19

 

PENUEL

 

Auf dem Weg in den Wald lief Maia die meiste Zeit schweigend neben Simon her; sie hielt den Kopf gesenkt, schaute nur gelegentlich mit leicht gerümpfter Nase von links nach rechts. Simon fragte sich, ob sie den richtigen Weg wohl erschnüffelte, und kam zu dem Schluss, dass dies ein sehr nützliches Talent sein musste, auch wenn es ein wenig seltsam aussah. Außerdem stellte er fest, dass er mühelos mit ihr Schritt halten konnte, ganz gleich wie schnell sie sich vorwärtsbewegte. Selbst als sie den ausgetretenen Pfad erreichten, der geradewegs in den Wald führte, und Maia zu laufen begann - schnell, ruhig und dicht über den Boden gebeugt - konnte er ihr Tempo ohne Anstrengung halten. Dies war endlich einmal ein Vorzug des Vampirdaseins, den er wirklich genoss. 

Doch schon nach kurzer Zeit wurde der Wald zunehmend dichter und bald darauf liefen sie zwischen den Bäumen hindurch über halb verfaultes Laub, aus dem gelegentlich dicke Baumwurzeln hervorragten. Die Äste über ihnen wirkten gegen den sternenhellen Himmel wie das Muster einer Spitzendecke. Irgendwann tauchte zwischen den Bäumen eine Lichtung auf, übersät mit großen Felsbrocken, die im Nachtlicht schimmerten wie rechteckige weiße Zähne. Dazwischen lagen hier und dort große Blätterhaufen, als hätte jemand den Ort mit einem gigantischen Rechen bearbeitet. 

»Raphael!« Maia hatte die Hände an den Mund gelegt und rief so laut, dass die Vögel in den Baumkronen über ihnen überrascht aufflatterten. »Raphael, zeig dich!« 

Eine Weile blieb alles still. Dann raschelte es in den Schatten und kurz darauf ertönte ein gedämpftes Prasseln, wie Regentropfen auf einem Blechdach. Die Blätterhaufen auf der Erde erhoben sich in die Luft und verwirbelten zu kleinen Windhosen. Simon hört Maia husten; sie hatte die Hände erhoben, als ob sie die Blätter von ihrem Gesicht, ihren Augen wegfegen wollte. 

So plötzlich, wie der Wind aufgekommen war, so schnell legte er sich auch wieder. Dann stand Raphael vor ihnen, nur wenige Meter von Simon entfernt. Hinter ihm sah er eine ganze Gruppe von Vampiren, bleich und regungslos wie Bäume im Mondlicht. Sie musterten ihn kalt; in ihren Augen lag nichts als offene Feindseligkeit. Einige von ihnen kannte Simon noch aus dem Hotel Dumort: die zierliche Lily und den blonden Jacob, dessen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen waren. Doch viele von ihnen hatte er noch nie zuvor gesehen. 

Schließlich machte Raphael einen Schritt auf sie zu. Seine Haut wirkte fahlgelb und er hatte schwarze Ringe unter den Augen, doch er lächelte Simon an. 

»Tageslichtler«, sagte er knapp. »Du bist gekommen.« 

»Ja, ich bin gekommen«, erwiderte Simon. »Ich bin hier, also … ist alles geklärt.« 

»Es ist längst nicht alles geklärt, Tageslichtler«, entgegnete Raphael und schaute dann zu Maia: »Lykanthrop, kehr zum Anführer deines Rudels zurück und danke ihm dafür, dass er seine Meinung geändert hat. Sag ihm, dass die Kinder der Nacht in der Brocelind-Ebene neben ihm und seinesgleichen kämpfen werden.« 

Maias Gesicht war angespannt. »Luke hat seine Meinung nicht…« 

Doch Simon unterbrach sie hastig: »Alles in Ordnung, Maia. Geh jetzt.« 

»Simon, überleg dir das gut«, warf Maia ein und musterte ihn aus leuchtenden, traurigen Augen. »Du musst das nicht tun.« 

»Doch, ich muss«, erklärte er mit fester Stimme. »Vielen Dank, Maia, dass du mich hierhergebracht hast. Und jetzt geh.« 

»Simon …« 

»Wenn du jetzt nicht gehst«, sagte er leise, »töten sie uns beide, und das alles hier wäre vollkommen umsonst gewesen. Geh jetzt. Bitte.« 

Maia nickte. Dann wandte sie sich von ihm ab und begann im selben Moment, sich zu verwandeln - wo eben noch ein junges Mädchen gestanden hatte, mit geflochtenen Perlenzöpfen, die auf ihren Schultern auf und ab hüpften, kauerte im nächsten Augenblick ein flinker, kraftvoller Wolf, der sich lautlos in Bewegung setzte, auf allen vier Pfoten quer über die Lichtung huschte und in den Schatten verschwand. 

Simon drehte sich wieder zu den Vampiren um - und hätte fast laut aufgeschrien, da Raphael plötzlich direkt vor ihm stand, nur Zentimeter entfernt. Unter seiner bleichen Haut schimmerte das vielsagende dunkle Adergeflecht, das seinen Hunger verriet. Unwillkürlich musste Simon an die Nacht im Hotel Dumort zurückdenken - Gesichter, die aus den Schatten auftauchten, flüchtiges Gelächter, der Geruch von Blut - und er erschauderte. 

Im nächsten Moment packte Raphael Simon an den Schultern; der Griff seiner trügerisch schmächtigen Hände fühlte sich an wie der von Eisenklauen. »Dreh den Kopf«, knurrte er, »und schau hinauf zu den Sternen. Das wird es leichter machen.« 

»Dann willst du mich also tatsächlich töten«, sagte Simon und stellte überrascht fest, dass er bei dem Gedanken weder Angst noch Anspannung verspürte. Alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen - ein Augenblick perfekter Klarheit. Er nahm jedes Blatt an den Zweigen über ihm wahr, sah jeden winzigen Kiesel auf dem Boden, spürte sämtliche Augenpaare, die auf ihn gerichtet waren. 

»Was hast du denn gedacht?«, erwiderte Raphael - ein wenig traurig, überlegte Simon. »Es ist nichts Persönliches, das musst du mir glauben. Aber wie ich schon sagte, du bist zu gefährlich, um einfach so weiterleben zu dürfen. Wenn ich gewusst hätte, was aus dir werden würde …« 

»Hättest du mich niemals aus diesem Grab klettern lassen - ich weiß«, ergänzte Simon. 

Raphael schaute ihn an. »Wir alle tun, was wir tun müssen, um zu überleben. In dieser Hinsicht gleichen selbst wir den Menschen.« Seine nadelspitzen Zähne glitten wie kleine Rasiermesser aus ihren Scheiden. »Halt still«, sagte er, »dann geht es ganz schnell.« Mit diesen Worten beugte er sich vor. 

»Warte!«, rief Simon, und als Raphael mit einem finsteren Gesichtsausdruck innehielt, wiederholte er mit mehr Nachdruck: »Warte. Es gibt noch etwas, das ich dir zeigen muss.« 

Raphael stieß ein tiefes Fauchen aus. »Du musst dir schon etwas Besseres einfallen lassen, um mich aufzuhalten, Tageslichtler.« 

»Keine Sorge. Es gibt wirklich etwas, das du meiner Meinung nach unbedingt sehen solltest«, erklärte Simon, fasste sich an die Stirn und strich sein Haar zurück. Diese Geste fühlte sich zwar töricht an, fast schon theatralisch, doch während er so dastand, sah er Clarys blasses Gesicht vor sich, das ihn verzweifelt anstarrte, und dachte: Wenigstens habe ich es versucht; zumindest ihr zuliebe habe ich es versucht. 

Raphael reagierte ebenso unvermittelt wie verblüffend. Ruckartig und mit weit aufgerissenen Augen zuckte er zurück, als hätte Simon ihm ein Kruzifix entgegengestreckt. »Wer hat dir das angetan, Tageslichtler?«, stieß er hervor. 

Simon konnte ihn nur sprachlos anstarren. Er wusste zwar nicht, welche Reaktion er erwartet hatte, aber damit hatte er ganz sicher nicht gerechnet. 

»Clary«, sagte Raphael und beantwortete damit seine eigene Frage, »wer sonst! Nur eine Kraft wie ihre würde so etwas zustande bringen - ein Vampir mit einem Runenmal. Noch dazu mit einem Mal wie diesem …« 

»Was für ein Mal meinst du?«, hakte Jacob nach, der schlanke blonde Junge, der direkt hinter Raphael stand. Auch die übrigen Vampire starrten wie gebannt auf Simon und in ihren Gesichtern spiegelte sich eine Mischung aus Verwirrung und wachsender Furcht. Alles, was Raphael verängstigte, jagte natürlich auch ihnen Angst und Schrecken ein, überlegte Simon. 

»Dieses Runenmal …«, setzte Raphael an und schaute Simon dabei unverwandt an, »stammt nicht aus dem Grauen Buch. Dieses Mal ist viel älter - vom Anbeginn der Zeit, gezeichnet vom Schöpfer persönlich.« Er machte eine Bewegung, als wolle er Simons Stirn berühren, brachte es aber offenbar nicht über sich. Seine Finger schwebten einen Augenblick über der Rune, dann ließ er den Arm sinken. »Ich habe von solchen Runenmalen gelesen, doch noch nie eines gesehen. Und dieses hier …« 

»Da sprach der HERR: Fürwahr, wer Kain totschlägt, zieht sich siebenfache Rache zu! Und der Herr gab dem Kain ein Zeichen, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände«, erwiderte Simon. »Du kannst ja versuchen, mich zu töten, Raphael. Aber ich würde es dir nicht empfehlen.« 

»Das Kainsmal?«, fragte Jacob ungläubig. »Die Rune auf deiner Stirn ist das Kainsmal?« 

»Töte ihn«, sagte eine rothaarige Vampirin direkt neben Jacob, mit schwerem Akzent - eine Russin, dachte Simon, aber er war sich nicht sicher. »Töte ihn trotzdem.« 

Auf Raphaels Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Wut und Unglauben. »Das werde ich nicht tun«, fauchte er. »Jeder Schaden, den man ihm zufügt, wird seinem Verursacher siebenfach angetan. Das ist die Macht, die dieses Mal besitzt. Aber wenn einer von euch dieses Risiko eingehen möchte… bitte sehr, nur zu.« 

Niemand bewegte sich oder sagte etwas.

»Das habe ich mir gedacht«, meinte Raphael. Seine Augen musterten Simon. »Wie die böse Königin im Märchen hat Lucian Graymark mir einen vergifteten Apfel gesandt. Wahrscheinlich hat er gehofft, ich würde dich töten und danach die Strafe erhalten, die auf dieses Vergehen folgt.« 

»Nein«, widersprach Simon schnell. »Luke hat keine Ahnung, was ich getan habe. Er hat in gutem Glauben gehandelt. Ihr müsst euren Teil der Abmachung einhalten.« 

»Und das hast du dir freiwillig auftragen lassen?« Zum ersten Mal lag etwas anderes als Verachtung in Raphaels Blick. »Das da ist kein simpler Schutzzauber, Tageslichtler. Weißt du überhaupt, wie Kain bestraft wurde?«, fuhr er mit leiser Stimme fort, als ob er Simon ein Geheimnis mitteilen wollte. »Und nun sollst du verbannt sein aus dem Land … unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden!« 

»Wenn das so ist«, sagte Simon, »werde ich eben unstet und flüchtig sein. Ich werde tun, was ich tun muss.« 

»Und all das … all das nur für die Nephilim«, murmelte Raphael. 

»Nicht nur für die Nephilim«, widersprach Simon. »Ich tue das auch für dich. Selbst wenn du es nicht willst.« Dann hob er die Stimme, damit die schweigenden Vampire um sie herum ihn hören konnten: »Ihr macht euch Sorgen, dass andere Vampire von meinem Schicksal erfahren und denken könnten, dass sie sich mit Schattenjägerblut in ihren Adern ebenfalls dem Licht der Sonne aussetzen könnten. Aber das ist nicht der Grund für meine Fähigkeit. Der Grund liegt vielmehr darin, was Valentin getan hat - er hat ein Experiment durchgeführt. Er hat dies verursacht, nicht Jace. Und dieses Experiment lässt sich nicht wiederholen. Es wird nie wieder geschehen.« 

»Durchaus möglich, dass er die Wahrheit sagt«, meinte Jacob, sehr zu Simons Überraschung. »Ich weiß von mindestens zwei Kindern der Nacht, die in der Vergangenheit vom Schattenjägerblut gekostet haben. Aber keiner von ihnen hat danach eine besondere Vorliebe für Sonnenlicht entwickelt.« 

»Es war eine Sache, den Schattenjägern bisher nicht zu helfen«, wandte Simon sich wieder an Raphael. »Doch nun, da sie mich zu euch geschickt haben …« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. 

»Versuch nicht, mich zu erpressen, Tageslichtler«, schnaubte Raphael. »Aber wenn die Kinder der Nacht einmal eine Abmachung getroffen haben, halten sie sie ein, egal wie schlecht sie dabei auch wegkommen mögen.« Er lächelte säuerlich, wobei seine nadelspitzen Zähne in der Dunkelheit aufblitzten. »Da wäre nur noch eines … eine letzte Sache, die ich von dir einfordere als Beweis dafür, dass du tatsächlich in gutem Glauben gehandelt hast«, fügte er hinzu und betonte seine Worte mit eisiger Kälte. 

»Und was ist das?«, fragte Simon. 

»Wir werden nicht die einzigen Vampire sein, die in Lucian Graymarks Schlacht kämpfen«, sagte Raphael. »Du wirst uns begleiten.« 

 

Die silberne Spirale, die sich vor Jace’ Augen wild gedreht hatte, kam langsam zum Stehen. Sein Mund war mit einer bitteren Flüssigkeit gefüllt. Er musste husten und fragte sich einen Moment, ob er vielleicht ertrank, doch dann bemerkte er, dass er festen Boden unter den Füßen hatte. Er saß aufrecht gegen einen Stalagmiten gelehnt, die Hände hinter dem Rücken gefesselt. Erneut schüttelte ihn ein Hustenanfall und er schmeckte Salz in seinem Mund. Allmählich dämmerte ihm, dass er nicht ertrank, sondern an seinem eigenen Blut zu ersticken drohte. 

»Schon wach, kleiner Bruder?« Sebastian hockte vor ihm, ein Seil in der Hand, mit einem Grinsen wie eine aufblitzende Rasierklinge. »Gut. Ich hatte schon befürchtet, ich hätte dich ein wenig zu früh getötet.« 

Jace wandte den Kopf zur Seite und spuckte einen Mundvoll Blut auf den Boden. Sein Kopf fühlte sich an, als hätte jemand einen Ballon darin aufgepumpt, der jetzt gegen die Innenseiten seines Schädels drückte. Die silberne Spirale über seinem Kopf kam endlich zum Stillstand und entpuppte sich als der leuchtende Sternenhimmel, der durch ein Loch in der Höhlendecke zu sehen war. »Wartest du etwa auf eine besondere Gelegenheit, um mich zu töten? Weihnachten kommt bald.« 

Sebastian musterte Jace mit einem nachdenklichen Blick. »Immer einen schlauen Spruch auf den Lippen. Das hast du bestimmt nicht von Valentin gelernt. Aber was hast du überhaupt von ihm gelernt? Allzu viel übers Kämpfen hat er dir jedenfalls nicht beigebracht.« Lächelnd beugte er sich vor. »Weißt du, was ich zu meinem neunten Geburtstag von ihm bekommen habe? Eine Lektion. Er hat mir eine Stelle im Rücken eines Mannes gezeigt, an der man mit einem einzigen Klingenstoß das Herz durchbohren und gleichzeitig das Rückgrat durchtrennen kann. Und was hast du zu deinem neunten Geburtstag bekommen, kleiner Engelsjunge? Eine Torte?« 

Zum neunten Geburtstag? Jace schluckte schwer. »Dann erzähl mal: In welchem Loch hat er dich versteckt gehalten, während ich im Herrenhaus aufgewachsen bin? Ich kann mich nicht daran erinnern, dich dort je gesehen zu haben.« 

»Ich bin hier im Tal aufgewachsen.« Sebastian deutete mit 

dem Kopf zum Höhlenausgang. »Und wo wir gerade davon reden: Ich erinnere mich auch nicht daran, dich jemals hier gesehen zu haben. Obwohl ich von deiner Existenz wusste. Aber ich wette, du hast nichts von mir gewusst.« 

Jace schüttelte den Kopf. »Valentin hatte offenbar keine Lust, mit dir anzugeben. Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.« 

Sebastians Augen flackerten auf. Jetzt war die Ähnlichkeit mit Valentin nicht mehr zu übersehen: die gleiche ungewöhnliche Kombination aus silberweißem Haar und schwarzen Augen, die gleichen schmalen Wangenkochen, die in einem weniger kantigen Gesicht zart und elegant gewirkt hätten. »Ich weiß alles über dich. Aber du weißt rein gar nichts über mich, oder?«, schnaubte er und erhob sich. »Ich habe dich nur am Leben gelassen, damit du dir das hier ansiehst, kleiner Bruder«, fuhr er fort. »Also schau her und sieh genau zu.« Mit einer blitzschnellen, fast unsichtbaren Bewegung zog er sein Schwert aus der Scheide. Die Klinge über dem Heft aus Silber schimmerte matt und dunkel wie das Engelsschwert und trug ein Muster aus Sternen, das das himmlische Sternenlicht reflektierte, glühend wie Feuer. 

Jace hielt den Atem an. Er fragte sich, ob Sebastian ihn jetzt umbringen würde - doch das hätte er auch schon tun können, während er noch bewusstlos war. Stattdessen beobachtete Jace, wie Sebastian langsam auf die Höhlenmitte zuging, das schwere Schwert locker in der Hand, und seine Gedanken überschlugen sich. Wie konnte es sein, dass Valentin noch einen anderen Sohn hatte? Und wer war dann seine Mutter? Jemand anderes aus dem Kreis? War Sebastian älter oder jünger als Jace? 

Inzwischen hatte Sebastian den gewaltigen rötlichen Stalagmiten im Zentrum der Höhle erreicht. Als er näher kam, schien der Tropfstein zu pulsieren und der Rauch im Inneren wirbelte immer schneller. Sebastian kniff die Augen halb zusammen und hob sein Schwert. Dann sprach er ein paar Worte in einer rau klingenden Dämonensprache und ließ die Klinge schnell und kraftvoll im Bogen hinabsausen. 

Die Spitze des Stalagmiten flog durch die Luft. Das Innere des Tropfsteins war so hohl wie ein Reagenzglas, gefüllt mit schwarzen und roten Rauchschwaden, die nun aufstiegen wie Gas aus einem geplatzten Ballon. Dann ertönte ein Dröhnen - weniger ein Klang als eine Art Druckwelle. Jace spürte ein Knacken in den Ohren und bemerkte plötzlich, dass ihm das Atmen schwerfiel. Er wollte sein Hemd am Kragen lockern, konnte aber seine Hände nicht bewegen: Sie waren immer noch fest hinter dem Rücken gefesselt. 

Sebastian war hinter der rotschwarzen Säule aus brodelndem, wirbelndem Rauch kaum noch zu erkennen. »Sieh her!«, rief er mit glühendem Gesicht. Seine Augen leuchteten, sein weißblondes Haar wehte im aufkommenden Wind und Jace fragte sich, ob sein Vater in seiner Jugend auch so ausgesehen hatte: furchterregend und faszinierend zugleich. »Sieh her und erblicke Valentins Armee!« 

Seine weiteren Worte gingen in einem immer lauter werdenden Tosen unter. Es erinnerte an die Brandung des Ozeans, an das Brechen einer gigantischen Welle, die eine Unmenge Schutt und Geröll mit sich trug, das Zerbersten ganzer Städte, den Ansturm einer großen und bösen Macht. Eine gewaltige Masse wirbelnder, brausender, flatternder Schwärze quoll aus dem zerschlagenen Stalagmiten, stieg auf und strömte wie durch einen Trichter durch das Loch in der Höhlendecke. Dämonen. Sie erhoben sich kreischend, heulend und knurrend, eine brodelnde Menge aus Klauen und Krallen und Zähnen und glühenden Augen. Jace musste daran denken, wie er auf dem Deck von Valentins Schiff gelegen hatte, als der Himmel und die Erde und das Meer um ihn herum sich in einen Albtraum verwandelt hatten - doch das hier war viel schlimmer. Es kam ihm so vor, als wäre die Erde aufgerissen und als würde die Hölle daraus hervorquellen. Die Dämonen verbreiteten einen Gestank wie Tausende verwesender Leichen. Jace verdrehte die Hände hinter dem Rücken und zerrte an den Seilen, bis seine Handgelenke bluteten. Ein säuerlicher Geschmack stieg in seiner Kehle auf und erwürgte hilflos Blut und Gallenflüssigkeit hoch, bis auch der letzte Dämon aufgestiegen und im Himmel über ihnen verschwunden war - eine schwarze Flut des Schreckens, die die Sterne verdunkelte. 

Jace fühlte sich, als ob er für ein paar Minuten das Bewusstsein verloren hätte. Auf jeden Fall hatte es Momente völliger Dunkelheit gegeben, in denen das Kreischen und Heulen über ihm immer leiser geworden war und er im Raum zu schweben schien, irgendwo zwischen Himmel und Erde, seltsam losgelöst und irgendwie … friedlich. 

Doch dieser Augenblick währte nur kurz, denn sein Körper holte ihn ruckartig in die Wirklichkeit zurück, mit schmerzenden Handgelenken und qualvoll nach hinten gedehnten Schultern. Der Gestank der Dämonen war so widerlich, dass er den Kopf zur Seite drehte und sich hilflos auf den Boden übergab. Dann hörte er ein leises Lachen, schaute auf und musste mehrfach schlucken, um die aufsteigende Säure hinabzuzwingen. Sebastian hockte über ihm, mit leuchtenden Augen. »Ist schon gut, kleiner Bruder«, sagte er. »Sie sind verschwunden.« 

Jace tränten die Augen und seine Kehle fühlte sich rau und wund an. »Er sagte Mitternacht«, krächzte er heiser. »Valentin wollte das Tor um Mitternacht öffnen. Es kann noch nicht Mitternacht sein.« 

»In Situationen wie dieser habe ich es immer für besser gehalten, nachträglich um Vergebung zu bitten, als vorher um Erlaubnis zu fragen«, erwiderte Sebastian und blickte in den inzwischen wieder klaren Himmel hinauf. »Von hier aus sollten sie bis zur Brocelind-Ebene höchstens fünf Minuten brauchen - wahrscheinlich deutlich weniger, als Vater benötigt, um den See zu erreichen. Ich möchte dabei sein, wenn ein wenig Nephilim-Blut vergossen wird. Ich möchte sehen, wie sich die Schattenjäger am Boden winden und sterben. Sie verdienen Schande, bevor ihr endgültiger Untergang naht.« 

»Glaubst du wirklich, dass die Schattenjäger den Dämonen unterlegen sind? Schließlich haben sie sich auf den Kampf vorbereiten können …« 

Sebastian unterbrach Jace mit einer abschätzigen Handbewegung. »Ich dachte, du hättest uns zugehört. Hast du den Plan denn überhaupt nicht begriffen? Weißt du immer noch nicht, was mein Vater vorhat?« 

Jace schwieg. 

»Ich bin dir wirklich dankbar dafür, dass du mich in jener Nacht zu Hodge geführt hast«, fuhr Sebastian fort. »Hätte er nicht preisgegeben, dass der Lyn-See der Spiegel ist, nach dem wir suchten, wäre die heutige Nacht wahrscheinlich nicht denkbar gewesen. Denn jeder, der die ersten beiden Insignien der Engel bei sich trägt und vor dem Engelsspiegel steht, kann den Erzengel Raziel herbeirufen, so wie Jonathan Shadowhunter es vor eintausend Jahren getan hat. Und hat man den Engel einmal herbeigerufen, kann man von ihm etwas einfordern. Eine Sache. Eine Aufgabe. Eine … Gunst.« 

»Eine Gunst?« Jace wurde plötzlich eiskalt. »Und Valentin will die Niederlage der Schattenjäger bei Brocelind einfordern?« 

Sebastian stand auf. »Das wäre eine Verschwendung«, sagte er. »Nein. Er wird von Raziel einfordern, dass alle Schattenjäger, die nicht aus dem Engelskelch getrunken haben - also all jene, die nicht seine Anhänger sind - ihre Kräfte verlieren. Sie werden nicht länger Nephilim sein. Und das bedeutet, dass sie aufgrund der Runen, die sie tragen …«, er lächelte, »zu Forsaken werden - eine leichte Beute für die Dämonen. Und alle Schattenwesen, die bis dahin noch nicht geflohen sind, werden ebenfalls schnell ausgelöscht.« 

In Jace’ Ohren sirrte ein schriller, blecherner Ton. Ihm wurde schwindlig. »Nicht einmal Valentin«, keuchte er, »nicht einmal Valentin würde so etwas tun …« 

»Ach, ich bitte dich«, erwiderte Sebastian. »Glaubst du ernsthaft, dass mein Vater das, was er sich vorgenommen hat, nicht auch durchführen wird?« 

»Unser Vater«, sagte Jace. 

Sebastian schaute auf ihn hinab. Sein Haar umgab ihn wie ein weißer Heiligenschein und ließ ihn aussehen wie einen gefallenen Engel, der Luzifer aus dem Himmel gefolgt war. »Was höre ich da?«, fragte er amüsiert. »Betest du etwa?« 

»Nein. Ich sagte >Unser Vater<. Ich meinte Valentin. Nicht dein Vater. Unserer.« 

Einen Moment lang blieb Sebastians Gesicht ausdruckslos; dann verzogen sich seine Mundwinkel zu einem spöttischen Grinsen. »Kleiner Engelsjunge«, höhnte er. »Du bist wahrhaftig ein Narr - genau wie mein Vater stets gesagt hat.« 

»Warum nennst du mich immer so?«, herrschte Jace ihn an. »Und warum faselst du ständig was von Engeln …« 

»Grundgütiger!«, spottete Sebastian. »Du kapierst aber auch gar nichts, oder? Hat mein Vater dir jemals etwas erzählt, das keine Lüge war?« 

Jace schüttelte den Kopf. Während der ganzen Zeit hatte er an dem Seil gezerrt, das um seine Handgelenke gebunden war, doch die Fesselung schien dadurch nur fester geworden zu sein. Er spürte den Pulsschlag seines Blutes in jedem einzelnen Finger. »Woher willst du wissen, dass er nicht dich angelogen hat?«, konterte er. 

»Weil ich sein eigen Fleisch und Blut bin. Ich bin genau wie er. Und wenn er einmal nicht mehr ist, werde ich an seiner Stelle den Rat leiten.« 

»An deiner Stelle würde ich nicht damit angeben, genau so zu sein wie er.« 

»Und auch das unterscheidet uns beide«, sagte Sebastian ausdruckslos. »Ich versuche erst gar nicht, jemand anderer zu sein, als ich tatsächlich bin. Ich benehme mich nicht, als ob ich den Gedanken nicht ertragen könnte, dass mein Vater alles in seiner Macht Stehende tut, um sein Volk zu retten - selbst wenn es gar nicht gerettet werden will oder, wenn du mich fragst, gerettet zu werden verdient. Was für einen Sohn hattest du denn lieber: einen Jungen, der stolz darauf ist, dass du sein Vater bist, oder einen, der in Schande und Furcht feige vor dir im Staub kriecht?« 

»Ich habe vor Valentin keine Angst«, erwiderte Jace. 

»Das musst du auch nicht«, erklärte Sebastian. »Du solltest lieber Angst vor mir haben.« 

In seiner Stimme lag ein Unterton, der Jace im Kampf gegen seine Fesseln innehalten und aufschauen ließ. Sebastian hielt noch immer das schwarz glänzende Schwert in der Hand. Was für eine dunkle, wunderschöne Waffe, dachte Jace, selbst als Sebastian die Schwertspitze so weit absenkte, dass sie auf Jace’ Schlüsselbein ruhte, nur Millimeter von seinem Adamsapfel entfernt. »Und was jetzt?«, fragte er laut und bemühte sich, ein Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken. »Willst du mich töten, während ich gefesselt bin? Hast du so viel Angst beim Gedanken an einen Kampf?« 

Sebastians blasses Gesicht zeigte nicht einmal den Anflug einer Regung. »Du bist keine Bedrohung für mich«, sagte er. »Du bist nur ein Schädling. Eine Plage.« 

»Also, warum bindest du dann nicht meine Hände los?« 

Sebastian starrte ihn an, vollkommen reglos. Er sieht aus wie eine Statue, dachte Jace, wie das Standbild irgendeines längst verstorbenen Prinzen - jemand, der jung gestorben und zutiefst verdorben gewesen war. Und genau darin lag der Unterschied zwischen Sebastian und Valentin: Obwohl sich beide in ihrem kalten, skulpturenähnlichen Äußeren glichen, hatte Sebastian einen Hauch von Verfall an sich - wie etwas, das von innen heraus zerfressen wurde. »Ich bin kein Narr«, sagte Sebastian nun, »und du kannst mich nicht ködern. Ich habe dich nur so lange am Leben gelassen, damit du die Dämonen sehen konntest. Wenn du jetzt stirbst und zu deinen Engel-Vorfahren zurückkehrst, kannst du ihnen sagen, dass es für sie in dieser Welt keinen Platz mehr gibt. Sie haben den Rat im Stich gelassen und der Rat braucht sie nicht länger. Wir haben jetzt Valentin.« 

»Du bringst mich um, damit ich Gott eine Nachricht von dir überbringe?« Jace schüttelte den Kopf, wobei die Schwertspitze über seine Kehle kratzte. »Du bist ja noch verrückter, als ich dachte.« 

Doch Sebastian lächelte nur und schob die Klinge etwas weiter vor. Als Jace schlucken musste, spürte er, wie die Spitze gegen seine Luftröhre drückte. »Wenn du tatsächlich ein Gebet sprechen willst, kleiner Bruder, dann wäre jetzt der richtige Moment dafür.« 

»Ich will kein Gebet sprechen«, entgegnete Jace. »Aber ich habe eine Botschaft für unseren Vater. Wirst du sie ihm überbringen?« 

»Natürlich«, sagte Sebastian leichthin, doch in seinem Tonfall lag etwas, der Hauch einer Unsicherheit, der Jace bestätigte, was er bereits geahnt hatte. 

»Du lügst«, erwiderte er. »Du wirst ihm meine Botschaft nicht überbringen, weil du ihm gar nicht erzählen willst, was du getan hast. Er hat dich nie dazu aufgefordert, mich zu töten, und er wäre alles andere als erfreut, wenn er davon erfährt.« 

»Unsinn. Du bedeutest ihm überhaupt nichts.« 

»Du glaubst also, dass er nie herausfinden wird, was mit mir passiert ist, wenn du mich jetzt und hier tötest? Natürlich kannst du behaupten, dass ich im Kampf gefallen sei, oder vielleicht geht er ja auch einfach davon aus. Aber du täuschst dich, wenn du glaubst, dass er es nicht erfährt. Valentin erfährt immer alles.« 

»Du hast doch keine Ahnung, wovon du redest«, entgegnete Sebastian, aber seine Gesichtszüge wirkten angespannt. 

»Trotzdem wirst du es nicht vor ihm verbergen können«, fuhr Jace fort und versuchte, seinen Vorteil auszunutzen. »Denn es gibt einen Zeugen.« 

»Einen Zeugen?« Einen Moment wirkte Sebastian beinahe überrascht, was Jace als eine Art Sieg für sich verbuchte. »Was redest du da?« 

»Der Rabe«, erklärte Jace. »Er beobachtet uns aus den Schatten heraus - und er wird Valentin alles berichten.« 

»Hugin?« Ruckartig schaute Sebastian nach oben, und obwohl der Rabe nirgendwo zu sehen war, standen ihm die Zweifel deutlich ins Gesicht geschrieben. 

»Wenn Valentin erfährt, dass du mich ermordet hast, während ich gefesselt und hilflos war, wird er von dir angewidert sein«, fuhr Jace fort und bemerkte dabei, wie seine Stimme den Tonfall seines Vaters annahm - sanft und überzeugend, so wie Valentin sprach, wenn er etwas erreichen wollte. »Er wird dich einen Feigling nennen - und er wird dir niemals vergeben.« 

Sebastian schwieg. Wütend starrte er Jace an, die Lippen zusammengekniffen, und in seinen Augen brodelte der Hass wie Gift. 

»Bind mich los«, sagte Jace leise. »Bind mich los und kämpf gegen mich. Es ist der einzige Weg.« 

Sebastians zusammengepresste Lippen zuckten unkontrolliert und Jace fürchtete, dass er diesmal zu weit gegangen war: Sebastian zog das Schwert zurück, hob es über den Kopf, sodass sich das Mondlicht darauf in Tausenden silberner Scherben brach, silbern wie die Sterne, wie die Farbe seines Haares. Dann bleckte er die Zähne - und das Schwert durchschnitt pfeifend die Nachtluft, als er es mit einem Aufschrei in einem Halbkreis hinabsausen ließ. 

 

Clary saß auf den Stufen des Podiums der Abkommenshalle und hielt die Stele in den Händen. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt - die Halle war vollkommen leer und ausgestorben. Nachdem alle Kämpfer durch das Portal verschwunden waren, hatte sie überall nach Isabelle gesucht, sie aber nicht finden können. Aline hatte ihr erzählt, dass Isabelle wahrscheinlich zum Haus der Penhallows zurückgekehrt war, wo sie selbst und ein paar andere Teenager auf mindestens ein Dutzend Kinder aufpassen sollten, die noch zu jung zum Kämpfen waren. Sie hatte versucht, Clary zum Mitkommen zu überreden, doch diese hatte abgelehnt: Wenn sie Isabelle nicht finden konnte, wollte sie lieber allein sein als zusammen mit ein paar völlig Fremden. Zumindest hatte sie das angenommen, doch als sie nun hier saß, empfand sie die Stille und die Leere als immer bedrückender. Trotzdem hatte sie sich nicht vom Fleck bewegt. Sie versuchte alles, um nicht an Jace zu denken, nicht an Simon zu denken, nicht an ihre Mutter oder Luke oder Alec - und sie hatte festgestellt, dass ihr das nur gelang, wenn sie reglos sitzen blieb, auf eine einzige Platte des Marmorbodens starrte und wieder und wieder die Risse im Gestein zählte.

Es waren sechs. Eins, zwei, drei. Vier, fünf, sechs. Clary hörte auf zu zählen und begann wieder von vorn. Eins … 

Plötzlich explodierte der Himmel über ihr. 

Oder zumindest hörte es sich so an. Clary warf den Kopf in den Nacken und schaute nach oben, durch das Glasdach der Halle. Noch vor wenigen Augenblicken war der Himmel schwarz gewesen, doch jetzt sah sie über sich eine brodelnde Mischung aus Flammen und Dunkelheit, durchzogen von einem hässlichen Orange. Und vor diesem Hintergrund bewegte sich etwas - grauenhafte Schatten, die sie gar nicht genau erkennen wollte und in diesem Halbdunkel zum Glück auch nicht genau erkennen konnte. Die flüchtigen Eindrücke waren schlimm genug. 

Das durchsichtige Dach über ihr erzitterte und bog sich wie unter extremer Hitze, während das Dämonenheer vorüberzog. Sekunden später ertönte so etwas wie ein Pistolenschuss und ein gewaltiger Sprung erschien im Glas, der sich rasend schnell in ein Spinnennetz aus zahllosen kleinen Rissen verwandelte. Sofort duckte Clary sich und riss schützend die Arme über den Kopf, als die Glasscherben auch schon wie Tränen auf sie herabfielen. 

 

Sie hatten das Schlachtfeld fast erreicht, als der Donner die Nacht zerriss. Wo die Wälder zuvor noch schweigend und dunkel dagelegen hatten, leuchtete der Himmel im nächsten Augenblick in einem glühenden Orange auf. Simon stolperte und wäre fast gefallen; er konnte sich gerade noch an einem Baumstumpf abstützen. Als er nach oben schaute, traute er seinen Augen kaum. Die anderen Vampire um ihn herum starrten ebenfalls in den Himmel; ihre weißen Gesichter wirkten wie Nachtschattengewächse, die versuchten, das Mondlicht einzufangen, während eine Schreckensvision nach der anderen über ihnen den Himmel durchpflügte. 

 

»Ständig wirst du mir ohnmächtig«, schmollte Sebastian. »Das ist extrem ermüdend.« 

Jace öffnete die Augen und ein heißer Schmerz durchbohrte seinen Kopf. Er hob eine Hand, um sich an die Stirn zu fassen, und stellte dabei fest, dass er nicht länger gefesselt war. Ein Stück Seil hing von seinem Handgelenk herab. Als er seine Finger wieder von der Stirn nahm, waren sie schwarz - von seinem Blut, das im Mondlicht dunkel schimmerte. 

Langsam schaute er sich um. Sie befanden sich nicht mehr in der Höhle; stattdessen lag er im weichen Gras der Talsohle, ganz in der Nähe des Steinhauses. Er konnte das Wasser des kleinen Flusses hören. Zwar filterten knorrige Äste über ihnen das Licht des Mondes, doch er schien noch immer ziemlich hell. 

»Steh auf«, sagte Sebastian. »Du hast fünf Sekunden, bevor ich dich an Ort und Stelle töte.« 

Jace erhob sich so langsam, wie er konnte. Ihm war noch immer schwindlig und er versuchte, sein Gleichgewicht und einen stabilen Stand zu finden, indem er die Hacken seiner Stiefel in den weichen Boden grub. »Warum hast du mich hierhergebracht?« 

»Aus zwei Gründen«, erwiderte Sebastian. »Zum einen hat es mir gefallen, dich bewusstlos zu schlagen. Zum anderen wäre es schlecht für uns beide, wenn Blut auf den Boden der Höhle käme - glaub mir. Und ich habe vor, dein Blut in alle Himmelsrichtungen zu verspritzen.« 

Jace griff nach seinem Gürtel und sein Mut sank. Entweder hatte er die meisten seiner Waffen verloren, als Sebastian ihn durch die Tunnel geschleift hatte, oder - und das war wahrscheinlicher - Sebastian hatte sie weggeworfen. Ihm war nur ein Dolch geblieben, mit einer kurzen Klinge. Damit würde er gegen das Schwert keine Chance haben. 

»Nicht gerade eine beeindruckende Waffe«, meinte Sebastian grinsend; sein Gesicht leuchtete weiß im gesprenkelten Mondlicht. 

»Damit kann ich nicht kämpfen«, sagte Jace und versuchte, dabei so jämmerlich und nervös zu klingen wie nur möglich. 

»Wie schade.« Sebastian kam langsam näher, noch immer breit grinsend. Er hielt sein Schwert bewusst locker, gespielt unbekümmert, während seine Finger einen leisen Rhythmus auf dem Heft klopften. Jetzt oder nie, dachte Jace - eine bessere Gelegenheit würde sich ihm nicht mehr bieten. Blitzschnell holte er aus und schlug Sebastian mit aller Kraft ins Gesicht. 

Knochen knirschten unter seiner Faust. Der Schlag schickte Sebastian zu Boden und er rutschte rückwärts durch den Staub, wobei das Schwert seinen Händen entglitt. Jace machte einen Satz nach vorn und fing es auf und einen Sekundenbruchteil später stand er über Sebastian, die Klinge in der Hand. 

Blut sickerte aus Sebastians Nase und zeichnete eine scharlachrote Spur quer über sein Gesicht. Er hob die Hand, zog seinen Kragen zur Seite und entblößte seine blasse Kehle. »Mach schon«, sagte er. »Töte mich endlich.« 

Jace zögerte. Er hatte nicht zögern wollen, doch dann spürte er ihn wieder: seinen inneren Widerstand, jemanden zu töten, der hilflos vor ihm auf dem Boden lag. Jace musste daran denken, wie Valentin ihn damals in Renwicks Ruine verspottet hatte, weil er es als Sohn nicht über sich brachte, seinen Vater zu töten - doch Jace war selbst dann nicht dazu in der Lage gewesen. Aber Sebastian war ein Mörder, der Max und Hodge auf dem Gewissen hatte… 

Jace hob das Schwert. 

Doch plötzlich schnellte Sebastian vom Boden hoch, schneller als das Auge die Bewegung erfassen konnte. Er schien förmlich durch die Luft zu fliegen, vollführte einen eleganten Rückwärts-Flickflack und trat dabei Jace gegen den Schwertarm. Während er graziös auf dem Gras landete, knapp einen halben Meter von Jace entfernt, segelte das Schwert durch die Luft. Sebastian fing es lachend auf und stieß dann blitzschnell zu, genau in Richtung von Jace’ Herz. Aber Jace machte einen Satz rückwärts, sodass die Klinge ihr Ziel knapp verfehlte. Allerdings war seine Hemdenbrust aufgeschlitzt und er spürte einen stechenden Schmerz und sah, wie Blut aus einer flachen Schnittwunde auf seiner Brust hervorquoll. 

Sebastian lachte leise und kam langsam auf Jace zu, der weiter zurückwich und dabei nach dem so gut wie nutzlosen Dolch an seinem Gürtel tastete. Hastig schaute er sich um, verzweifelt auf der Suche nach etwas, das er als Waffe verwenden konnte - ein langer Stock oder irgendetwas anderes. Doch um ihn herum gab es nichts als Gras, den nahen Fluss und die Bäume über ihm, deren kräftige Äste und Blätter ein dichtes grünes Netz über ihnen spannten. Plötzlich erinnerte er sich an die Maleachi-Anordnung, in der die Inquisitorin ihn gefangen hatte: Sebastian war nicht der Einzige, der gut springen konnte. 

Erneut schlug Sebastian mit dem Schwert nach ihm, doch Jace war bereits gesprungen - geradewegs hoch in die Luft. Der niedrigste Ast befand sich etwa sechs Meter über der Erde; er bekam ihn zu fassen, zog sich daran hoch und schwang sich hinauf. Auf dem Ast kniend sah er unter sich Sebastian, der verwirrt herumfuhr und dann nach oben schaute. Sofort schleuderte Jace den Dolch und hörte Sebastian aufschreien. Außer Atem richtete er sich auf… 

Und entdeckte Sebastian auf dem Ast neben sich. Sein sonst so blasses Gesicht war rot vor Zorn und von seinem Schwertarm tropfte Blut. Offenbar hatte er das Schwert ins Gras fallen lassen, doch damit standen ihre Chancen lediglich gleich, dachte Jace, denn sein Dolch lag ebenfalls dort unten. Allerdings bemerkte er mit leiser Befriedigung, dass Sebastian erstmals wütend wirkte - wütend und überrascht, als hätte ihn ein vermeintlich zahmes Haustier gebissen. 

»Bis hierher war es noch Spaß«, sagte Sebastian. »Doch das ist jetzt vorbei.« 

Damit warf er sich auf Jace, packte ihn an den Hüften und stieß ihn vom Ast. In einer wütenden Umklammerung stürzten die beiden sechs Meter tief- und landeten krachend auf dem Boden, so hart, dass Jace Sterne vor den Augen sah. Doch im nächsten Moment bekam er Sebastians verletzten Arm zu fassen und grub seine Finger tief in die Wunde. Sebastian schrie auf und schlug Jace mit dem Handrücken ins Gesicht. Jace’ Mund füllte sich mit salzig schmeckendem Blut und er musste würgen, während sie beide durch das Gras und den Staub rollten und aufeinander einschlugen. 

Plötzlich traf ihn eisige Kälte wie ein Schock: Sie waren den leichten Abhang zum Fluss hinuntergerollt und lagen nun halb im Wasser. Sebastian schnappte keuchend nach Luft, doch Jace ergriff die Gelegenheit, ihn an der Kehle zu packen, seine Hände darum zu schließen und immer fester zuzudrücken. Würgend bekam Sebastian Jace’ rechtes Handgelenk zu fassen und riss es so brutal zurück, dass die Knochen knackten. Wie aus weiter Entfernung hörte Jace sich selbst schreien und Sebastian nutzte seinen Vorteil und verdrehte die gebrochene Hand gnadenlos, bis Jace von ihm abließ und rückwärts in den kalten Schlamm des Flussufers fiel, gepeinigt von unerträglichen Schmerzen im Arm. 

Einen Sekundenbruchteil später kniete Sebastian halb auf Jace’ Brust, presste ihm das andere Knie in die Rippen und starrte mit höhnischem Grinsen auf ihn hinab. Seine Augen leuchteten weiß und schwarz in seinem mit Schlamm und Blut verschmierten Gesicht und irgendetwas glitzerte in seiner rechten Hand - Jace’ Dolch. Sebastian musste ihn auf dem Boden gefunden haben. Die Spitze zeigte direkt auf Jace’ Herz. 

»Und damit sind wir genau dort, wo wir vor fünf Minuten auch schon waren«, höhnte Sebastian. »Du hattest deine Chance, Wayland. Irgendwelche letzten Worte?« 

Jace starrte ihn an. Sein Mund war voller Blut; Schweiß brannte ihm in den Augen und er fühlte nichts mehr außer tiefer, abgrundtiefer Erschöpfung. Würde er auf diese Weise also sterben? 

»Wayland?«, keuchte er. »Du weilst doch, dass das nicht mein Name ist.« 

»Du hast genauso viel Recht auf diesen Namen wie auf den Namen Morgenstern«, erwiderte Sebastian. Dann beugte er den Oberkörper vor und verstärkte den Druck auf den Dolch, dessen Spitze sich in Jace’ Haut bohrte und einen stechenden Schmerz durch seinen Körper jagte. Sebastians Gesicht war jetzt nur noch Zentimeter entfernt und seine Stimme klang wie ein zischendes Flüstern: »Hast du wirklich geglaubt, du wärst Valentins Sohn? Hast du tatsächlich gedacht, ein jämmerliches, erbärmliches Etwas wie du hätte das Recht, den Namen Morgenstern zu tragen, mein Bruder zu sein?« Mit einem Kopfschütteln warf er sein weißes Haar zurück, das vor Schweiß und Flusswasser klebte. »Du bist ein Wechselbalg«, fuhr er fort. »Mein Vater hat einen Leichnam geschlachtet, um an dich heranzukommen und dich dann in eines seiner Experimente zu verwandeln. Er hat versucht, dich als seinen eigenen Sohn großzuziehen, aber du warst zu schwach, um für ihn von Nutzen zu sein. Aus dir wäre nie ein Krieger geworden. Du warst ein Nichts. Nutzlos. Also hat er dich den Lightwoods angedreht, in der Hoffnung, dass du irgendwann in der Zukunft für ihn von Nutzen sein könntest, als Lockvogel oder als Köder. Er hat dich nie geliebt.« 

Jace blinzelte, um das Brennen aus seinen Augen zu vertreiben. »Dann bist du …« 

»Ich bin Valentins Sohn. Jonathan Christopher Morgenstern. Du hattest nie das Recht, diesen Namen zu tragen. Du bist ein Geist. Ein Heuchler.« Sebastians Augen waren schwarz und glänzend, wie die Rückenpanzer toter Insekten, und plötzlich hörte Jace wie im Traum die Stimme seiner Mutter - die nicht seine Mutter war: Jonathan ist kein normaler Säugling mehr. Er ist nicht einmal ein Mensch - er ist ein Monster. 

»Du bist das also«, keuchte Jace. »Der Junge mit dem Dämonenblut. Nicht ich.« 

»Ganz genau.« Die Dolchspitze drang immer tiefer in Jace’ Haut ein. Sebastians Grinsen wirkte nun wie das Lachen eines Totenschädels. »Und du bist der Engelsjunge. Ständig musste ich mir Geschichten über dich anhören - du mit deinem hübschen Engelsgesicht und deinen guten Manieren und deinem ach so zarten Seelchen. Du konntest noch nicht einmal einen Vogel sterben sehen, ohne gleich loszuheulen. Kein Wunder, dass Valentin sich deinetwegen schämte.« 

»Nein.« Jace vergaß das Blut in seinem Mund, vergaß die Schmerzen. »Du bist derjenige, dessen er sich geschämt hat. Du glaubst, er hätte dich nicht mit zum See genommen, weil er dich hier brauchte, damit du um Mitternacht das Tor öffnest? Als ob er nicht gewusst hätte, dass du nicht so lange abwarten konntest! Er hat dich nicht mitgenommen, weil er sich geschämt hätte, vor den Engel treten und ihm zeigen zu müssen, was er erschaffen hat - ihm das Ding zu zeigen, das er erschaffen hat. Dich zu zeigen.« Jace blickte Sebastian ins Gesicht und spürte, wie Mitleid in seinen Augen aufflackerte - schrecklich und triumphierend zugleich. »Er wusste, dass in dir nichts Menschliches steckt. Vielleicht liebt er dich, aber er hasst dich auch …« 

»Halt ‘s Maul!«, knurrte Sebastian, drückte den Dolch abwärts und drehte dabei das Heft. Mit einem Schrei bog Jace den Rücken durch, während unerträgliche Schmerzen wie Blitze durch seinen Körper zuckten. Ich werde sterben, dachte er. Ich sterbe. Es ist so weit. Er fragte sich, ob sein Herz bereits durchbohrt war. Er konnte sich nicht mehr bewegen, nicht mehr atmen. Jetzt wusste er, wie sich ein Schmetterling fühlen musste, den man auf eine Tafel aufspießte. Er versuchte, zu sprechen, einen Namen zu sagen, aber aus seinem Mund kam nur noch Blut. 

Und doch schien Sebastian es in seinen Augen zu lesen. »Clary. Das hätte ich ja beinahe vergessen. Du liebst sie, nicht wahr? Die Scham über deine hässlichen inzestuösen Lustgefühle muss dich fast umgebracht haben. Zu schade, dass du nicht wusstest, dass sie gar nicht deine Schwester ist. Du hättest den Rest deines Lebens mit ihr verbringen können, wenn du nur nicht so dumm gewesen wärst.« Bewusst langsam beugte er sich weiter vor und drückte die Klinge noch fester abwärts, bis ihre Spitze auf Knochen traf. »Und sie hat dich ebenfalls geliebt«, flüsterte er Jace leise ins Ohr. »Denk daran, während du stirbst.« 

Dunkelheit umflutete Jace’ Blick - wie Tinte, die sich über ein Foto ergießt und das Bild verdeckt. Plötzlich spürte er keinen Schmerz mehr. Er spürte überhaupt nichts mehr, nicht einmal Sebastians Gewicht auf seinem Körper und es kam ihm so vor, als ob er schweben würde. Sebastians Gesicht leuchtete irgendwo über ihm, weiß vor der aufkommenden Dunkelheit, den Dolch hoch erhoben. Irgendetwas Goldglänzendes schimmerte an seinem Handgelenk, als würde er ein Armband tragen. Doch es konnte kein Armband sein, schoss es Jace durch den Kopf, denn es bewegte sich. Überrascht schaute Sebastian auf seine Hand, während der Dolch ihm aus den nun geöffneten Fingern glitt und mit einem hörbaren Klatschen im Schlamm auftraf. 

Und dann fiel seine Hand, am Handgelenk abgetrennt, neben dem Dolch zu Boden. 

Staunend beobachtete Jace, wie Sebastians abgeschnittene Hand über den Boden rollte und schließlich neben einem Paar hoher schwarzer Stiefel liegen blieb. In diesen Stiefeln steckte ein Paar zierlicher Beine, die in einen schlanken Körper übergingen und zu einem vertrauten Gesicht gehörten, eingerahmt von einer Flut schwarzer Haare. Mühsam schaute Jace hoch und sah Isabelle, die mit blutverschmierter Peitsche Sebastian musterte - der seinerseits mit vor Verblüffung offenem Mund auf seinen blutigen Armstumpf starrte. 

»Das war für Max, du Dreckskerl«, stieß Isabelle mit grimmigem Lächeln hervor. 

»Du Miststück«, zischte Sebastian und sprang auf die Füße, während Isabelles Peitsche mit unglaublichem Tempo erneut auf ihn niedersauste, doch er wich ihr aus und war im nächsten Moment verschwunden. Jace hörte ein Rascheln - wahrscheinlich war Sebastian in die Büsche geflohen. Aber es hätte ihn zu viel Kraft gekostet, den Kopf zu heben und ihm nachzusehen. 

»Jace!« Isabelle kniete sich neben ihn, eine schimmernde Stele in der Linken. Tränen glänzten in ihren Augen. Wenn Isabelle mich so anschaut, dachte Jace, muss ich wohl ziemlich übel dran sein. 

»Isabelle«, versuchte er zu sagen. Er wollte sie anflehen, zu verschwinden, davonzulaufen. Denn so großartig und mutig und talentiert sie auch sein mochte - und daran bestand überhaupt kein Zweifel -, hatte sie letztlich nicht die geringste Chance gegen Sebastian; und Sebastian würde sich niemals von einem kleinen Rückschlag wie einer abgetrennten Hand aufhalten lassen. Doch stattdessen kam nur eine Art röchelndes Gurgeln aus Jace’ Mund. 

»Nicht reden«, murmelte Isabelle und Jace spürte ein Brennen auf seiner Brust, dort wo sie die Spitze ihrer Stele ansetzte. »Du wirst schon wieder.« Isabelle bemühte sich um ein tapferes Lächeln. »Wahrscheinlich fragst du dich, was zum Teufel ich hier tue«, fuhr sie fort. »Ich weiß nicht, wie viel du inzwischen weißt … ich habe auch keine Ahnung, was Sebastian dir erzählt hat… aber du bist nicht Valentins Sohn.« Die Heilrune war inzwischen fast fertiggestellt; Jace konnte bereits spüren, wie seine Schmerzen nachließen. Er nickte leicht, versuchte, ihr mitzuteilen: Ich weiß. »Na, jedenfalls hatte ich eigentlich gar nicht vor, dir zu folgen, weil du das in deinem Brief ja geschrieben hattest und ich das auch eingesehen habe. Aber ich konnte dich doch nicht sterben lassen in dem Glauben, du hättest Dämonenblut in dir … und ohne dir zu sagen, dass mit dir alles in Ordnung ist, obwohl, mal ehrlich, wie konntest du so was Dämliches überhaupt jemals glauben …« Isabelles Hand zitterte und sie musste innehalten, um die Rune nicht zu ruinieren. »Außerdem musstest du doch erfahren, dass Clary nicht deine Schwester ist«, fuhr sie etwas weniger aufgewühlt fort. »Denn schließlich … schließlich hast du das immer angenommen. Also habe ich Magnus gebeten, dich für mich zu orten. Dafür haben wir den kleinen Holzsoldaten benutzt, den du Max geschenkt hast. Normalerweise hätte Magnus so was sicher nicht getan, aber sagen wir einfach mal, er war ungewöhnlich guter Laune… und vielleicht lag es ja auch daran, dass ich ihm erzählt habe, Alec hätte ihn um diesen Gefallen gebeten - was genau genommen nicht ganz richtig ist, aber es wird eine Weile dauern, bis er das herausfindet. Und als ich dann erst mal wusste, wo du warst… na ja, Magnus hatte ja bereits ein Portal geöffnet und ich bin ziemlich gut im Anschleichen …« 

Im nächsten Moment schrie Isabelle laut auf. Jace griff nach ihr, doch sie war bereits außerhalb seiner Reichweite, wurde hochgerissen und zur Seite geschleudert. Ihre Peitsche fiel zu Boden. Mühsam kam die Schattenjägerin wieder auf alle viere, doch Sebastian stand schon vor ihr, mit loderndem Hass in den Augen und einen blutigen Stofffetzen um seinen Handstumpf gewickelt. Sofort warf Isabelle sich auf ihre Peitsche, aber Sebastian war schneller: Er trat nach ihr und sein Stiefel traf sie mit voller Wucht gegen den Brustkorb. Jace glaubte, Isabelles Rippen brechen zu hören, als sie zurückprallte und seltsam verkrümmt auf der Seite landete. Und dann hörte er sie schreien - Isabelle, die niemals vor Schmerzen schrie -, als Sebastian sie erneut trat, anschließend nach ihrer Peitsche griff und sie prüfend schwang. 

Entschlossen rollte Jace sich auf die Seite. Die fast fertiggestellte Heilrune hatte geholfen, doch er spürte noch immer starke Schmerzen in der Brust, spuckte Blut und wusste - auf seltsam distanzierte Weise -, dass seine Lunge punktiert sein musste. Er war sich nicht sicher, wie viel Zeit ihm noch blieb - wenige Minuten vielleicht. Langsam kroch er zu der Stelle, wo Sebastian den Dolch hatte fallen lassen, direkt neben den grausigen Überresten seiner Hand. Dann kam er wacklig auf die Füße. Der Geruch von Blut war überall. Sofort musste er an Magnus’ Vision denken - die Welt in Blut getränkt - und seine blutverschmierte Hand schloss sich um den Griff des Dolchs. 

Unsicher machte er einen Schritt vorwärts. Dann noch einen. Jeder Schritt fühlte sich an, als ob er durch Beton waten würde. Isabelle schrie und verfluchte Sebastian, der höhnisch lachend die Peitsche auf ihren Körper hinabsausen ließ. Ihre Schmerzensschreie zogen Jace vorwärts wie einen Fisch am Haken, doch sie schienen bei jedem seiner Schritte schwächer zu werden. Stattdessen begann sich die Welt um ihn herum immer schneller zu drehen, wie auf einem Karussell. 

Nur noch ein Schritt, sagte er sich. Und noch einer. Sebastian hatte ihm den Rücken zugedreht; seine ganze Konzentration war auf Isabelle gerichtet. Wahrscheinlich hielt er Jace schon für tot - was auch beinahe stimmte. Noch ein Schritt… doch Jace schaffte es nicht mehr, konnte sich nicht bewegen, konnte seine Füße nicht dazu zwingen, einen weiteren Schritt vorwärts zu tun. Und wieder überflutete Dunkelheit sein Blickfeld - eine viel tiefere Finsternis als die Schatten des Schlafs. Eine Finsternis, die alles auslöschen würde, was seine Augen je gesehen hatten, und die ihm eine Ruhe bringen würde, die endgültig war. Frieden. Plötzlich musste er an Clary denken -Clary, so wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, schlafend, das Haar auf dem Kopfkissen ausgebreitet, eine Hand unter die Wange geschoben. Damals hatte er gedacht, dass er noch nie zuvor in seinem Leben etwas so Friedvolles gesehen hatte - dabei hatte sie einfach nur geschlafen, so wie wahrscheinlich jeder andere Mensch auch schlief. Nicht der tiefe Frieden, den sie ausstrahlte, hatte ihn überrascht, sondern der Friede, den sie ihm schenkte - ein Frieden, den er nur spürte, wenn er in ihrer Nähe war und der sich mit nichts vergleichen ließ, was er je gespürt hatte. 

Quälende Schmerzen jagten durch sein Rückgrat und überrascht stellte er fest, dass ihn seine Beine irgendwie, ganz ohne sein eigenes Zutun, den letzten, entscheidenden Schritt vorangebracht hatten. Sebastian hielt den Arm hoch erhoben, die Peitsche glänzte in seiner Hand; vor ihm lag Isabelle im Gras, zusammengekrümmt, stumm und ohne jede Regung. »Du miese kleine Lightwood-Schlampe«, zischte Sebastian. »Ich hätte dir dein Gesicht mit dem Hammer zertrümmern sollen, als ich die Möglichkeit dazu hatte…« 

Und dann hob Jace seine Hand mit dem Dolch und rammte die Klinge tief in Sebastians Rücken. 

Sebastian stolperte vorwärts; die Peitsche entglitt seiner Hand. Langsam drehte er sich um und schaute Jace an - und einen Moment lang stieg in Jace der furchteinflößende Gedanke auf, dass Sebastian womöglich wirklich kein Mensch war und dass er ihn überhaupt nicht töten könne. Doch dann wurden die Gesichtszüge des anderen Jungen weich, die Feindseligkeit verschwand aus seinem Blick und das dunkle Feuer in seinen Augen erlosch. Er sah nicht länger aus wie Valentin - eher wie ein ängstlicher kleiner Junge. 

Sebastian öffnete den Mund, als ob er Jace irgendetwas sagen wollte, doch seine Knie gaben bereits unter ihm nach. Er sackte zu Boden und rutschte den Abhang hinunter in den Fluss hinein. Dort blieb er auf dem Rücken liegen und starrte aus blinden Augen in den Himmel über ihm, während das strömende Wasser dunkle Spuren seines Blutes flussabwärts treiben ließ. 

Er hat mir eine Stelle im Rücken eines Mannes gezeigt, an der man mit einem einzigen Klingenstoß das Herz durchbohren und gleichzeitig das Rückgrat durchtrennen kann, hatte Sebastian gesagt. Ich schätze, wir haben in jenem Jahr das gleiche Geburtstagsgeschenk bekommen, großer Bruder, dachte Jace. Nicht wahr? 

»Jace!« Isabelle hatte sich aufgesetzt; ihr Gesicht war voller Blut. »Jace!« 

Er versuchte, sich ihr zuzuwenden, irgendetwas zu sagen, doch er hatte keine Worte mehr. Langsam fiel er auf die Knie. Ein gewaltiges Gewicht lastete auf seinen Schultern und die Erde rief nach ihm: tiefer, tiefer, tiefer. Er hörte gerade noch, wie Isabelle weinend seinen Namen rief, dann trug ihn die Dunkelheit fort. 

 

Simon war ein in zahlreichen Schlachten kampferprobter Veteran - sofern man die Schlachten mitzählte, die er bei Dungeons and Dragons-Spielen geschlagen hatte. Sein Freund Eric liebte Militärgeschichte und hatte sich immer um den kriegerischen Teil ihrer Spieleabende gekümmert, der meist darin bestand, dass Dutzende winziger Figuren in einer auf Packpapier gezeichneten Landschaft gegeneinander antraten. 

Genau so - oder so, wie er sie aus Filmen kannte - hatte Simon sich bisher jede Schlacht vorgestellt: Zwei Gruppen von Menschen rückten in einer Ebene gegeneinander vor, in gerader Linie und nach geordneten Abläufen. 

Doch das hier hätte unterschiedlicher nicht sein können. 

Hier herrschte das reinste Chaos, ein Schlachtfeld voller Gebrüll und Bewegung und der Boden war auch nicht eben, sondern eine Masse aus Matsch und Blut, verrührt zu einer dicken, rutschigen Paste. Simon hatte sich ausgemalt, dass die Kinder der Nacht zum Schlachtfeld vorrücken und dort von irgendeinem Anführer begrüßt werden würden; er hatte sich eingebildet, er würde die Schlacht erst aus einiger Entfernung sehen und zuschauen können, wie beide Seiten aufeinander-prallten. Aber es gab keine Begrüßung und es gab auch keine Seiten. Die Schlacht tauchte unerwartet und bedrohlich aus der Dunkelheit auf, so als ob er durch Zufall aus einer menschenleeren Seitenstraße mitten in einen Aufruhr auf dem Times Square gestolpert wäre - plötzlich wogten Menschenmengen um ihn herum, Hände zerrten an ihm, schoben ihn aus dem Weg und die Vampire verteilten sich und tauchten in den Kampf ein, ohne auch nur noch einen Blick in seine Richtung zu werfen. 

Und dann sah er die Dämonen - sie waren überall - und er hätte sich nie vorstellen können, welche Geräusche sie von sich gaben. Er hörte Kreischen, Heulen und Grunzen, doch noch viel schlimmer waren andere Geräusche - von zerreißendem Fleisch und gieriger Befriedigung. Simon wünschte, er könnte sein Vampirgehör ausblenden, doch das war nicht möglich und die Töne stachen wie Messer in sein Trommelfell. 

Er stolperte über einen Körper, der halb im Schlamm vergraben lag, wandte sich ihm zu, um zu sehen, ob er helfen konnte, und stellte fest, dass der Schattenjäger zu seinen Füßen von den Schultern aufwärts nicht mehr existierte. Weiße Knochen schimmerten vor dem dunklen Erdboden und trotz seines Vampirmagens wurde Simon übel. Ich muss der einzigeVampir sein, dem beim Anblick von Blut schlecht wird, dachte er - und dann traf ihn irgendetwas Hartes in den Rücken und er fiel und rutschte einen schlammigen Abhang hinunter in eine Grube. 

Simon war nicht das einzige Wesen dort unten. Er drehte sich gerade auf den Rücken, als der Dämon drohend über ihm auftauchte. Die Kreatur sah aus wie das Abbild des Todes auf einem mittelalterlichen Holzschnitt - ein lebendiges Skelett mit einem blutbefleckten Beil in der Knochenhand. Simon konnte sich gerade noch zur Seite werfen, als das Beil herabfuhr und sein Gesicht nur um Zentimeter verfehlte. Das Skelett gab ein enttäuschtes Zischen von sich und hob das Beil erneut … 

Und wurde an der Seite von einem knorrigen Holzknüppel getroffen, der das Skelett zerplatzen ließ wie eine mit Knochen gefüllte Pinata. Mit einem Geräusch wie klackernde Kastagnetten zerbrachen die Knochen und verschwanden in der Dunkelheit. 

Ein Schattenjäger stand über Simon - jemand, den er noch nie zuvor gesehen hatte, hochgewachsen, bärtig und blutbefleckt. Der Mann fuhr sich mit einer schlammigen Hand über die Stirn, wobei er dunkle Streifen auf seiner Haut hinterließ. »Alles in Ordnung?«, fragte er. 

Simon nickte verblüfft und rappelte sich auf. »Ja, vielen Dank.« 

Der Fremde beugte sich vor und streckte Simon eine Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen. Simon ergriff sie - und flog in hohem Bogen aus der Grube. Schwankend landete er auf beiden Füßen und wäre beinahe im feuchten Matsch wieder ausgerutscht. »Tut mir leid«, sagte der Fremde mit einem entschuldigenden Lächeln. »Schattenweltlerstärke - mein Partner ist ein Werwolf. Ich bin daran noch nicht gewöhnt.« Er schaute Simon ins Gesicht. »Du bist ein Vampir, richtig?« 

»Woher wissen Sie das?« 

Der Mann lächelte - es war ein erschöpftes Lächeln, aber durchaus nicht unfreundlich. »Deine Fangzähne. Sie kommen heraus, wenn du kämpfst. Ich weiß es, weil…« Er unterbrach sich. Simon hätte den Rest des Satzes für ihn beenden können: … weil ich schon einige Vampire in meinem Leben getötet habe. »Nicht so wichtig. Vielen Dank dafür, dass du mit uns kämpfst«, fuhr der Schattenjäger fort. 

»Ich …«, setzte Simon an, um dem Mann zu sagen, dass er bisher noch gar nicht richtig gekämpft hatte, eigentlich noch gar nichts getan hatte. Doch mehr als dieses eine Wort brachte er nicht heraus, als auch schon irgendetwas unglaublich Riesiges und Krallenbewehrtes mit gezackten Flügeln aus dem Himmel geschossen kam und seine Klauen in den Rücken des Schattenjägers schlug. 

Der Mann stieß noch nicht einmal einen Schrei aus. Sein Kopf flog in den Nacken, als ob er überrascht nach oben schauen würde und sich fragte, was ihn da gerade gepackt hatte - und dann war er verschwunden, fortgerissen in den leeren schwarzen Himmel von einem Strudel aus Zähnen und Krallen. Sein Knüppel fiel polternd zu Boden, genau vor Simons Füße. 

Simon stand wie angewurzelt da. Die ganze Angelegenheit, von dem Augenblick an, in dem er in die Grube gefallen war, hatte noch nicht einmal eine Minute gedauert. Wie betäubt drehte er sich um, starrte auf die Klingen, die um ihn herum durch die Dunkelheit wirbelten, auf die vernichtenden Klauen der Dämonen und auf die Lichtpunkte, die hier und dort durch die Dunkelheit glitten wie Glühwürmchen durch den Nachthimmel - bis ihm klar wurde, worum es sich handelte: das Leuchten von Seraphklingen. 

Er konnte weder die Lightwoods ausmachen noch die Penhallows oder Luke oder irgendjemand anderen, den er kannte. Er war kein Schattenjäger. Und doch hatte dieser Mann ihm dafür gedankt, dass er zusammen mit ihm kämpfte. Es stimmte, was er Clary gesagt hatte: Dies hier war auch seine Schlacht und er wurde hier gebraucht. Aber nicht Simon der Mensch, der sanft war und ein Bücherwurm und der den Anblick von Blut hasste, sondern Simon der Vampir, eine Kreatur, die er selbst kaum kannte. 

Ein wahrer Vampir weiß, dass er tot ist, hatte Raphael gesagt. Aber Simon fühlte sich nicht tot - er hatte sich noch nie lebendiger gefühlt. Plötzlich bemerkte er eine Bewegung an der Seite und sah gerade noch rechtzeitig, wie ein weiterer Dämon bedrohlich vor ihm auftauchte. Echsenähnlich, schuppenbewehrt und mit Zähnen wie ein Nagetier stürzte er sich auf Simon, die schwarzen Krallen ausgefahren. 

Blitzschnell machte Simon einen Satz, traf den massiven Rumpf des Wesens und grub ihm die Fingernägel in die Flanke, bis die Schuppen unter seinem Griff nachgaben. Das Runenmal auf seiner Stirn pulsierte, als er seine Fangzähne in den Nacken des Dämons schlug. 

Es schmeckte scheußlich. Der Regen aus Glasscherben hatte aufgehört. Anstelle der Glaskuppel war nun ein Loch in der Decke, über einen Meter groß, als ob ein Meteor eingeschlagen wäre. Kalte Nachtluft wehte durch den Saal und Clary stand fröstelnd auf und fegte sich die Glassplitter von der Kleidung. 

Das Elbenlicht, das die Halle erleuchtet hatte, war erloschen und nun lag der Raum düster, staubig und voller Schatten vor ihr. Durch die offenen Türen konnte sie das schwache Glühen des verblassenden Portals auf dem Platz erkennen. 

Wahrscheinlich war sie hier nicht länger sicher, überlegte Clary, am besten ging sie zu den Penhallows und schloss sich Aline an. Zögernd setzte sie sich in Bewegung und hatte den Saal etwa zur Hälfte durchquert, als sie Schritte auf dem Marmorboden hörte. Mit klopfendem Herzen drehte sie sich um und entdeckte Malachi, der wie ein langer, spinnenähnlicher Schatten im Halbdunkel auf das Podium zusteuerte. Was machte er noch hier? Hätte er nicht längst mit den anderen Schattenjägern auf dem Schlachtfeld sein sollen? 

Als er sich dem Podium näherte, bemerkte sie etwas, das sie rasch die Hand vor den Mund schlagen ließ, um nicht überrascht aufzuschreien. Auf Malachis Schulter kauerte ein dunkler Schatten. Ein Vogel. Ein Rabe, um genau zu sein. 

Hugo.

Clary duckte sich hinter eine Säule, während Malachi die Stufen zum Podium hinaufstieg. In der Art und Weise, wie er sich umschaute, lag etwas unverkennbar Schuldbewusstes. Offensichtlich beruhigt, dass ihn niemand beobachtete, zog er einen kleinen, glitzernden Gegenstand aus der Tasche und streifte ihn über einen Finger. Ein Ring? Er fasste danach und drehte ihn und Clary erinnerte sich daran, wie Hodge in der Bibliothek des Instituts Jace einen Ring vom Finger gezogen hatte … 

Die Luft vor Malachi begann, schwach zu flimmern, wie vor Hitze. Dann hörte Clary eine Stimme, eine wohlbekannte Stimme, ruhig und kultiviert, jedoch mit einem Anflug von Verärgerung. 

»Was gibt es, Malachi? Ich bin im Augenblick nicht in der Stimmung für ein Schwätzchen.« 

»Valentin, mein Gebieter«, sagte Malachi. Seine übliche Feindseligkeit war einer kriecherischen Unterwürfigkeit gewichen. »Hugin hat mir soeben Neuigkeiten gebracht. Ich nehme an, dass Ihr Euch bereits beim Spiegel befindet und dass er mich deshalb an Eurer Stelle aufsuchte. Ich dachte, dass Euch das interessieren würde.« 

»Nun gut«, erwiderte Valentin kurz angebunden. »Welche Neuigkeiten?« 

»Es geht um Euren Sohn, mein Herr. Euren anderen Sohn. Hugin hat ihn bis ins Tal der Höhle verfolgt. Er könnte Euch sogar durch die Tunnel zum See gefolgt sein.« 

Clarys Hände umkrampften die Säule so stark, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Die beiden sprachen über Jace. 

Valentin räusperte sich. »Hat er seinen Bruder dort getroffen?« 

»Hugin sagt, er habe die beiden kämpfend zurückgelassen.« 

Clary spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Jace im Kampf mit Sebastian? Sie musste daran denken, wie Sebastian Jace in der Garnison hochgehoben und weggeschleudert hatte wie eine Feder. Eine Woge der Panik stieg in ihr auf, so stark, dass ihr die Ohren sausten. Bis sie sich wieder gefangen hatte, war ihr die Antwort Valentins entgangen. 

»Ich sorge mich um diejenigen, die noch zu jung sind zum Kämpfen, aber schon alt genug, um Runen zu tragen«, sagte Malachi gerade. »Sie hatten bei der Entscheidung der Kongregation keine Stimme. Es schiene mir unfair, wenn sie auf dieselbe Weise bestraft würden wie diejenigen, die in den Kampf gezogen sind.« 

»Ich habe das in Erwägung gezogen.« Valentins Stimme klang jetzt tief und dröhnend. »Da Jugendliche oberflächlicher mit Runen versehen sind, dauert es länger, bis sie zu Forsaken werden - mindestens einige Tage. Ich denke daher, dass sich dieser Prozess umkehren lässt.« 

»Während diejenigen unter uns, die aus dem Kelch der Engel getrunken haben, vollkommen unbeeinträchtigt bleiben?« 

»Ich bin sehr beschäftigt, Malachi«, erwiderte Valentin. »Außerdem habe ich dir schon gesagt, dass du nicht in Gefahr schwebst. Ich vertraue diesem Prozess mein eigenes Leben an. Hab also ein wenig mehr Vertrauen.« 

Malachi senkte den Kopf. »Ich habe absolutes Vertrauen, mein Gebieter. Ich habe es seit vielen Jahren bewahrt, in aller Stille, und Euch immer gedient.« 

»Und dafür wirst du belohnt werden«, sagte Valentin. 

Malachi schaute auf. »Mein Gebieter…« 

Doch das Flimmern hatte aufgehört; Valentin war verschwunden. Malachi runzelte die Stirn, stieg dann die Stufen des Podiums hinunter und ging in Richtung Ausgang. Sofort zog Clary sich noch weiter hinter die Säule zurück und hoffte verzweifelt, dass er sie nicht entdecken würde. Ihr Herz raste. Was hatte das alles zu bedeuten? Und was sollte diese Geschichte mit den Forsaken? Die Antwort schlummerte irgendwo in ihrem Kopf, doch sie erschien ihr zu schrecklich, um genauer darüber nachzudenken. Nicht einmal Valentin würde … 

Plötzlich flog Clary irgendetwas ins Gesicht, wie ein dunkler Wirbelsturm. Sie konnte gerade noch schützend die Hände vor das Gesicht reißen, als ihr auch schon die Handrücken aufgeschlitzt wurden. Sie hörte ein wütendes Krächzen und spürte, wie Flügel gegen ihre erhobenen Arme schlugen. 

»Hugin! Genug!«, hallte Malachis scharfer Befehl durch den Saal. »Hugin!« Ein weiteres Krächzen ertönte, gefolgt von einem dumpfen Schlag, und dann trat Ruhe ein. Clary ließ die Hände sinken und sah den Raben reglos zu Füßen des Konsuls liegen - ob betäubt oder tot, konnte sie nicht sagen. Mit einem Schnauben trat Malachi Hugin zur Seite und marschierte dann auf Clary zu. Er packte sie mit finsterer Miene an einem ihrer blutenden Handgelenke und zerrte sie auf die Füße. »Du dumme Göre«, stieß er hervor. »Wie lange hast du schon gelauscht?« 

»Lange genug, um zu wissen, dass Sie dem Kreis angehören«, fauchte Clary und versuchte vergeblich, sich seinem Griff zu entwinden. »Sie sind auf Valentins Seite.« 

»Es gibt nur eine Seite.« Seine Stimme klang wie ein Zischen. »Der Rat ist töricht und fehlgeleitet, wenn er sich mit Halbmenschen und Monstern abgibt. Ich will ihn nur zu früherer Größe zurückführen, ihn wieder reinigen - ein Ziel, dem sich eigentlich jeder Schattenjäger anschließen sollte. Aber nein, sie hören stattdessen auf Narren und Dämonenfreunde wie dich und Lucian Graymark. Und jetzt habt ihr die Blüte der Nephilim zum Sterben in diese lächerliche Schlacht geschickt -eine leere Geste, mit der nichts erreicht werden wird. Valentin hat das Ritual bereits begonnen; bald wird der Engel auferstehen und alle Nephilim werden sich in Forsaken verwandeln. Alle bis auf die wenigen, die unter Valentins Schutz stehen …« 

»Das ist Mord! Er ermordet Schattenjäger!« 

»Kein Mord«, erwiderte der Konsul und seine Stimme bekam einen fanatischen Beiklang, »sondern Läuterung. Valentin wird eine neue Welt für die Schattenjäger erschaffen - eine Welt, aus der Schwäche und Korruption ausgemerzt wurden.« 

»Schwäche und Korruption sind nicht Teil der Welt«, fauchte Clary. »Sie sind Teil mancher Menschen - und daran wird sich nie etwas ändern. Darum braucht die Welt auch gute Menschen, die für ein Gleichgewicht sorgen. Aber die wollt ihr alle umbringen!« 

Malachi schaute sie für einen Moment ehrlich erstaunt an, als ob die Leidenschaft in ihrer Stimme ihn überrascht hätte. »Noble Worte von einem Mädchen, das versucht hat, ihren eigenen Vater zu hintergehen.« Dann riss er sie an sich und verdrehte brutal ihr blutendes Handgelenk. »Ich bin gespannt, ob es Valentin etwas ausmacht, wenn ich dir beibringe zu …« 

Aber Clary sollte nie herausfinden, was er ihr beibringen wollte. Ein dunkler Schatten warf sich zwischen sie, mit ausgebreiteten Flügeln und vorgestreckten Krallen. 

Der Rabe erwischte Malachi mit der Spitze einer Klaue und zog eine blutige Furche quer über sein Gesicht. Mit einem Aufschrei ließ der Konsul Clary los und riss abwehrend die Arme hoch, doch Hugo war bereits umgedreht und hackte wütend mit Schnabel und Klauen auf ihn ein. Malachi stolperte mit rudernden Armen rückwärts, bis er hart gegen die Kante einer Bank prallte, die krachend umstürzte. Im nächsten Moment fiel er mit einem erstickten Schrei der Länge nach darüber - und verstummte urplötzlich. 

Clary lief zu der Stelle, an der Malachi zusammengekrümmt auf dem Marmorboden lag, inmitten einer Blutlache. Er war in einen Haufen Scherben gestürzt, die von der zerbrochenen Decke stammten, und eine der gezackten Spitzen hatte seine Kehle durchbohrt. Hugo kreiste noch immer über der Szenerie und beäugte Malachis Leichnam. Er gab ein triumphierendes Krächzen von sich, während Clary ihn anstarrte - offensichtlich hatten ihm die Tritte des Konsuls gar nicht gefallen. Malachi hätte es besser wissen müssen, dachte Clary: Niemand attackierte ungestraft eine von Valentins Kreaturen, denn sie waren genauso nachtragend wie ihr Herr und Meister. 

Doch jetzt war nicht die Zeit, um lange über Malachi nachzudenken. Alec hatte ihr erzählt, dass rund um den See Schutzschilde errichtet worden waren, die einen Alarm auslösten, wenn irgendjemand in ihrer Nähe ein Portal öffnete. Valentin befand sich wahrscheinlich schon am Spiegel - sie durfte also keine Zeit verlieren. Langsam, die Augen konstant auf den Raben gerichtet, machte Clary ein paar Schritte rückwärts; dann drehte sie sich um und lief in Richtung der Eingangstüren, auf das schimmernde Portal zu. 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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