14

Diesmal flogen sie nahe an den Welten des Systems vorbei, gefährlich nahe. Seit vielen Tagen schon führte ihr Kurs auf den gelben Stern und seine Welten zu, bis sich schließlich der größte der inneren Planeten vor ihnen ausbreitete und auf dem Bildschirm in der Kel-Halle dominierte.

Heimat? fragte sich Niun zuerst und hielt seine Hoffnung in Meleins schweigender Gegenwart geheim. Hätte sie Bescheid gewußt, dachte er, hätte sie ihm auch etwas gesagt. Aber während die Tage verstrichen, zeigte sich ein besorgter Ausdruck auf Meleins Gesicht, und sie betrachtete die Schirme jetzt oft mit Furcht in den Augen. Der Eindruck verschwand, als sie auf diese Welt zustürzten – eher füllte die Welt jetzt den Himmel aus und fiel auf sie herab, eine Halbwelt zuerst, die Niun die Hoffnung ermöglichte, sie würden daran vorbeistürzen – erschreckend, aber trotzdem ein Entkommen –, aber die Scheibe begann jetzt auf dem Sternenschirm zu wachsen.

Sie waren gefangen und wirbelten hinab wie ein Stäubchen in der Sandgrube eines Gräbers. Diese unwillkommene Vorstellung machte sich in Niun breit, während er an Meleins Seite saß und auf den Sternenschirm starrte, den sie in ihrer Halle angebracht hatte, um ständig auf die Gefahr zu blicken. Er spürte seine Hilflosigkeit, die eines Kel'en, dessen Wissen über Schiffe nur theoretisch war; sein ganzes Wissen sagte ihm jetzt, daß alles falsch lief und daß Melein, die genau wie er nie zuvor die Kontrollen eines Schiffes bedient hatte, nur wenig mehr wußte als er.

Vielleicht, dachte er, kannte sie den Namen der Welt, auf die sie hinabfielen, aber das würde sie nicht aufhalten.

Und die Empörung darüber wuchs in ihm, daß sie durch ein Mißgeschick sterben sollten. Eine Zeitlang erwartete er ein Wunder von Melein oder aus sonst irgendeiner Quelle, war sich dessen sicher, daß die Götter sie nicht für so etwas soweit geführt haben konnten.

Er wartete auf Melein, aber sie sagte nichts.

»Du hast zwei Kel'ein«, erinnerte er sie schließlich an dem Tag, an dem kaum ein Stück Dunkelheit mehr auf dem Sternenschirm verblieben war.

Sie sagte immer noch nichts.

»Frag ihn, Melein!«

Ihre Lippen bildeten einen dünnen Strich.

Er kannte ihre Sturheit, denn er war vom selben Blut. Er legte seinen eigenen Gesichtsausdruck an den Tag. »Dann laß uns auf die Welt abstürzen«, sagte er und starrte anderswohin. »Es gibt sicher nichts, das ich machen könnte, und du hast deine Entscheidung gefällt.«

Für geraume Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen. Keiner bewegte sich.

»Es würde sicherstellen«, sagte sie schließlich, »daß eine Gefahr unser Ziel nicht erreicht. Ich habe darüber nachgedacht. Aber es würde die andere Gefahr nicht aufhalten, und nicht das Wissen davon in uns.«

Dieser Gedanke erschütterte sein Vertrauen. Er fühlte sich erniedrigt, da er nur an ihr eigenes Überleben gedacht hatte, der zu forsch mit ihr gewesen war. »Ich habe unüberlegt gesprochen«, sagte er. »Du hast zweifellos abgewägt, was zu tun ist.«

»Geh und frage ihn!« sagte sie.

Er saß still für einen Moment und fand ihre Sprunghaftigkeit so zermürbend wie eine Transition. Seine Nerven waren straff angespannt bei dem Gedanken, daß die Sache wirklich auf Duncan hinauslief.

Dann raffte er sich auf, rief leise nach seinem Dus und ging.

* * *

Duncan saß unterhalb des Schirmes, der das Scannerabbild zeigte, und wetzte unverdrossen die Klinge eines Av'tlen, die er sich aus einem Metallstück gefertigt hatte. Sie war lasergeschnitten und nach Niuns privater Meinung würde sie nie richtig ausgewogen sein, aber sie hielt Duncans Hände beschäftigt und vielleicht auch sein Gemüt, welche Finsternis darin auch schwebte. Das Dus lag bei ihm, den Kopf zwischen den Tatzen, und die Augen folgten den Bewegungen von Duncans Händen.

»Duncan«, sagte Niun. Das stählerne Geräusch behielt seinen Rhythmus. »Duncan.«

Es hörte auf. Duncan sah auf und betrachtete ihn mit der kalten Härte, die Tag für Tag zugenommen hatte.

»Die She'pan«, sagte Niun, »ist wegen unserer Annäherung an diese Welt besorgt.«

Duncans Blick blieb kalt. »Nun, ihr braucht mich nicht. Oder wenn doch, könnt ihr Mittel finden, um mich zu umgehen, oder nicht?«

»Ich respektiere deinen Hader mit uns.« Niun sank auf die Fersen herab und formte mit den Händen eine einladende Geste. »Aber du weißt sicher, daß es keinen Hader mit der Welt gibt, die uns anzieht. Wir werden sterben, ohne daß du dadurch Befriedigung haben wirst. Was deinen Groll gegen uns angeht, so möchte ich auf diesem kleinen Schiff überhaupt keinen Streit haben, schon gar nicht mit den Dusei mittendrin. Hör mir zu, Duncan! Ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um dir einen ehrenvollen Weg zu eröffnen, diesen Groll gegen uns abzulegen. Aber wenn du die She'pan in Gefahr bringst, werde ich keine Geduld haben. Und du bringst sie in Gefahr.«

Duncan widmete sich wieder seiner Aufgabe, strich Stahl an Stahl entlang. Niun kämpfte mit seinem Zorn, kannte das Ergebnis, wenn er Hand an den Tsi'mri legte: ein Dus, das bedenklich an der Grenze zum Miuk balancierte, und ein Schiff, das auf den Zusammenstoß mit einer Welt zurast – in einigen Dingen konnte man wirklich nicht streiten. Wahrscheinlich war der Mensch nicht vernünftiger als das Dus und von dem leidenden Tier beeinflußt. Wenn es über die Grenze geriet, dann würde das auch dem Verstand widerfahren, der das Wissen über das Schiff enthielt.

Meleins Werk. Niun umklammerte die Knie mit den Armen und suchte nach Worten, mit denen er Duncan erreichen konnte.

»Wir sind über der Zeit, Duncan.«

»Wenn ihr mit dieser Situation nicht umgehen könnt«, meinte Duncan plötzlich, »dann könntet ihr gewiß auch nicht sicher landen, sobald ihr eure Heimatwelt erreicht. Ich denke nicht, daß ihr jemals vorhattet, mich loszuwerden. Ihr beide scheint mich zu brauchen, und ich denke, die She'pan hat das immer angenommen. Deswegen hat sie dir deinen Willen gelassen. Es war nur ein Mittel dazu, mich weniger unbequem zu machen, als ich es sonst gewesen wäre – eine Möglichkeit, meine Abwehr zu umgehen und aus mir herauszubekommen, was sie wollte. Ich zürne dir nicht, Niun. Du hast ihr geglaubt. Ich auch. Sie bekam, was sie wollte. Nur jetzt werde ich wieder gebraucht, nicht wahr?« Der Klang des Stahls dauerte an, gemessen und hart. »Werden wie ihr. Einer von euch werden. Ich weiß, daß du es versucht hast. Du hast mich vorbereitet – aber du hast nicht mit dem Tier gerechnet. Jetzt kannst du nicht mehr so leicht mit mir fertigwerden. Das Tier und ich... stellen auf diesem Schiff etwas Neues dar.«

»Du irrst dich von Anfang an«, sagte Niun, kalt bis zum Herzen durch diese Gedanken des Menschen. »Es gibt einen Autopiloten, der uns hereinbringt. Und die She'pan hat dich oder mich nie belogen. Das kann sie nicht.«

Duncan blickte ihm plötzlich in die Augen, zeigte zynische Überraschung, und seine Hände ließen ab von der Arbeit. »Vertraust du darauf? Vielleicht ist die Automatik bei den Regul besser als bei uns, aber dies ist ein menschliches Schiff, und ich würde ihm nicht mein Leben anvertrauen, wenn ich eine Möglichkeit hätte. Man könnte wer weiß wo herabkommen. Und weißt du, wie du mit ihm umzugehen hast? Vielleicht ist die She'pan einfach naiv. Ihr braucht mich, Kel Niun. Sag ihr das!«

Das klang nach Wahrheit. Niun wußte keine Antwort, war in seinem Zutrauen erschüttert. Es gab Dinge, die Melein vernünftigerweise nicht wissen konnte, Dinge, die nicht von den Regul gebaute Maschinen angingen und die Motive nicht vom Volk Geborener. Und doch folgte sie weiterhin ihrer Sicht; er wünschte sich ernsthaft, das glauben zu können.

»Komm!« bat er Duncan.

»Nein«, sagte dieser und fing wieder an zu arbeiten.

Niun blieb unbeweglich, und Panik regte sich in ihm. Der Rhythmus von Stahl auf Stahl, von Metall in verkrampften und weißgeränderten Fingern wurde lauter. Duncan sah nicht auf. Eine Körperlänge entfernt regte sich das Dus und stöhnte.

Niun erhob sich ruckhaft und verließ die Kel-Halle, schritt durch die Korridore zu Melein zurück.

»Er weigert sich«, berichtete er ihr und blieb verschleiert.

Sie sagte nichts, sondern saß nur ruhig da und starrte auf den Schirm. Niun setzte sich neben sie, nahm Mez und Zaidhe ab und knüllte sie mit gesenktem Kopf auf seinem Schoß zu einem Knoten zusammen. Melein hatte kein Wort für ihn übrig, nichts. Sie war endlich dabei, dachte er, zu überlegen, was sie angerichtet hatte, und diese Überlegung kam zu spät.

* * *

Und um Mitternacht gab es keinen dunklen Fleck mehr auf dem Schirm. Der Planet nahm furchterregende Einzelheiten an, braungefleckt mit weißen Wolkenwirbeln.

Plötzlich setzte eine Sirene ein, die sich von jeder unterschied, die sie zuvor schon gehört hatten, und die Schirme blitzten rot auf, ein Pulsieren, das Furchtbares andeutete.

Niun erhob sich auf die Knie und warf Melein, deren Ruhe jetzt brüchig zu sein schien, einen ängstlichen Blick zu.

»Geh zu Duncan!« befahl sie. »Frag noch einmal!«

Mit gesenktem Kopf stand er auf und ging, kümmerte sich aber diesmal nicht um den Schleier. Er ging, um ihren Feind um etwas zu bitten, und bei einer solchen Geste schien Scham nutzlos zu sein.

Die Beleuchtung der Kel-Halle war jetzt schwächer: der Schirm, der zwischen dem Rot des Alarms und dem weißen Glanz des Planeten pulsierte, war das einzige, was Licht spendete, und Duncan saß unverschleiert davor. Immer noch erklang das gemessene Kratzen von Metall, als ob es nie unterbrochen worden wäre. Neben Duncan lagen die beiden Dusei, die sich regten und auswichen, als Niun herbeikam und vor Duncan niederkniete.

»Wenn du etwas kennst, das man jetzt machen könnte«, sagte Niun, »wäre es gut, wenn du es machen würdest. Ich glaube, wir stürzen ziemlich schnell ab.«

Duncan feilte die Schneide mit einem langen Strich, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepreßt. Er dachte einen Moment lang nach, legte dann seine Arbeit zur Seite, wischte sich die Hände an den Knien ab und blickte auf zu dem Planeten, der auf dem pulsierenden Schirm drohend sichtbar war. »Ich kann es versuchen«, sagte er beiläufig genug. »Aber nur von den Kontrollen aus.«

Niun stand auf und wartete auf Duncan, der sich steif erhob und dann mit ihm durch das Schiff ging. Die Dusei wollten ihnen folgen, aber Niun verbot es ihnen scharf, verschloß eine Sektionstür vor ihnen und brachte Duncan in die Sektion der She'pan.

Dort begegnete ihnen Melein im Korridor.

»Er wird es versuchen«, sagte Niun.

Sie öffnete ihnen den Kontrollraum und trat hinter ihnen ein, stand würdevoll daneben, als Duncan sich in den Sessel vor dem Hauptschaltpult setzte.

Duncan kümmerte sich nicht weiter um sie. Er betrachtete die Schirme und tastete Schalter nach Schalter. Eine Flut telemetrischer Symbole zog über einen Standschirm. Einer nach dem anderen hörten die Schirme auf zu pulsieren und zeigten in grellen Farben Bilder des Planeten.

»Das sind sinnlose Spielereien«, sagte Melein.

Duncan wandte den Blick halb zurück, dann wieder nach vorn. »Richtig. Ich beobachte diese Welt seit einigen Tagen. Es ist rätselhaft. Und es ist immer noch möglich, daß die Schutzmechanismen das Schiff übernehmen, wenn wir die absolute Grenze erreichen. Es gibt noch Möglichkeiten, aber aus demselben Grund beachtet es nicht die Sicherheitsspanne, und die Masse des Planeten hat uns eingefangen, so daß wir nicht springen können. Hier.« Er nahm die Abdeckung von einem abgeschirmten Bereich der Kontrollen und drückte einfach einen Knopf. Lichter liefen wie verrückt über die Pulte. Sofort gab es eine erkennbare Kursänderung, und die Bilder auf den Schirmen veränderten sich rasch. Duncan brachte die Abdeckung ruhig wieder an. »Dies ist ein altes Schiff und auf einem schweren Flug. Ein System hat versagt. Es müßte jetzt wieder in Ordnung sein. Es wird dem Planeten ausweichen und dann wieder auf Kurs gehen. Ich denke, damit ist das Problem gelöst. Wenn aber die Ursache für diesen Vorfall ein Fehler auf dem Band ist, dann sind wir so gut wie tot.«

Er sprach mit zynischem Tonfall, stand langsam auf und behielt die Scanner im Blick. »Diese Welt ist tot«, sagte er dann. »Und das ist seltsam in Anbetracht anderer Dinge, die ich im Scanner lese.«

»Du irrst dich«, sagte Melein rauh. »Lies deine Instrumente noch einmal, Tsi'mri! Diese Welt heißt Nhequuy und der Stern Syr, und hier und überall in den umgebenden Gebieten lebt die raumfahrende Rasse der Etrau.«

»Schau auf die Infrarot-Anzeige! Schau auf die Oberfläche! Keine Pflanzen, kein Leben. Dies ist eine tote Welt, She'pan, was auch immer deine Aufzeichnungen besagen. Dieses System ist tot. Eine raumfahrende Rasse wäre bereits aufgetaucht, um einen Eindringling so dicht an ihrer Heimatwelt zu begutachten. Aber niemand ist gekommen. Nicht hier und nirgendwo sonst, wo wir gewesen sind; stimmt's? Du hättest keine Antwort auf einen Anruf geben können. Du hättest auf ihre Schiffe nicht reagieren können. Dazu hättest du mich gebraucht, und das ist nicht der Fall gewesen. Eine Welt nach der andern, und nichts dort. Warum nicht – was glaubst du, She'pan?«

Melein blickte ihn an, und ihr unverschleiertes Gesicht zeigte den Schock und den hilflosen Zorn. Sie gab keine Antwort, und Niun spürte, wie ihm in ihrem Schweigen Kälte über die Haut kroch.

»Die Angehörigen des Volkes sind Nomaden«, sagte Duncan, »Söldner, überall dort angeworben, wo ihr gewesen seid. Ihr seid von Stern zu Stern gezogen, habt Kriege gesucht und als Söldner in ihnen gekämpft. Und habt sie vergessen. Ihr habt jedes Zimmer hinter euch geschlossen und dem Kel verboten, sich zu erinnern. Aber was ist aus all euren früheren Auftraggebern geworden, She'pan? Warum gab es nirgendwo Leben, wo du vorbeigeflogen bist?«

Niun blickte auf die Schirme, die tote Öde, die sie zeigten, auf Instrumente, die er nicht ablesen konnte – und blickte zu Melein, wollte hören, wie sie diese Dinge leugnete.

»Geh!« sagte sie. »Niun, bring ihn zurück in die Kel-Halle!«

Duncan stieß sich von der Schalttafel ab, ließ den Blick von ihr zu Niun schweifen; in diesem Moment zögerte Niun, und Duncan drehte sich auf den Fersen um und ging hinaus, schritt in Richtung der Kel-Halle rasch den Korridor hinab.

Niun starrte Melein an. Ihre Haut war bleich, die Augen geweitet. Nie zuvor hatte sie einen so ängstlichen Eindruck gemacht, nicht einmal, als sie von Regul und Menschen umzingelt worden waren.

»She'pan?« fragte er und hoffte immer noch.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. Und sie weinte, denn dies war ein Zugeständnis, das eine She'pan nicht machen konnte. Sie sank auf die Kante eines Sessels und wollte Niun nicht anblicken.

Er blieb, traute sich schließlich, sie an den Armen zu nehmen und von hier wegzuführen, zurück in ihre eigene Halle, wo man das Vibrieren der Maschinen nicht so anklagend spürte. Er drückte sie auf ihren Stuhl und kniete neben ihr nieder, glättete ihre goldene Mähne, wie er es getan hatte, als sie beide noch Kath'dai'ein gewesen waren, und mit seinem eigenen schwarzen Schleier versuchte er, ihre Tränen zu trocknen und sah, wie ihr Gesicht wieder ruhig wurde.

Er wußte, daß sie verloren war, daß der Umgang mit den Maschinen über ihre Fähigkeiten ging – und sie wußte, daß er das wußte. Er aber hockte vor ihren Knien und hielt ihre Hände und sah mit klaren Augen zu ihr auf, bot sich ihr von Herzen an.

»Ruh dich aus«, drängte er sie, »ruh dich aus! Selbst dein Mitleid war rechtgeleitet. Stimmt es nicht, daß selbst die She'panai nicht immer wissen, wann die Sicht sie bewegt? Das habe ich zumindest gehört. Du hast Duncan behalten, und das war richtig. Und habe Geduld mit ihm, um meinetwillen habe Geduld mit ihm. Ich werde mit ihm zurechtkommen.«

»Er sieht, was klar ersichtlich ist, Niun, ich weiß nicht, was wir getan haben.«

Er dachte an die toten Welten und stieß den Gedanken wieder von sich. »Wir haben nichts getan. Wir haben nichts getan.«

»Wir sind Erben des Volkes.«

»Wir wissen nicht, ob seine Vermutungen stimmen.«

»Niun, Niun, er weiß es. Bist du so langsam im Begreifen dessen, was wir entlang dem Weg des Volkes gesehen haben? Kann es sein, daß so viele Welten an sich selbst gescheitert sind, nachdem wir vorbeigekommen sind?«

»Ich weiß nicht«, sagte er verzweifelt. »Ich bin nur Kel'en, Melein.«

Sie berührte sein Gesicht, und er spürte den Trost, den sie beabsichtigte, die Entschuldigung für ihre Worte, und eine Zeitlang sprachen sie nicht. Vor langer Zeit – es schien lange her zu sein und unmöglich weit weg – hatte er neben einer anderen She'pan gesessen, Intel vom Edun Kesrithun, den Kopf an ihrer Stuhllehne, und sie war in ihren Drogenträumen zufrieden damit gewesen, ihn zu berühren und zu wissen, daß er da war. So tat er es auch jetzt bei Melein. Ihre Hand streichelte rastlos seine Mähne, während sie nachdachte; und er saß still, konnte nicht daran teilhaben, konnte sich nicht vorstellen, wohin ihre Gedanken liefen – nur daß sie in der Dunkelheit wandelten und in Dingen der Pana.

Schließlich hörte er ihren Atem zwischen den Zähnen zittern und hörte selbst auf zu atmen, fürchtete ihre Stimmung.

»Intels Hand«, sagte sie dann, »liegt immer noch auf uns. Der Kel'en der She'pan: sie hat dich so lange bei sich behalten – ich wundere mich, daß du nicht verrückt wurdest – und dich mir übertragen – damit ihre erwählte Nachfolgerin nicht nur das Edun Kesrithun übernahm, sondern das ganze Volk regierte. Damit Intels Entscheidung überlebt. Um zu ihrem Ziel zu gelangen, wäre sie durch das Blut von jedem gewatet, der sich ihr entgegenstellt hätte. Sie war die She'pan. Alt – aber das Alter hat sie nicht geheiligt, hat sie nicht von ihren Absichten geläutert oder gefällig gemacht. Götter, Niun, sie war hart!«

Er konnte nicht antworten. Er erinnerte sich an die narbige Mutter von Kesrith mit den freundlichen Augen, deren Hände zärtlich und deren Verstand meistens von Drogen benebelt war. Aber er kannte auch die andere Intel. Sein Magen verkrampfte sich, als er sich an alten Zorn und alten Groll erinnerte – an Intels besitzergreifende, unnachgiebige Sturheit. Sie war tot. Es war nicht richtig, Groll gegen die Toten zu hegen.

»Sie hätte ein Schiff genommen«, sagte Melein mit hohler Stimme, »und die Götter wissen, was sie beim Verlassen Kesriths getan hätte. Wir dienten den Regul nicht mehr, waren, von unserem Eid befreit. Sie schickte mich in Sicherheit; ich glaube, sie versuchte zu folgen. Ich will es nicht wissen. Ich will so viele Dinge niemals wissen, die sie keine Zeit mehr fand, mir zu sagen. Sie redete von Heimkehr, vom Kampf gegen die Feinde des Volkes; Rasereien in den Komal- Träumen, wenn ich allein bei ihr saß. Die Feinde, die Feinde. Sie hätte sie vernichtet und uns dann heimgeführt. Das war ihr großer und unwahrscheinlicher Traum, daß diese Dunkelheit die letzte sein würde, um uns heimzuführen, denn wir waren bereits nur noch wenige; und sie war vielleicht verrückt.«

Niun schaffte es nicht, sie anzusehen, denn es stimmte, was sie sagte, und war schmerzlich für sie beide.

»Was sollen wir machen?« fragte er. »Darf das Kel um Erlaubnis bitten, zu fragen? Was sollen wir für uns selbst tun?«

»Ich kann dieses Schiff nicht anhalten. Ich wollte, ich könnte es. Duncan sagt, daß er es auch nicht kann. Ich glaube, daß das wahr ist. Und er...«

Es herrschte lange Schweigen. Niun brach es nicht, wußte, daß dergleichen nichts Gutes bringen konnte, und schließlich seufzte Melein.

»Duncan«, sagte sie schwer.

»Ich werde ihn von dir fernhalten.«

»Du hast ihm die Mittel gegeben, uns zu schaden.«

»Ich werde mich mit ihm befassen, She'pan.«

Sie schüttelte wieder den Kopf und rieb die Augen mit den Fingern.

Die Dusei kamen: Niun war sich dessen bewußt, bevor sie auftauchten, sah und erkannte sein eigenes großes Tier und hieß es willkommen. Es näherte sich auf die sehnsüchtige, geistesabwesende Art der Dusei und sank zu Meleins Füßen nieder, bot seinen geistlosen Trost an.

Später, als Melein leichter atmete, spürte Niun eine weitere Gegenwart. Erstaunt sah er das kleinere Dus im Eingang stehen. Es kam ebenfalls herbei und legte sich neben seinem Gefährten nieder.

Melein berührte es, und das Tier strahlte keine Feindseligkeit gegen die Hand aus, die es verletzt hatte. Aber an einer anderen Stelle im Schiff bedeutete diese Berührung Schmerz. Niun dachte an Duncan und dessen bittere Einsamkeit und wunderte sich darüber, daß dieses Dus sich hierhergezogen gefühlt hatte, durch die, die Duncan haßte.

Sofern er es nicht brutal weggescheucht hatte oder seine Gedanken das Tier in diese Richtung gedrängt hatten.

»Geh und kümmere dich um Duncan!« sagte Melein.

Niun erhielt seinen Schleier von ihr zurück und warf ihn sich über die Schulter, dachte nicht daran, ihn zu tragen. Er stand auf und befahl seinem Dus zu bleiben, als es ihm folgen wollte, denn er wollte, daß es Melein tröstete.

Und wie erwartet fand er Duncan in der Kel-Halle.

* * *

Duncan saß schweigend in der künstlichen Dämmerung, die Hände lose im Schoß. Niun ließ sich vor ihm auf die Knie nieder, und immer noch sah Duncan nicht auf. Der Mensch hatte sich verschleiert; Niun tat es nicht, bot ihm seine Gefühle offen an.

»Du hast uns verletzt«, sagte Niun. »Kel Duncan, ist es nicht genug?«

Duncan hob das Gesicht und starrte auf den Schirm, wo die Nhequuy genannte Welt nicht mehr sichtbar war.

»Duncan, was willst du noch von uns?«

Duncans Dus war bei Melein, berührt und berührend; er war verraten. Als seine Augen zu Niun glitten, gab es in ihnen keine Abwehr, nur noch Schmerz.

»Ich habe«, sagte Duncan, »mich um euretwillen mit meinen Vorgesetzten auseinandergesetzt. Ich habe um euch gekämpft. Und wozu? Hatte sie eine Antwort? Sie kannte den Namen der Welt. Was ist mit ihr geschehen?«

»Das wissen wir nicht.«

»Und mit den anderen Welten?«

»Wir wissen es nicht, Duncan.«

»Killer«, sagte er, die Augen woandershin gerichtet. »Killer von Natur aus.«

Niun preßte die Hände zusammen, die kalt geworden waren. »Du gehörst zu uns, Kel Duncan.«

»Ich habe mich oft gefragt, warum.« Sein Blick begegnete wieder dem Niuns. Plötzlich zog er den Schleier weg und nahm das quastenverzierte Kopftuch ab, machte sein Menschsein offenkundig. »Außer daß ich unverzichtbar bin.«

»Ja. Aber das wußte ich nicht. Wir wußten es vorher nicht.«

Das kam durch, dachte er; es gab eine kleine Reaktion in Duncans Augen.

Und dann wandte dieser sich mit einem wilden, abwesenden Blick zur Tür.

Dus-Empfindungen. Niun empfing sie ebenfalls, sogar bevor er das Klicken der Klauen auf den Fliesen hörte. Die Sinne verschwammen. Es war hart, sich an die Bitterkeit zu erinnern, die sie empfunden hatten.

»Nein!« schrie Duncan, als das Tier hereinkam. Es scheute und hob drohend eine Tatze, senkte sie dann wieder und schob sich vor, den Kopf leicht zur Seite gewandt. Ganz allmählich kam es näher, ließ sich nieder, schob sich die letzte Strecke an Duncans Seite. Duncan faßte es an, legte ihm den Arm um den Nakken. Das andere Tier tauchte in der Tür auf und kam ruhig zu Niun, legte sich hinter seinem Rücken nieder. Niun besänftigte es mit freundlichem Streicheln, das Herz pochend unter dem Elend, das von dem anderen ausgestrahlt wurde – die Kluft zwischen Mensch und Dus: sogar die Luft schmerzte darunter.

»Du verletzt es«, sagte Niun. »Gib ihm nach! Gib ihm wenigstens ein bißchen nach!«

»Ich habe eine Übereinkunft mit ihm. Ich dränge es nicht und es drängt mich nicht. Nur manchmal kommt es zu schnell, vergißt, wo die Grenze ist.«

»Dusei haben kein Gedächtnis. Für sie gibt es nur das Jetzt

»Glückliche Tiere«, sagte Duncan rauh.

»Gib ihm nach! Du verlierst dadurch nichts.«

Duncan schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Mri. Und ich kann nicht vergessen.«

Es lag Müdigkeit in seiner Stimme; sie bebte. Für einen Moment war dort wieder der Mann, der so lange fort gewesen war, Niun streckte die Hand aus und drückte seinen Arm in einer Geste, die er einem Bruder des Kel gegenüber gemacht hätte. »Duncan, ich habe versucht, dir zu helfen. Ich habe alles versucht, was ich konnte.«

Duncan schloß die Augen und öffnete sie wieder; seine Finger auf dem Nacken des Dus hoben sich in einer Geste des Aufgebens. »Ich denke, daß zumindest das wahr ist.«

»Wir lügen nicht«, sagte er. »Da sind die Dusei. Wir können es nicht.«

»Das kann ich verstehen.« Duncan preßte die Lippen zu einer weißen Linie zusammen, entspannte sie wieder, während seine Hand nach wie vor das Dus liebkoste.

»Mit einem Mann in dieser Stimmung würde ich nicht Shon'ai spielen«, sagte Niun, köderte ihn, suchte nach verborgenen Dingen. Sie hatten tatsächlich seit einiger Zeit nicht mehr gespielt.

Langsam begann das Dus, sein Wohlbefinden zu äußern, entspannte sich unter Duncans Fingern, als dieser ihm den Arm sanft um den von Fettrollen bedeckten Nacken legte; das Tier seufzte, vergaß vergangenen Groll, erfreute sich an augenblicklicher Liebe.

Der Mensch drückte die Stirn auf diesen dicken Schädel und wandte dann das Gesicht Niun zu. Seine Augen zeigten einen mitgenommenen Blick wie bei jemandem, der lange nicht geruht hatte. »Es hat kein glücklicheres Leben als ich«, meinte Duncan. »Ich kann ihm nicht geben, was es will, und ich kann mich nicht in einen Mri verwandeln.«

Niun holte tief Luft und versuchte zu verhindern, daß sich in seinem Bewußtsein bestimmte Bilder formten. »Ich könnte es töten«, sagte er verhalten und rasch. Der Mensch, der in Kontakt mit dem Tier stand, zuckte zusammen und besänftigte das Dus mit den Händen. Niun verstand; er fühlte sich durch das bloße Angebot beschmutzt – aber manchmal war so etwas unumgänglich, wenn ein Dus seinen Kel'en verlor und nicht mehr beherrscht werden konnte. Dieses Tier hatte niemals den Kel'en gewonnen, den es sich wünschte.

»Nein«, sagte Duncan letztlich, »nein.«

Er stieß das Tier weg, und es stand auf und schlenderte in die Ecke hinüber. Die Empfindungen der Dusei waren jetzt friedlicher Art. So war es besser als zuvor.

»Ich würde mich freuen«, sagte Niun, »wenn du der She'pan deine Entschuldigung zukommen ließest.«

Duncan saß für einen Moment ruhig, die Arme auf den Knien. Schließlich nickte er und änderte die Geste zu der eines Mri. »Wenn sie mich braucht«, sagte er, »werde ich kommen. Sag ihr das!«

»Das werde ich.«

»Sag ihr, daß es mir leid tut.«

»Auch das werde ich tun.«

Duncan betrachtete ihn für einen Moment, raffte sich dann auf, blieb stehen und sah zu dem Dus hinüber. Er rief es mit einem tiefen Pfiff, und es schnaubte laut vor Interesse, erhob sich und kam herbei, folgte ihm in die Ecke, wo die Lager ausgebreitet waren.

Und für lange Zeit saß dort der Mensch und fuhr mit den Händen über das Tier, streichelte und besänftigte es, redete sogar mit ihm, was dem Dus zu gefallen schien. Es beruhigte sich und schlief ein, und nach einer Weile tat es der Mensch ebenfalls.

* * *

Drei Tage später ertönte die Sirene, und sie ließen Nhequuy und seine Sonne hinter sich.

Auch die nächste Welt war ohne Leben.