtete den Blick voll auf Duncan.
»Möchtest du«, fragte Niun mit harter Stimme, »eine formelle Erklärung dazu abgeben?«
»Wir sind beunruhigt«, sagte Hlil und blickte zu Boden.
»Wir.«
»Kel'anth«, sagte Hlil leise, »es ist dein Recht, und seines.«
»Nein«, sagte Duncan ruhig, aber Niun gab vor, es nicht zu hören, sondern sah sich um und wartete.
»Das Kath wird euch willkommen heißen«, sagte eine der alten Kel'e'ein.
»Das Kath wird euch willkommen heißen«, wiederholten daraufhin die anderen, und zuletzt Hlil.
»So«, sagte Niun und erhob sich – wartete auf Duncan, während die anderen sitzenblieben, und Duncan vermied es, ihren Blicken zu begegnen.
Die Dusei wollten mitkommen, aber Niun verbot es ihnen.
Und sie beide verließen als einzige die Kel-Halle und gingen die Rampe hinab. Es war spät im letzten Teil der Nacht. Duncan fror, und ihm graute vor der Begegnung, zu der sie gingen: das Kath, die Frauen und Kinder des Hauses, und vielleicht – so hoffte er – nur Zeremonie und Ritual, in dem er ruhig und unbemerkt bleiben konnte.
Sie stiegen den Kath-Turm hinauf; die Kath'anth empfing sie an der Tür. Schweigend führte sie sie hinein, wo erschöpfte Kinder auf Matten und Teppichen ausgestreckt lagen, ebenso einige der Älteren, männlich und weiblich, die schlaflos durch die Aufregungen der Nacht aus den Schatten heraus auf Niun und Duncan starrten.
Sie kamen an eine Tür zu einer engen Kammer. »Geh hinein!« sagte die Kath'anth zu Duncan; er tat es und fand den Raum nur mit Teppichen und sonst nichts ausgestattet. Die Tür ging zu; Niun und die Kath'anth hatten ihn hier zurückgelassen, in dieser durch eine Öllampe nur matt erleuchteten Kammer.
Also ließ er sich in einer Ecke nieder, furchtsam zuerst, und wurde sich schließlich dessen bewußt, daß er fror und schläfrig war, und daß die Kath'ein ihn vielleicht verabscheuten und überhaupt nicht kommen würden. Es war ein bitterer Gedanke, aber immer noch besser als die Schwierigkeiten, die er vorhersah. Er wollte nur alleingelassen werden, vielleicht bis zum Ende der Nacht schlafen und danach nicht befragt werden.
Und die Tür ging auf.
Eine Blaugewandete kam herein und trug ein kleines Tablett mit Essen und Getränken; die Tür schloß sich ohne ihr Zutun, und sie brachte Duncan das Tablett, kniete nieder, um es vor ihm abzusetzen, wobei die Tassen laut klapperten. Sie trug keinen Schleier, auch nicht auf ihrer Mähne; sie war etwa so alt wie er, und nach dem, was er im Lampenlicht von ihrem gesenkten Gesicht sehen konnte, war sie entzückend.
Durch ein Blinzeln verschüttete Tränen rollten an ihren Wangen herab.
»Hat man dich gezwungen zu kommen?« fragte er.
»Nein, Kel'en.« Sie hob das Gesicht, und so freundlich es auch war, zeigte es doch hartnäckigen Stolz. »Ich bin an der Reihe und habe es nicht abgelehnt.«
Er dachte daran, sich mit ihr zu beschäftigen, und die Kälte blieb in ihm. »Es wäre bitter. Würde es das Kath kränken, wenn wir nur hier sitzen und uns unterhalten?«
Goldene Augen musterten durch schimmernde Tränen sein Gesicht. Die Membran blinzelte und klärte sie.
»Wäre es eine Kränkung?« fragte er wieder.
Stolz. Mri-Ehre. Er sah den Widerstreit in ihren Augen, die ebenso Kränkung argwöhnten wie Freundlichkeit. Er hatte diesen Argwohn oft genug in Niuns Augen gesehen.
»Nein«, beruhigte sie und glättete ihre Kleider, und einen Moment später legte sie den Kopf schräg und straffte das Kinn. »Trotzdem wird mein Sohn dich Vater nennen.«
»Ich verstehe nicht.«
Sie sah ebenso verwirrt aus wie er. »Ich meine – ich werde nicht bekanntmachen, was du wünschst. Der Name meines Sohnes ist Ka'aros, und er ist fünf Jahre alt. Es ist eine Höflichkeit, verstehst du nicht?«
»Sind wir – für immer zusammen?«
Sich selbst zum Trotz lachte sie laut auf, und ihr Lachen war freundlich und die Berührung ihrer Hand auf seiner angenehm. »Kel'en, Kel'en... nein. Mein Sohn hat dreiundzwanzig Väter.« Ihr Gesicht wurde wieder sachlich und doch sehnsüchtig. »Ich werde es dir zumindest gemütlich machen. Willst du schlafen, Kel'en?«
Er nickte nach Mri-Art, war verblüfft und müde und fand dieses Angebot als am wenigsten mühselig. Ihre freundlichen Finger nahmen ihm sanft das Zaidhe ab, und sie starrte erschrocken auf seine Haare – obwohl er sie nach Mri-Art schulterlang hatte wachsen lassen, war es doch nicht die struppige, bronzene Mähne ihrer Rasse. Sie faßte das Haar an, ungehindert durch den Formalismus der Kel-Kaste, zupfte an einer Locke, entdeckte die Form seiner Ohren und staunte darüber.
Und von dem zugedeckten Holzteller auf dem Tablett nahm sie ein wohlriechendes, feuchtes Tuch und reinigte damit äußerst sorgfältig sein Gesicht und seine Hände – es war eine Linderung für Sand- und Sonnenbrände; und als sie darauf beharrte, lockerte er seine Gewänder und legte sich nieder, benutzte ihre Knie als Kopfkissen. Sie breitete seine Gewänder über ihm aus und liebkoste sanft seine Stirn, so daß er sich als er Welt entrückt vorkam und es ihm leichtfiel, sich zu entspannen.
Er wollte es jedoch nicht: Verrat und Mord kamen ihm in den Sinn – er mühte sich, wachzubleiben, sein Mißtrauen nicht zu zeigen, und trotzdem nicht das Bewußtsein dessen zu verlieren, was geschah.
Er entschwebte jedoch für einen Moment und erwachte sicher wieder in ihren Armen. Er liebkoste ihren wiegenden Arm, langsam und schläfrig, bis er ihr in die goldenen Augen sah und sich an sein Versprechen erinnerte, sie nicht anzurühren.
Er nahm die Hand weg.
Sie beugte sich herab und berührte mit den Lippen seine Stirn. Das bestürzte ihn.
»Wenn ich in einer anderen Nacht wiederkäme«, sagte er, denn die Zeit war kurz, und es schien plötzlich tausend Dinge zu geben, die er vom Kath wissen wollte – von dieser Kath'en, die so gütig zu einem Tsi'mri war, »wenn ich wiederkäme, könnte ich nach dir fragen?«
»Jeder Kel'en darf fragen.«
»Darf ich fragen?«
Da begriff sie und sah verlegen aus und bekümmert – und auch er begriff und zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich werde nicht fragen«, sagte er.
»Es wäre schamlos von mir zu sagen, daß du könntest.«
Da war er völlig verwirrt, lag da und starrte zu ihr auf.
Ein weicher, trällernder Ruf erklang irgendwo in der Kath-Halle.
»Es ist Morgen«, sagte sie und machte Anstalten zu gehen. Sie erhob sich, als er sich aufsetzte, und ging zur Tür.
»Ich kenne deinen Namen nicht«, sagte er im Aufstehen – eine menschliche Höflichkeit.
»Kel'en, ich heiße Sa'er.«
Und sie vollzog eine anmutige Geste des Respekts und verließ ihn.
Da bedauerte er, daß er abgelehnt hatte... bedauerte mit einem seltsamen Sinn für das Kommende – daß vielleicht in einer anderen Nacht die Dinge anders sein würden.
Sa'er: das ähnelte dem Wort für Morgen – es paßte zu ihr.
Seine Gedanken rangen sich nach Elag/Haven zurück, zu rauhen und sorglosen Zeiten, und die Erinnerung war scheußlich, direkt nach Sa'er.
Man verletzte, das wußte er von allen Prinzipien des Kel-Gesetzes, einen Kath'en nicht, weder Kind noch Frau. Er verspürte in sich eine tiefe Gewißheit, daß er bei dieser Begegnung das Richtige getan hatte.
Und er hatte den wachsenden Glauben daran, daß sie getreu ihren Worten das Vertrauen nicht brechen würde; sie würde ihn nicht vor anderen klein machen; sie würde das nächstemal nicht mit Tränen kommen, sondern mit einem Lächeln für ihn.
Fröhlich gestimmt durch diese Gedanken, machte er es sich auf den Teppichen bequem und zog sich die Stiefel an, brachte die Gewänder wieder richtig an, befestigte Gürtel und Waffen, die er beiseite gelegt hatte. Im Stehen band er sich das Kopftuch um, das für den Anstand wesentlicher war als die Gewänder; den Mez jedoch schlang er sich um den Hals und über die Schulter.
Dann ging er in die Halle hinaus und lief in plötzlicher Verlegenheit rot an, denn im selben Augenblick stand dort Niun; und er hoffte, daß ihn die Zurückhaltung des Kel vor Fragen bewahrte.
Der Mri, dachte er, sah sehr zufrieden aus.
»War es gut bei dir?« fragte Niun.
Er nickte.
»Komm!« sagte Niun. »Da ist noch eine Höflichkeit zu erweisen.«
Die Kath-Halle wirkte unter der Tagesbeleuchtung anders. Die Matten waren weggeräumt worden, und die Kinder tobten bei ihrer Ankunft wie verrückt umher, rannten jedes zu einer Kath'en, und mit erstaunlicher Schnelligkeit bildete sich eine Reihe, die die beiden Kel'ein zur Tür geleitete.
An erster Stelle stand die Kath'anth, außerhalb der Reihe, und sie umfaßte Niuns Hände und lächelte ihn an. »Berichte dem Kel, daß wir die Geräte dieses Ortes nicht begreifen, aber es wird ein Mittagessen geben.«
»Vielleicht könnte ich mit den Geräten helfen«, schlug Duncan vor, als die Kath'anth seine Hände ergriff. Und die Kath'anth lachte, und Niun desgleichen, und ebenso lachten alle Kath'ein, die es gehört hatten.
»Er oder ich könnten es«, sagte Niun und verbarg seine Verlegenheit hinter Würde. »Wir haben viele Fähigkeiten, er und ich.«
»Wenn das Kel sich herabläßt«, sagte die Kath'anth.
»Schicke nach uns, wenn wir gebraucht werden!« sagte Niun.
Und sie gingen von ihr zur Reihe der Kath'ein; Niun ging als erster und ergriff ernst die Hände einer Kath'en, verneigte sich vor ihr, nahm die Hände ihrer kleinen Tochter und vollzog dasselbe Ritual mit dieser.
Da begriff Duncan, trat zu Sa'er und tat dasselbe; und er nahm die Hand ihres Sohnes, als der Junge sie ihm anbot, Handgelenk an Handgelenk, wie sich Männer gegenseitig anfaßten.
»Er ist Kel Duncan«, sagte Sa'er zu ihrem Sohn, und dann zu Duncan: »Er ist Ka'aros.«
Das Kind starrte ihn mit geweiteten Augen an, in der einem Kind eigenen Ehrlichkeit, und erwiderte Duncans scheues Lächeln nicht. Sa'er gab dem Jungen einen Stups. »Sir«, sagte er, und die Membran zuckte über die Augen. Er hatte noch nicht die Mähne eines Erwachsenen – seine war kurz und zeigte die Ohren, an den Läppchen mit je einer kleinen Locke aus durchsichtigem Flaum bedeckt.
»Guten Tag«, sagte Sa'er und lächelte Duncan an.
»Guten Tag«, wünschte er ihr und gesellte sich wieder zu Niun, der an der Tür wartete. Schweigen herrschte in der Halle. Sie gingen hinaus und hörten dann hinter sich das Murmeln von Stimmen, und wußten, daß dort jetzt Fragen gestellt wurden.
»Ich mag sie«, gestand er Niun; und dann ging er noch weiter: »Wir haben nicht miteinander...«
Niun zuckte die Achseln und legte sich den Schleier an. »Es ist wichtig, daß ein Mann beim Kath einen guten Namen hat. Die Kath'en war mehr als freundlich beim Abschied. Hättest du sie gekränkt gehabt, dann hätte sie es bekanntgemacht, und das wäre zu deinem ernsten Schaden im Haus gewesen.«
»Ich war überrascht, daß du mich dorthin gebracht hast.«
»Ich hatte keine Wahl. So wird es immer gemacht. Ich konnte dich nicht ins Kel bringen wie eine Kel'e'en, ohne diese Nacht.«
Duncan schlug seinen Schleier ein und atmete leichter in dem Wissen, daß er sich richtig verhalten hatte. »Du hast dir sicher Sorgen gemacht.«
»Du bist Kel'en. Du hast gelernt zu denken, wie wir es tun. Ich bin nicht überrascht, daß du dich für eine Nacht der Erholung entschieden hast. Es war weise, und...«, fügte er hinzu, »wenn du einer Kath'en die Ka'islai schickst und sie sie nicht zurücksendet, dann mußt du gehen und sie dir holen.«
»Wird es so gemacht?«
Niun lachte leise. »So habe ich gehört. Ich selbst bin naiv in solchen Dingen.«
Sie erreichten die Haupthalle, und Duncan folgte Niun, als dieser im Schrein seine Morgenandacht verrichtete; er stand dort schweigend und dachte merkwürdigerweise an einen Ort in seiner Kindheit, spürte in einem anderen Bereich seiner Gedanken ein Dus, eingesperrt in der Kel-Halle, das sich ärgerte und ungeduldig war.
Und urplötzlich ertönte die Maschinenstimme Anehons, die tief und donnernd durch alle Hallen drang, durch Stein und Fleisch:
Alarm... Alarm... ALARM!
Duncan stand wie betäubt, als Niun an ihm vorbeistürzte. »Bleib hier!« rief Niun ihm zu und eilte zum Zugang der Sen-Halle, wo ein Kel'en nichts zu suchen hatte. Duncan hielt mitten im Schritt inne, blickte nach links und rechts, sah weitere Kel'ein den Kel Turm hinabeilen; und da waren die Kath'ein und Melein selbst, die vom Turm der She'pan herabgekommen war und fast rennend auf den Sen-Eingang zustrebte, mitten durch die erschreckten Fragen, die ihr zugeworfen wurden.
»Laß mich hinein!« rief Duncan ihr zu, als er sie einholte, und sie verbot es ihm nicht. Er folgte ihr hinauf in die Sen-Halle, wo alarmierte Sen'ein wie aufgestörte Insekten umherschwirrten, golden um Niuns Schwarz herum, das vor An-ehons flackernden Lichtern stand und ihr Fragen stellte. Als Antwort leuchteten Bildschirme mit einem Anblick auf, den selbst der ungeschlachteste Kel'en begreifen konnte: die Wüste, und ein sterbendes Glühen in einer aufsteigenden Wolke am fernen Horizont.
Das Schiff!
Melein bahnte sich ihren Weg zwischen den Sen'ein hindurch, die sich beiseite drängten, und während sie die Hände auf die Armaturen vor sich legte, waren ihre Augen auf die Schirme gerichtet.
Duncan versuchte ihr zu folgen, aber die Sen'ein hielten ihn zurück, versperrten ihm mit den Händen den Weg.
»Der Schlag erfolgte aus dem Raum«, dröhnte Anehon, während der wahnsinnige Alarm aus einem anderen Kanal toste.
»Schlag zurück!« befahl Melein.
»Nein!« schrie Duncan ihr zu. Aber Anehons so rasch wie ein Flackern erfolgende Reaktion zeigte das Zielmuster des Gegenschlages, der den Orbit durchschnitt.
Linien blitzten rasch, Perspektiven verschoben sich.
»Erfolglos«, dröhnte An-ehon.
Und die Armaturen flammten auf, und die Luft war mit einem Geräusch erfüllt, das tief unterhalb der Hörschwelle begann und wie Donner endete. Der Boden und sogar die Fundamente erzitterten.
»Angriff wurde erwidert«, sagte An-ehon. »Die Schirme haben gehalten.«
»Hör auf damit!« brüllte Duncan, stieß Sen'ein grob zur Seite und brach zu Melein durch, blieb stehen, als Niun selbst ihm den Arm in den Weg streckte. »Hör mir zu! Das da oben wird ein Klasse-Eins-Kriegsschiff sein. Du kannst es nicht vom Boden aus schlagen. Wir haben jetzt kein Schiff mehr, keine Fluchtmöglichkeit – erwidere das Feuer nicht! Sie können diese Welt in Asche verwandeln. Laß mich mit ihnen sprechen, She'pan!«
Meleins Blick war schrecklich, als sie ihn ansah, enthielt Verdächtigung und Wut... in diesem Augenblick war er der Fremde und nah davor, Opfer ihres Zorns zu werden.
Wieder kam der Donner. Die Mri hielten sich ihre empfindlichen Ohren, und Melein rief einen weiteren Angriffsbefehl.
»Ziel verschwindet außer Reichweite«, sagte Anehon, als der Lärm nachließ. »Es wird bald über Zohain stehen. Zohain wird angreifen.«
»Ihr könnt dagegen nicht kämpfen!« schrie Duncan sie an und packte Niun am Arm, erhielt von dem Mri einen Blick, der dem Meleins entsprach. »Niun, erklä- re es ihr! Eure Schirme werden auf Dauer nicht halten. Laß mich mit denen da oben reden!«
»Du siehst, was du mit deinem Signal erreicht hast«, sagte Niun. »Das ist ihre Antwort auf dein Freundschaftssignal. Das ist ihr Wort dazu.«
»Zohain ist gefallen«, sagte An-ehon. »Die Schirme haben nicht gehalten. Ich empfange Alarm von Le'a'haen... ein weiterer Angriff nähert sich dieser Zone. Alarm... Alarm... ALARM... ALARM...!«
»Bringt euer Volk raus!« schrie Duncan sie an.
Der Schrecken stand in Meleins und Niuns Augen – der Alptraum wiederholte sich. Der Boden erzitterte. Ein polterndes Krachen ertönte außerhalb des Edun.
»Geht!« schrie Melein. »Die Berge, flieht in die Berge!«
Aber weder sie noch Niun taten das, während das Sen zur Tür stürmte und hinaus, seine Besitztümer und alles zurückließ. Sogar über die Geräusche Anehons hinweg konnten die Schreie in anderen Teilen des Edun gehört werden.
»Geht hinaus – geht hinaus, ihr beiden!« flehte Duncan. »Wartet auf eine Unterbrechung des Angriffs und flieht hinaus! Laßt mich es mit der Maschine versuchen!«
Melein kümmerte sich nicht um ihn, sondern wandte sich an Niun. »Kel'anth, führe dein Volk!« Und noch bevor Niun eine Bewegung machen konnte, blickte sie zu den Maschinenbänken, die An-ehon waren. »Kämpfe weiter! Vernichte die Eindringlinge!«
»Diese Stadt hält«, dröhnte die Maschine. »Äußere Anlagen können ihrer Schirme beraubt werden, um den Edun-Komplex zu schützen. Wenn diese Stadt fällt, gibt es noch weitere. Wir sind dabei, die Verteidigung zu koordinieren. Wir stehen unter mehrfachem Angriff. Wir empfehlen sofortige Evakuierung. Wir empfehlen der She'pan, ihre Person in Sicherheit zu bringen. Die Erhaltung ihrer Person ist von vorrangiger Bedeutung.«
»Ich gehe«, sagte Melein und fügte zu Duncan gewandt hinzu, denn Niun war bereits fort: »Komm, beeil' dich!«
Er stürzte an ihr vorbei zur Konsole. »An-ehon«, sagte er, »gib mir eine Verbindung...«
»Laß es nicht zu!« schrie Melein, und die Maschine griff an, mit einer Gewalt, die die Luft zum Leuchten brachte und Duncan betäubt und kalt zu Boden schleuderte.
Er sah, wie Meleins Gewänder an ihm vorbeistrichen; sie rannte, rannte mitten durch die Sen-Halle, während der Boden unter einem erneuten Angriff erzitterte... er schüttelte sich unter Duncan, der wiederholt versuchte, die tauben Glieder unter sich zu ziehen. Der Boden bockte auf.
»Alarm... Alarm... ALARM...!« schrie An-ehon.
Duncan rollte mit dem Kopf, drehte sich auf einer Schulter um und sah, wie einige Bereiche der Bänke dunkel wurden.
Und wieder schüttelte sich der Boden, und die Lichter begannen matter zu werden.
Dann war eine Zeitlang Ruhe.
Duncan konnte schließlich wieder die Beine bewegen, die Arme, kam auf die Füße und taumelte durch die verwüstete Sen-Halle in den sich zur Haupthalle hinabwindenden Korridor. Dort begegnete ihm ein großer Schatten, sein Dus, das ihn durch Andrücken des Körpers fast umwarf. Dann benutzte er es als Stütze und stolperte an dem Durcheinander in der Halle vorbei und hinaus ins Licht, in die offene Stadt – dort sah er die Toten, alte Sen'ein, Kinder des Kath – einen Kel'en, durch eine eingestürzte Wand zermalmt.
Er fand Sa'er, eine verkrümmte blaue Gestalt am Fuß der Rampe, die goldene Hand um einen Stein geklammert, die Augen geöffnet und das Gesicht mit dem Sand Kutaths eingestaubt.
»Ka'aros!« rief er mit aller Kraft, als ihm ihr Sohn einfiel, doch er erhielt keine Antwort.
Die Spur des Volkes waren Tote – die Alten, die Zerbrechlichen, die Jungen: all das, was freundlich war, dachte er, alles.
Er hörte ein Geräusch wie Donner, sah auf und erkannte einen Blitz, einen Lichtfleck – etwas, das in der Atmosphäre operierte. Und während er mit aller Kraft rannte, erwartete er den weißen Blitz, der ihn töten würde, als er den geschützten Bereich verließ.
Aber es verschwand hinter dem Horizont. Das Geräusch erstarb.
Außerhalb der Stadt, außerhalb der traurigen Zerstörung, erstreckte sich die Reihe der lebenden und gehenden Gestalten. Er beeilte sich, ihnen zu folgen, verzweifelt und erschöpft. Das Dus, in dem sich Blutgefühle regten, begleitete ihn, empfing seinen Zorn und seine Angst und warf beides verstärkt zurück.
Endlich hatte er die letzten der Marschsäule eingeholt; seine Kehle war trocken, seine Lungen schmerzten durch das Husten. Blut strömte ihm aus der Nase und schmeckte im Mund nach Salz und Kupfer.
»Der Kel'anth?« fragte er. Eine schmaläugige Kel'e'en deutete zur Spitze der Marschsäule. »Die She'pan?« wollte er wissen. »Ist sie unverletzt?«
»Ja«, sagte jemand, als ob es schon eine Beschmutzung sei, ihm nur zu antworten.
Er ging weiterhin schneller als die anderen, um die Spitze der Kolonne zu erreichen, kam an Kel'ein vorbei, die Kath-Kinder trugen, an Kath'ein, die Säuglinge trugen, und an Kel'ein, die die Alten stützten, wenn auch wenig der Alten überlebt hatten.
Sie gingen auf die Berge zu, die ihnen Unterschlupf versprachen, und sie waren dabei auf diesem kahlen, nackten Sand hilflos ausgesetzt. Duncan sah, daß sich die Marschsäule über eine Bodenwelle hinweg erstreckte, und es schien noch unmöglich weit bis zur Spitze zu sein – bei der Geschwindigkeit, mit der er es versuchte, schien es über seine Kraft zu gehen. Er blieb stehen und schnitt sich ein Stück von einem Stengel ab, den schon jemand anders nur als Stummel zurückgelassen hatte – eine Beute, die auch andere sahen, und er bot sie ihnen an, jedoch wollte sich keiner dazu herablassen, sie anzufassen. Er überließ ihnen den Rest, sog das Wasser aus einer abgeschnittenen Scheibe und schaffte es, auf den Füßen zu bleiben und in der Mitte der Marschsäule – außerhalb von ihr, denn er spürte den Haß der anderen, die Blicke, die das Sen ihm zuwarf.
Er hatte sich selbst vor dem Sen verraten; sie wuß- ten, sie hatten gesehen, wer er war – und woher er kam, das vermuteten sie... Sie konnten nicht den Grund dafür kennen, warum sie angegriffen wurden; aber sie wußten, daß sie Mri waren und die Eindringlinge Tsi'mri, und daß sie unter Händen starben, wie er sie hatte.
* * *
Sie wurden nicht angegriffen. Duncan war darüber nicht erstaunt, denn für ein großes Schiff in einer Umlaufbahn gab es wenig Grund, seine Energien auf ein so kleines Ziel zu verschwenden, wie sie es darstellten. Aber die Stadt geriet periodisch unter Feuer. Sie konnten zurückschauen und sehen, wie die Schirme unter dem Ansturm der Strahlung in allen Regenbogenfarben flackerten, und wie die ganze Stadt zunehmend stärker zerstört wurde. Diese Stadt, die sich wie ein Traum vor der untergehenden Sonne abgezeichnet hatte, glühte und starb wie schwelendes Feuer, und die Türme stürzten ein, und die Häßlichkeit breitete sich über sie.
»A-ei«, trauerte eine alte Kath'en. »A-ei.«
Und die Kinder wimmerten verstört und wurden beruhigt.
Das Sen schüttelte die Köpfe, und Tränen zeigten sich auf den Gesichtern der Älteren.
Beim Kel gab es keine Tränen, nur brennende, wü- tende Blicke. Duncan wandte das Gesicht von ihnen ab und ging immer weiter, während die anderen sich ausruhten, bis er schließlich Meleins weiße Gewänder erblickte und den großen Kel'en mit dem Dus neben ihr erkannte.
Sie waren beide unverletzt; es war gut, das zu wissen, und es nahm einen Teil seiner Furcht von ihm. Er behielt sie für den Rest des Tages im Blickfeld, und als sie schließlich beim Anbruch des Abends lagerten, ging er zu ihnen.
Niun spürte Duncans Anwesenheit. Das Dus kam zuerst, und dann wandte sich Niun um und sah ihn näherkommen.
Duncan ließ sich in ihrer Nähe schweigend nieder.
»Alles in Ordnung mit dir?« fragte ihn Niun.
Er nickte.
Melein wandte das Gesicht von ihm ab. »Zweifellos«, sagte sie endlich, »war deine Absicht gut, Duncan. Das glaube ich. Aber es wäre nutzlos gewesen.«
»She'pan«, murmelte er mit einer Geste der Verehrung, war selbst für diese Worte dankbar; er unterließ es, mit ihr zu streiten. Zwischen so vielen Toten hatte Streit keinen Platz.
Niun bot ihm ein Stück von einer Pflanze an. Duncan zeigte jedoch seines und lehnte ab, und mit dem Av'tlen schnitt er ein Stück von seiner Beute ab, das, als er daran saugte, kränklich süß schmeckte. Er hatte einen Knoten im Bauch, der sich nicht auflösen wollte.
Ein Schrei erhob sich vom Kel. Hände deuteten. Das, was wie ein dahinschießender Stern aussah, flog über sie hinweg und senkte sich zum Horizont hinab.
»Sie landen«, brummte Duncan, »dort, wo das Schiff war. Jetzt wird die Suche beginnen.«
»Laß sie in die Berge kommen und nachschauen«, meinte Niun.
Duncan hielt sich den Bauch mit der Hand und hustete, und er wischte sich die Schmerzenstränen aus dem Gesicht. Er stellte fest, das er zitterte.
Er wußte auch, was getan werden mußte.
Er ruhte sich aus. Als es Zeit war, entschuldigte er sich mit einem gemessenen Achselzucken, mit dem ein Mann ein privates Geschäft andeutete, stand auf und verließ die anderen; das Dus folgte ihm. Er hatte Angst und versuchte, dieses Gefühl zu unterdrücken, denn das Dus konnte es weitersenden. Vor sich erblickte er die Wüste; er spürte die Schwäche seiner Glieder und der Schrecken überwältigte ihn beinahe, aber er hatte keine Wahl.
Das Dus sandte plötzlich einen Schutzimpuls aus und drehte sich um.
Er blickte zurück, erkannte das andere Dus.
Da war ein schwarzer Schatten ein Stück seitlich des Tieres. Duncan erstarrte, als ihm einfiel, daß Niun genau wie er ein Gewehr hatte.
Niun kam über den Sand auf ihn zu, eine schwarze Gestalt in der Dunkelheit. Der Wind ließ seine Gewänder flattern, der Mond blinkte auf den Messinggriffen der Yin'ein und dem Plastikvisier, ebenso auf den J'tai, die er errungen hatte. Krummzehig und mit gesenktem Kopf ging das große Dus neben ihm her.
»Yai«, beruhigte Duncan sein Tier und ließ es Platz nehmen.
Auf Sprechdistanz blieb Niun stehen, die Hand warnend hinter einen Gürtel geschoben. »Du hast dich weit von der Marschsäule entfernt, Sov-kela.«
Duncan wies mit dem Kopf über die Schulter zum Horizont. »Laß mich gehen!«
»Um dich wieder zu ihnen zu gesellen?«
»Ich diene der She'pan.«
Niun betrachtete ihn lange und eingehend und ließ schließlich den Schleier fallen. Duncan tat es ihm gleich und wischte sich über das Blut, das auf den Lippen zu trocknen begann.
»Was willst du machen?« fragte Niun.
»Sie zum Zuhören bringen.«
Niun machte eine hoffnungslose Handbewegung. »Das ist bereits gescheitert. Du wirfst dich nur selbst weg.«
»Bring das Volk in Sicherheit! Laß mich dies versuchen! Vertrau mir darin, Niun!«
»Wir werden uns nicht ergeben.«
»Das weiß ich. Ich werde es ihnen sagen.«
Niun sah an sich hinab. Mit seinen schlanken Fingern fummelte er an einem der verschiedenen Gürtel. Er lö- ste eines der J'tai, trat zu Duncan und band den Riemen geduldig mit einem komplizierten Knoten fest.
Duncan betrachtete es, nachdem er fertig war, sah ein seltsames und fein gearbeitetes Blatt, eines der drei J'tai, die Niun von Kesrith hatte.
»Einer meiner Meister hat es mir gegeben, ein Mann namens Palazi, der es vom Planeten Guragen hatte. Dort wuchsen Bäume.
Es bringt Glück, hat er gesagt. Lebewohl, Duncan.«
Er reichte ihm die Hand.
Duncan ergriff sie. »Lebwohl, Niun.«
Und der Mri wandte sich ab und ging fort, gefolgt von seinem Dus.
Duncan sah zu, wie sie im Schatten verschwanden, wandte sich dann selbst um und schlug die Richtung ein, die er sich zurechtgelegt hatte, und eine Zeitlang sah er Sand und Felsen in seinem Blickfeld verzerrt. Er brachte den Schleier wieder an und war dankbar für die Wärme des Tieres, das an seiner Seite ging.