11

DAS HÖLLENHEER

 

»Valentin«, stieß Jace tonlos hervor. Mit bleichem Gesicht starrte er auf die Stadt hinab. Durch die Rauchschichten hindurch glaubte Clary das Labyrinth der schmalen Gassen von Alicante sehen zu können, die Straßen, auf denen verzweifelte Gestalten wie winzige schwarze Ameisen ziellos hin und her rannten. Doch als sie genauer hinschaute, war nichts zu erkennen, nichts außer dichten schwarzen Qualmwolken und stechendem Brandgeruch.

»Du glaubst, Valentin ist dafür verantwortlich?« Der Rauch kratzte in Clarys Kehle. »Das sieht nach einem Brand aus. Vielleicht ist das Feuer ja von allein ausgebrochen …«

»Das Nordtor steht sperrangelweit offen.« Jace deutete auf ein Bauwerk, das Clary wegen der Entfernung und der wabernden Qualmschwaden kaum erkennen konnte. »Normalerweise ist es immer verschlossen. Außerdem haben die Dämonentürme ihre Leuchtkraft verloren. Die Schutzschilde müssen zusammengebrochen sein.« Mit einem Ruck zog er eine Seraphklinge aus seinem Gürtel und umklammerte das Heft der Waffe so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervorstachen. »Ich muss sofort in die Stadt hinunter.«

Eine entsetzliche Furcht schnürte Clary die Kehle zu. »Simon …«

»Mach dir seinetwegen keine Sorgen, Clary. Man hat ihn bestimmt aus der Garnison evakuiert. Vermutlich geht’s ihm besser als den meisten da unten. Die Dämonen werden ihn wahrscheinlich nicht angreifen; in der Regel lassen sie Schattenweltler in Ruhe.«

»Entschuldige«, flüsterte Clary. »Die Lightwoods … Alec … Isabelle …«

»Jahoel«, rief Jace und das Engelsschwert in seiner bandagierten linken Hand flackerte taghell auf. »Clary, ich möchte, dass du hier oben bleibst. Ich werde später zurückkommen und dich holen.« Der Zorn, der seit ihrem Aufbruch vom Landhaus in seinen Augen gebrannt hatte, war verschwunden. In diesem Moment war Jace durch und durch Krieger. 

Clary schüttelte den Kopf. »Nein. Ich will mit dir kommen.«

»Clary …«, setzte Jace an, verstummte aber abrupt und erstarrte.

Eine Sekunde später hörte Clary es ebenfalls: ein wuchtiges, rhythmisches Dröhnen, über dem eine Frequenz lag, die sie an das Knistern und Krachen eines gewaltigen Feuerwerks erinnerte. Es dauerte eine Weile, bis sie das Geräusch in Gedanken in seine einzelnen Elemente zerlegt hatte, so wie man ein Musikstück in einzelne Noten aufsplittet. »Das sind … das sind …«, stammelte sie.

»Werwölfe.« Jace starrte an ihr vorbei. Als Clary seinem Blick folgte, sah sie sie: eine Flut von Werwölfen, die wie ein fließender Schatten über den nächsten Hügel strömten - die schwarze, wogende Menge nur durchbrochen von funkelnden gelben Augen. Ein Wolfsrudel … mehr als ein Rudel … es mussten Hunderte sein, wenn nicht sogar Tausende. Ihr harsches Bellen und Heulen - das Geräusch, das Clary für knisterndes Feuerwerk gehalten hatte - erfüllte die kalte Nachtluft und schien von Sekunde zu Sekunde anzuschwellen. 

Clary drehte sich der Magen um. Werwölfe waren für sie zwar keine Unbekannten und sie hatte Seite an Seite mit Lykanthropen gekämpft, doch dies war nicht Lukes Rudel - Wölfe, die den Befehl erhalten hatten, sich um sie zu kümmern und ihr keinen Schaden zuzufügen. Clary musste unwillkürlich an die schreckliche Vernichtungskraft von Lukes Rudel in der Schlacht denken und wurde plötzlich von lähmender Furcht gepackt.

Neben ihr stieß Jace einen unterdrückten Fluch aus. Es blieb ihm keine Zeit, eine zweite Waffe zu zücken. Blitzschnell schlang er den freien Arm um Clary und zog sie fest an sich, während er den anderen Arm anhob und die Seraphklinge hoch über ihre Köpfe hielt. Das Licht des Engelsschwertes leuchtete grell in der Dunkelheit. Clary biss die Zähne zusammen …

Und dann waren die Wölfe da, wie eine Woge, die über sie hereinbrach, ein plötzlicher ohrenbetäubender Lärm und wirbelnder Luftschwall. Als die ersten Wölfe des Rudels heranstürmten und zum Sprung ansetzten, mit glühenden Augen und weit aufgerissenen Mäulern, grub Jace seine Finger tief in Clarys Hüfte …

Doch die Wölfe segelten links und rechts an ihnen vorbei, umrundeten die Stelle, an der Jace und Clary wie angewurzelt standen, um gut einen halben Meter. Ungläubig drehte Clary den Kopf, als zwei der Schattenwesen - ein geschmeidiges, gestreiftes Exemplar und ein riesiger Wolf mit stahlgrauem Fell - hinter ihnen sanft auf dem Boden landeten und sofort weiterrannten, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Um Clary und Jace herum wimmelte es nun vor Werwölfen, doch kein einziger krümmte ihnen auch nur ein Haar. Sie stürmten an ihnen vorbei, eine Flut aus Schattenwesen, auf deren Fell sich das Mondlicht in silbern aufblitzenden Reflexionen spiegelte, sodass sie fast wie ein einziger, durchgehender Strom aus gestreckten Gestalten wirkten, der auf Jace und Clary zuraste - und sich dann um sie herum teilte wie Wasser an einem Felsen. Im Grunde hätten die beiden Schattenjäger auch zwei Statuen sein können, so wenig Beachtung schenkten ihnen die Lykanthropen, die mit aufgerissenen Mäulern und fest auf die Straße geheftetem Blick davonstürmten.

Sekunden später waren sie verschwunden. Jace drehte sich um, um dem letzten Wolf nachzusehen, der seinem Rudel hinterherhechelte.

Stille legte sich erneut über die nächtliche Landschaft, nur unterbrochen von den gedämpften Geräuschen der weit entfernten Stadt.

Jace gab Clary frei und ließ gleichzeitig die Seraphklinge sinken. »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte er besorgt.

»Was ist passiert?«, flüsterte Clary. »Diese Werwölfe … sie sind einfach an uns vorbeigerannt…«

»Sie sind auf dem Weg in die Stadt. Nach Alicante«, erklärte er, zog eine zweite Waffe aus seinem Gürtel und hielt sie ihr entgegen. »Hier. Du wirst sie brauchen.«

»Dann lässt du mich also nicht hier allein zurück?«

»Das wäre zwecklos. Im Moment ist es nirgendwo mehr sicher. Aber …« Er zögerte. »Du wirst doch vorsichtig sein, oder?«

»Ja, ganz bestimmt«, versprach Clary. »Und was machen wir jetzt?«

Jace schaute hinab auf die Stadt, die brennend unter ihnen lag. »Jetzt laufen wir.«

 

Mit Jace mitzuhalten, war Clary noch nie leichtgefallen, doch nun, da er beinahe so schnell sprintete, wie er nur konnte, erschien es ihr fast unmöglich. Clary spürte, dass er sich ihretwegen zurückhielt und sein Tempo drosselte, damit sie zu ihm aufschließen konnte … und dass ihn diese Rücksichtnahme einige Überwindung kostete.

Am Fuß des Hügels angekommen, wand sich die Straße schon bald durch einen Hain hoher, dichter Bäume und erzeugte die Illusion eines Tunnels. Als Clary auf der anderen Seite der dunklen Baumallee wieder auftauchte, fand sie sich unmittelbar vor dem Nordtor wieder. Durch den Torbogen konnte sie Rauchschwaden und zuckende Flammen erkennen. Jace stand bereits unter dem hochgezogenen Fallgatter und wartete auf sie. In der einen Hand hielt er Jahoel und in der anderen eine weitere Seraphklinge, doch selbst das gebündelte Licht der beiden Engelsschwerter kam nicht gegen die flackernde Helligkeit der brennenden Stadt hinter ihm an.

»Die Wachen«, keuchte Clary und rannte auf Jace zu. »Warum sind hier keine Wachen?«

»Wenigstens einer von ihnen befindet sich dort drüben in den Bäumen.« Jace deutete mit dem Kinn in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Zerfetzt. Nein, schau nicht hin.« Sein Blick fiel auf Clarys Arm. »Du hältst deine Seraphklinge falsch. Nimm sie besser so in die Hand«, sagte er und demonstrierte es ihr. »Außerdem musst du ihr einen Namen geben. Cassiel wäre nicht schlecht.« 

»Cassiel«, wiederholte Clary, woraufhin das Licht der Klinge sofort hell erstrahlte. 

Jace musterte Clary nüchtern. »Ich wünschte, ich hätte Zeit gehabt, mit dir für eine solche Situation zu trainieren. Eigentlich dürfte niemand mit so wenig Erfahrung wie du überhaupt in der Lage sein, eine Seraphklinge zu führen. Das hat mich schon beim ersten Mal gewundert, aber jetzt, da wir wissen, was Valentin gemacht hat…«

Doch Clary hatte keine Lust, über Valentins Taten zu reden. »Vielleicht hast du ja auch nur Angst, dass ich irgendwann besser wäre als du, wenn du mich anständig trainieren würdest«, sagte sie.

Der Anflug eines Lächelns schlich sich in Jace’ Mundwinkel. »Versprich mir eines, Clary: Was auch immer geschieht, du bleibst in meiner Nähe. Verstanden?«, sagte er dann wieder ernst und schaute durch Jahoels Licht auf sie herab.

Aus irgendeinem Grund musste Clary an den Moment denken, als er sie im Gras vor dem Wayland-Landsitz geküsst hatte. Das Ganze erschien ihr eine Million Jahre zurückzuliegen. Oder wie etwas, das jemand anderem widerfahren war. »Ich werde in deiner Nähe bleiben. Versprochen.«

»Gut.« Er gab ihren Blick frei. »Dann mal los.«

Langsam bewegten sich die beiden Schattenjäger durch das Tor, Schulter an Schulter. Als sie die Stadt betraten, nahm Clary das Schlachtgetümmel plötzlich viel deutlicher wahr, als hörte sie es zum ersten Mal: eine Schallmauer aus menschlichen Schreien und unmenschlichem Heulen, das Klirren von splitterndem Glas und das Knistern von Feuer. Das Ganze ließ ihr das Blut in den Ohren rauschen. 

Der Platz hinter dem Tor war menschenleer, doch auf dem Kopfsteinpflaster lagen mehrere gekrümmte Gestalten. Clary versuchte, nicht genauer hinzusehen. Sie fragte sich, woran es lag, dass man selbst aus einiger Entfernung erkennen konnte, dass jemand tot war und nicht etwa nur bewusstlos. Es schien, als könnte man fühlen, dass irgendetwas den toten Körper verlassen hatte, dass irgendein lebenswichtiger Funke fehlte.

Eilig führte Jace Clary über den Platz - sie spürte, dass ihm das offene, deckungslose Gelände nicht gefiel - und in eine der Gassen. Hier türmten sich weitere Trümmer auf. Schaufensterscheiben waren eingeschlagen, ihr Inhalt über die gesamte Straße verteilt. Außerdem hing ein ekelerregender Geruch in der Luft, der widerliche Gestank von fauligem, verrottendem Müll. Clary kannte diesen Geruch - er bedeutete Dämonen.

»Hier entlang«, zischte Jace leise und führte Clary in eine weitere, noch schmalere Gasse. Im Obergeschoss eines der umliegenden Häuser brannte ein Feuer, während die angrenzenden Gebäude vollkommen unversehrt schienen. Clary fühlte sich auf seltsame Weise an Fotos erinnert, die sie von den schweren Luftangriffen auf London gesehen hatte, wo die Zerstörung auch scheinbar willkürlich vom Himmel herabgeregnet war.

Als sie aufschaute, erkannte sie, dass die Festung hoch über der Stadt in eine schwarze Rauchsäule gehüllt war. »Die Garnison!«, stieß sie leise hervor. 

»Ist garantiert längst evakuiert. Das hab ich dir doch schon gesagt…«, erwiderte Jace, verstummte aber, als sie die schmale Gasse verließen und auf eine breitere Durchgangsstraße hinaustraten. Auf dem Pflaster lagen etliche Leichen, teilweise in Gruppen. Darunter auch kleine leblose Körper. Kinder. Jace stürmte los, während Clary ihm zögernd folgte. Als sie näher kam, sah sie, dass es sich um drei Kleinkinder handelte - glücklicherweise keines alt genug, um Max sein zu können, wie Clary mit einer Mischung aus schlechtem Gewissen und Erleichterung feststellte. Neben den Kindern lag der Leichnam eines älteren Mannes, mit weit ausgebreiteten Armen, als habe er die Kinder mit seinem eigenen Körper schützen wollen.

Plötzlich verhärtete sich Jace’ Gesichtsausdruck. »Clary … dreh dich langsam um. Ganz langsam.«

Clary drehte sich um. Direkt hinter ihr befand sich ein zerbrochenes Schaufenster, in dem einst Kuchen und Gebäck einladend präsentiert worden waren. Doch die bunt verzierten Törtchen lagen nun über das Kopfsteinpflaster verstreut, zwischen glitzernden Glasscherben und Lachen aus Blut, das sich mit der weißen Tortenglasur zu rosafarbenen Schlieren vermischte. Aber dieser Anblick war nicht die Ursache für Jace’ warnenden Unterton: Aus dem Schaufenster kroch irgendetwas heraus - etwas Formloses, Riesiges, Schleimiges. Eine Kreatur, deren länglicher, mit einer doppelten Zahnreihe bestückter Körper von oben bis unten mit Glasur verschmiert und mit Glasscherben übersät war, was auf bizarre Weise an glitzernden Zuckerguss erinnerte.

Der Dämon flutschte aus dem Fenster auf das Pflaster und glitt langsam auf die beiden Schattenjäger zu. Irgendetwas an dieser schleimigen, rückgratlosen Bewegung bereitete Clary Übelkeit. Sie wich zurück, wobei sie fast mit Jace zusammengestoßen wäre.

»Das ist ein Behemoth-Dämon«, erklärte er und starrte auf die sich heranschlängelnde Kreatur. »Diese Dämonen fressen alles.» 

»Etwa auch…?«

»Menschen? Ja«, bestätigte Jace. »Stell dich hinter mich.«

Clary ging ein paar Schritte zurück, den Blick fest auf den Behemoth geheftet. Irgendetwas an diesem Dämon stieß sie noch mehr ab als die Kreaturen, denen sie zuvor begegnet war. Das Wesen sah aus wie eine blinde Schnecke mit Zähnen und es sonderte die ganze Zeit Schleim ab … Aber wenigstens bewegte es sich nicht sehr schnell. Jace dürfte es nicht schwerfallen, diesen Dämon zu beseitigen, überlegte Clary.

Und wie von ihren Gedanken angetrieben, stürzte Jace vor und schwang sein hell leuchtendes Seraphschwert. Mit dem Geräusch einer zerplatzenden, überreifen Frucht bohrte sich die Klinge tief in den Rücken des Behemoth, der daraufhin zu zucken begann, sich dann schüttelte und plötzlich ein paar Meter von seinem ursprünglichen Standort entfernt neu formierte.

Ernüchtert zog Jace sein Schwert zurück. »So was hatte ich schon befürchtet«, murmelte er. »Dieser Dämon ist nur semimateriell. Schwer zu töten.«

»Dann verzichte doch einfach darauf.« Clary zupfte Jace am Ärmel. »Wenigstens bewegt er sich nicht schnell. Lass uns hier verschwinden.« 

Widerstrebend ließ Jace sich von Clary fortziehen. Rasch drehten sie sich um, um in die Richtung zurückzulaufen, aus der sie gekommen waren …

Aber der Dämon ragte bereits vor ihnen auf und versperrte die Straße. Er schien gewachsen zu sein und stieß ein leises Geräusch aus, ein zorniges, insektenartiges Zirpen.

»Ich glaube nicht, dass er uns gehen lassen will«, bemerkte Jace.

»Jace …«

Doch er stürmte bereits auf den Dämon zu und schwang Jahoel in einem weiten Bogen, um der Kreatur den Kopf abzuschlagen. Der Behemoth schüttelte sich indes nur und formierte sich wieder neu - dieses Mal hinter Jace. Dann bäumte er sich hoch auf, sodass seine gerippte Unterseite zum Vorschein kam, die an den Unterleib einer Kakerlake erinnerte. Blitzschnell wirbelte Jace herum, ließ sein Schwert auf den Dämon herabfahren und trennte ihn in der Mitte durch. Grüne Flüssigkeit, so zäh wie Schleim, ergoss sich über die Klinge.

Jace trat einen Schritt zurück, das Gesicht angewidert verzogen. Der Behemoth stieß noch immer das seltsame zirpende Geräusch aus und weitere Flüssigkeit schoss aus ihm hervor, doch er schien völlig unverletzt und bewegte sich zielbewusst auf den jungen Schattenjäger zu.

»Jace!«, rief Clary. »Deine Klinge …«

Sofort warf Jace einen Blick auf sein Schwert. Der Schleim des Behemoth-Dämonen hatte Jahoels Klinge vollkommen überzogen und seine Flamme gedämpft. Während Jace bestürzt darauf starrte, begann das Licht der Waffe zu flackern und erlosch dann vollständig, wie ein mit Sand ersticktes Feuer. Fluchend ließ Jace das Schwert fallen, ehe seine Haut mit dem Dämonenschleim in Berührung kam.

Im nächsten Moment bäumte sich der Behemoth erneut auf, bereit zuzuschlagen. Jace duckte sich - und dann war Clary zur Stelle: Mit gezücktem Engelsschwert stürzte sie sich zwischen Jace und den Dämon und stieß diesem die Klinge mit einem hässlichen, schmatzenden Geräusch in den schwammigen Körper, direkt unterhalb der Zahnreihe.

Keuchend wich Clary einen Schritt zurück, als der Dämon erneut von Krämpfen geschüttelt wurde. Es schien ihn ziemlich viel Kraft zu kosten, sich nach jeder Verletzung neu zu formieren. Es musste ihnen also nur gelingen, ihn oft genug zu verwunden …

Plötzlich bemerkte Clary eine Bewegung am Rande ihres Sichtfelds. Ein graubrauner Schatten, der rasch näher kam. Sie waren nicht länger allein in der Straße.

Jace drehte sich um und seine Augen weiteten sich, »Clary!«, schrie er. »Hinter dir!«

Clary wirbelte herum, Cassiel fest im Griff, als der Wolf auch schon fauchend auf sie zustürzte, mit weit aufgerissenem Maul und gefletschten Zähnen.

Jace brüllte irgendetwas, das Clary jedoch nicht verstand. Allerdings sah sie den wilden Ausdruck in seinen Augen, selbst als sie sich blitzschnell zur Seite warf, um dem springenden Wolf auszuweichen. Mit angespanntem Körper und ausgefahrenen Krallen segelte er an ihr vorbei und erwischte sein Ziel - den Behemoth. Er drückte den Dämon mit seinem Gewicht flach auf den Boden und fiel dann mitgebleckten Zähnen über ihn her. 

Der Dämon kreischte auf - ein hohes, schrilles Pfeifen wie von Luft, die aus einem Ballon entweicht. Doch der Wolf ließ nicht von seinem Opfer ab und rammte die Zähne tief in die schleimige Flanke des Dämons. Der Behemoth schlug um sich und strampelte im verzweifelten Bemühen, sich neu zu formieren und seine Wunden zu heilen, aber der Wolf gab ihm nicht die geringste Gelegenheit dazu. Seine Krallen versanken tief im Fleisch seines Gegners und mit der Schnauze riss er ganze Stücke aus dem gallertartigen Körper des Dämons, wobei er das aus etlichen Wunden spritzende grüne Sekret einfach ignorierte. Endlich begann der Behemoth, ein letztes Mal krampfartig zu zucken: Seine gezackten Zahnreihen klapperten laut - und dann war er verschwunden. Nur noch eine dampfende grüne, zähflüssige Lache auf dem Kopfsteinpflaster zeugte von seiner ehemaligen Existenz.

Der Wolf stieß ein Geräusch hervor - eine Art zufriedenes Brummen - und wandte sich dann Jace und Clary zu, ein silbernes Glitzern in den Augen. Sofort zog Jace eine weitere Waffe aus seinem Gürtel, die eine flammende Trennlinie zwischen die beiden Schattenjäger und den Werwolf zeichnete.

Der Wolf knurrte und das Fell über seinem Rückgrat richtete sich auf.

Clary packte Jace am Arm. »Nein … nicht!«

»Das ist ein Werwolf, Clary …« 

»Aber er hat den Dämon für uns getötet! Er steht auf unserer Seite!« Clary löste sich von Jace, ehe er sie zurückhalten konnte, und näherte sich langsam dem Wolf, mit besänftigend ausgestreckten Händen. »Es tut mir leid«, sagte sie mit leiser, ruhiger Stimme. »Ich meine, es tut uns leid. Wir wissen, dass du uns nicht verletzen willst.« Sie hielt einen Moment inne, die Hände noch immer ausgestreckt, während der Wolf sie mit ausdruckslosen Augen musterte. »Wer… wer bist du?«, fragte Clary, warf dann Jace einen kurzen Blick über die Schulter zu und runzelte die Stirn. »Kannst du das Ding mal wegstecken?«

Jace sah aus, als wollte er ihr unmissverständlich klarmachen, dass man eine hell glühende Seraphklinge im Angesicht einer drohenden Gefahr nicht einfach wegsteckte, doch ehe er etwas sagen konnte, stieß der Wolf ein weiteres tiefes Knurren aus und richtete sich auf. Seine Beine dehnten sich, sein Rückgrat streckte sich und sein Kiefer schrumpfte. Innerhalb weniger Sekunden stand ein Mädchen vor ihnen - ein Mädchen in einem fleckigen weißen Hemdkleid, mit lockigen Haaren, die zu Dutzenden dünner Zöpfe geflochten waren. An ihrer Kehle leuchtete eine Narbe. 

>»Wer bist du?<«, äffte sie Clary empört nach. »Ich fass es nicht, dass du mich nicht erkannt hast. Es ist ja nicht so, als ob wir Wölfe alle gleich aussehen würden. Menschen!« 

Clary stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Maia!«

»Ganz genau. Und wie üblich hab ich euch mal wieder den Arsch gerettet«, erwiderte sie grinsend. Sie war von Kopf bis Fuß mit Blut und Sekret bespritzt, was auf ihrem Wolfsfell nicht deutlich zu erkennen gewesen war, auf ihrer braunen Haut aber nun deutlich hervortrat. Angewidert drückte sie eine Hand auf den Magen. »Ist das ekelhaft! Ich kann nicht glauben, dass ich den ganzen Dämon verdrückt habe. Hoffentlich reagiere ich nicht allergisch darauf.«

»Aber was machst du denn hier?«, fragte Clary. »Nicht, dass wir uns nicht freuen würden, dich zu sehen, aber…«

»Wisst ihr das denn nicht?« Verwirrt schaute Maia von Clary zu Jace und wieder zurück. »Luke hat uns kommen lassen.«

»Luke?« Clary starrte sie sprachlos an. »Luke ist… hier?«

Maia nickte. »Er hat sich mit uns, seinem Rudel, in Verbindung gesetzt und noch einer Reihe anderer Schattenwesen -eigentlich mit jedem, der ihm einfiel - und uns befohlen, nach Idris zu kommen. Also sind wir bis zur Grenze geflogen und von dort aus weitergereist. Einige der anderen Rudel haben sich in den Wald teleportieren lassen, um sich hier mit uns zu treffen. Luke meinte, die Nephilim würden unsere Hilfe brauchen …« Sie verstummte einen Moment und fragte dann: »Habt ihr das denn nicht gewusst?«

»Nein«, erwiderte Jace, »und ich bezweifle, dass die Ratsmitglieder davon wissen. Sie sind nicht besonders gut darin, von Schattenweltlern Hilfe anzunehmen.«

Maia richtete sich auf und ihre Augen funkelten zornig. »Wenn wir nicht gewesen wären, wärt ihr alle abgeschlachtet worden. Die Stadt wurde von niemandem verteidigt, als wir hier eintrafen …« 

»Nein, nicht«, unterbrach Clary Jace, der bereits zu einer Antwort ansetzte, und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Ich bin dir wirklich sehr, sehr dankbar, dass ihr uns gerettet habt, Maia. Und das Gleiche gilt für Jace - auch wenn er so stur ist, dass er sich lieber eine Seraphklinge ins Auge rammen würde, als es zuzugeben. Und du sag jetzt nicht, dass du das gerne sehen würdest«, fügte sie hastig hinzu, als sie den Ausdruck auf dem Gesicht des anderen Mädchens sah, »denn das bringt uns überhaupt nicht weiter. Wir müssen jetzt erst mal zum Haus der Penhallows, um nach den Lightwoods zu sehen, und dann muss ich Luke finden …« 

»Die Lightwoods? Ich glaube, die sind in der Halle des Abkommens. Jedenfalls ist das der Ort, zu dem wir alle Einwohner der Stadt bringen. Ich meine, ich hätte Alec dort gesehen«, überlegte Maia, »zusammen mit diesem Hexenmeister… der mit den stachligen Haaren. Magnus.«

»Wenn Alec in der Halle ist, müssen die anderen ebenfalls dort sein.« Der Ausdruck enormer Erleichterung auf Jace’ Gesicht weckte in Clary den Wunsch, ihm eine Hand auf die Schulter zu legen, doch sie hielt sich zurück. »Sehr clever, alle in die Halle zu bringen - sie ist nämlich durch Runen geschützt.« Entschlossen schob er die glühende Seraphklinge in seinen Gürtel zurück. »Los, kommt. Worauf wartet ihr noch?«

 

Clary erkannte das Innere der Abkommenshalle in dem Moment, in dem sie sie betraten. Es handelte sich um den Saal, von dem sie geträumt hatte, in dem sie mit Simon und dann mit Jace getanzt hatte.

Dies ist der Ort, an den ich mich mithilfe des Portals hatte bringen wollen, überlegte sie und betrachtete die blassweißen Wände und die hohe Decke mit dem riesigen Oberlicht, durch das sie den Nachthimmel erkennen konnte. Aber trotz seiner Größe erschien ihr der Saal irgendwie kleiner und schäbiger als in ihrem Traum. Zwar plätscherte und sprudelte der Brunnen mit der Meerjungfrau in der Mitte des Raums noch immer, doch er wirkte stumpf und schmuddelig. Auf seinen Stufen hockten und lagen zahllose Menschen, die meisten mit Verbänden und Bandagen. Im ganzen Saal wimmelte es vor Schattenjägern. Leute hasteten eilig hin und her und hielten nur inne, um einem der Verwundeten ins Gesicht zu schauen, als hofften sie darauf, in der Menge einen Freund oder Verwandten zu entdecken. Der Boden war übersät mit Schlamm, der sich mit Blut und Dreck zu einem schmierigen Matsch vermischt hatte. 

Doch am meisten berührte Clary die Stille. In der Welt der Irdischen hätte in einer solchen Situation, unmittelbar nach einer Katastrophe, absolutes Chaos geherrscht; Leute hätten geschrien, geschluchzt und durcheinandergerufen. Doch in diesem Saal herrschte fast völlige Stille. Die Menschen saßen schweigend da, teilweise den Kopf in die Hände gestützt, teilweise ins Leere starrend. Kinder drängten sich dicht an ihre Eltern, doch keines von ihnen weinte.

Während Clary sich in Begleitung von Jace und Maia durch den Saal bewegte, fiel ihr noch etwas auf: In der Nähe des Brunnens stand eine Gruppe ungepflegt wirkender Leute in einem lockeren Kreis. Sie schienen sich irgendwie vom Rest der Menge zu unterscheiden, und als Maia sie erblickte und lächelte, begriff Clary auch, warum.

»Mein Rudel!«, stieß Maia erfreut hervor und stürmte los. Nach ein paar Metern warf sie noch einmal einen kurzen Blick über die Schulter und rief Clary zu: »Ich bin mir sicher, dass Luke auch irgendwo hier sein muss!« Damit verschwand sie in der Gruppe, die sich um sie herum schloss.

Einen kurzen Moment fragte Clary sich, was wohl passieren würde, wenn sie dem Werwolfmädchen in den Kreis folgte. Würde man sie als Lukes Freundin willkommen heißen oder nur misstrauisch als eine weitere Schattenjägerin betrachten?

»Nein, nicht«, sagte Jace, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Das ist keine gute …«

Doch Clary sollte nicht herausfinden, was Jace sagen wollte, da in diesem Moment jemand »Jace!« schrie und Alec auftauchte. Atemlos bahnte er sich einen Weg durch die Menge. Seine dunklen Haare waren vollkommen zerzaust und Blut klebte an seiner Kleidung, aber seine Augen strahlten in einer Mischung aus Erleichterung und Zorn. Aufgebracht packte er Jace am Revers seiner Jacke. »Was ist mit dir passiert?« 

Jace zog eine beleidigte Miene. »Was soll denn mit mir passiert sein?«

Alec schüttelte ihn ärgerlich. »Du hast gesagt, du würdest spazieren gehen! Welche Art von Spaziergang dauert sechs Stunden?« 

»Ein langer?«, schlug Jace vor.

»Ich könnte dich umbringen«, erwiderte Alec und ließ Jace’ Jacke los. »Ich hätte nicht übel Lust dazu.«

»Aber das würde etwas über das Ziel hinausschießen, meinst du nicht?«, warf Jace ein und schaute sich um. »Wo sind die anderen? Isabelle und …«

»Isabelle und Max sind noch bei den Penhallows, zusammen mit Sebastian«, erklärte Alec. »Mom und Dad haben sich schon auf den Weg gemacht, um sie zu holen. Und Aline ist hier im Saal mit ihren Eltern, aber sie ist im Moment nicht besonders gesprächig. Sie hatte eine ziemlich üble Begegnung mit einem Schuppendämon, unten am Kanal. Aber Izzy konnte sie retten.«

»Und Simon?«, fragte Clary besorgt. »Hast du Simon gesehen? Er müsste mit den anderen aus der Garnison gekommen sein.«

Alec schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ihn nicht gesehen. Aber ich habe auch den Inquisitor und den Konsul noch nicht gesehen. Wahrscheinlich ist Simon bei einem von den beiden. Vielleicht haben sie unterwegs noch irgendwo haltgemacht oder …« Er verstummte, als ein Raunen durch die Menge ging.

Clary sah, dass die Gruppe der Lykanthropen ruckartig aufschaute, wie eine Meute Jagdhunde, die Beute wittert. Rasch drehte sie sich um …

… und entdeckte Luke, der erschöpft und blutverschmiert durch die schweren Flügeltüren der Halle trat.

Sofort stürmte sie auf ihn zu. Vergessen war jeder Gedanke daran, wie betrübt sie gewesen war, dass er sie bei Amatis zurückgelassen hatte, und wie wütend er gewesen war, dass Clary sie beide nach Idris gebracht hatte. Clary war nur noch unendlich erleichtert, ihn zu sehen. Einen Moment schaute Luke überrascht, als sie auf ihn zustürzte, doch dann lächelte er, streckte die Arme aus, hob sie hoch und umarmte sie so wie früher, als sie noch ein kleines Kind gewesen war. Er roch nach Blut und Flanell und Rauch und Clary schloss kurz die Augen und dachte daran, wie Alec Jace in dem Moment, in dem er ihn in der Halle entdeckt hatte, gepackt und an sich gezogen hatte. Denn das war genau das, was man mit seinen Familienmitgliedern tat, wenn man sich furchtbare Sorgen um sie gemacht hatte: Man packte sie und drückte sie fest an sich und sagte ihnen, wie sauer man auf sie gewesen war. Aber das war kein Problem: Denn ganz gleich wie wütend man auch immer gewesen sein mochte - sie gehörten noch immer zur Familie. Und es stimmte, was sie zu Valentin gesagt hatte: Luke war Teil ihrer Familie. 

Behutsam setzte er sie wieder ab und zuckte dabei leicht zusammen. »Vorsichtig«, sagte er. »Ein Lauerdämon hat mich unten bei der Merryweather-Brücke an der Schulter erwischt.« Dann legte er Clary die Hände auf die Schultern und studierte ihr Gesicht. »Aber dir geht’s gut, oder?«

»Was für eine rührende Szene«, sagte in diesem Moment eine kalte Stimme.

Clary drehte sich um, Lukes Hand noch immer auf ihrer Schulter. Hinter ihr stand ein großer Mann in einem blauen Umhang, der um seine Füße wirbelte, als er nun auf sie zukam. Sein Gesicht unter der Kapuze wirkte wie das Antlitz einer gemeißelten Statue: kantige Züge, hohe Wangenknochen und Augen mit schweren Lidern. »Lucian«, sagte er, ohne Clary eines Blickes zu würdigen. »Ich hätte es wissen müssen, dass du hinter alldem hier steckst… hinter dieser Invasion.« 

»Invasion?«, wiederholte Luke und plötzlich stand sein gesamtes Rudel geschlossen hinter ihm. Die Lykanthropen hatten sich so schnell und leise bewegt, dass es den Anschein hatte, als wären sie aus dem Nichts aufgetaucht. »Wir sind nicht diejenigen, die deine Stadt überfallen haben, Konsul. Das war Valentins Werk. Wir versuchen nur zu helfen.« 

»Der Rat braucht keine Hilfe«, fauchte der Konsul. »Jedenfalls nicht von deinesgleichen. Durch dein unerlaubtes Betreten der Gläsernen Stadt hast du bereits gegen das Gesetz verstoßen - defekte Schutzschilde hin oder her. Das müsste dir bekannt gewesen sein.«

»Ich denke, es ist ziemlich offensichtlich, dass der Rat doch Hilfe benötigt. Wenn wir nicht gekommen wären, hätten noch viel mehr von euch ihr Leben verloren.« Luke schaute sich im Saal um; mehrere Gruppen von Schattenjägern waren näher herangerückt, um herauszufinden, was da vor sich ging. Einige begegneten Lukes Blick mit hoch erhobenem Kopf, während andere die Augen senkten, als würden sie sich schämen. Doch keiner von ihnen wirkte wütend, stellte Clary überrascht fest. »Ich habe die Stadt nur betreten, um etwas zu beweisen, Malachi«, fuhr Luke fort. 

»Und das wäre?«, erwiderte Malachi mit kalter Stimme.

»Dass ihr uns braucht«, sagte Luke. »Um Valentin zu schlagen, braucht ihr unsere Hilfe. Und zwar nicht nur die der Lykanthropen, sondern aller Schattenweltler.«

»Was können Schattenwesen schon gegen Valentin ausrichten?«, konterte Malachi verächtlich. »Lucian, du müsstest es eigentlich besser wissen. Schließlich warst du mal einer von uns. Seit Menschengedenken haben wir sämtlichen Gefahren immer allein getrotzt und die Welt allein vor dem Bösen geschützt. Wir werden Valentins Heer mit einem eigenen Heer entgegentreten. Die Schattenwesen wären gut beraten, sich da rauszuhalten. Wir sind Nephilim; wir tragen unsere Kämpfe alleine aus.«

»Das entspricht nicht ganz der Wahrheit, oder?«, meldete sich eine samtige Stimme zu Wort und aus der Menge trat Magnus Bane hervor. Er trug einen langen, glitzernden Mantel sowie mehrere Ohrringe und musterte Malachi mit einem spöttischen Lächeln. Clary hatte keine Ahnung, woher er plötzlich aufgetaucht war. »In der Vergangenheit habt ihr Schattenjäger die Hilfe der Hexenmeister bei mehr als nur einer Gelegenheit in Anspruch genommen - und auch gar nicht schlecht dafür bezahlt.« 

Malachi zog eine finstere Miene. »Ich kann mich nicht entsinnen, dass der Rat dich in die Gläserne Stadt eingeladen hätte, Magnus Bane.«

»Das hat er auch nicht«, erwiderte Magnus seelenruhig. »Aber eure Schutzschilde sind zusammengebrochen.«

»Tatsächlich?« Die Stimme des Konsuls triefte vor Sarkasmus. »Das ist mir gar nicht aufgefallen.«

Magnus machte ein besorgtes Gesicht. »Aber das ist ja schrecklich. Das hätte man dir nun wirklich sagen sollen.« Er warf Luke einen Blick zu. »Sag ihm, dass die Schutzschilde zusammengebrochen sind.«

Aufgebracht wandte Luke sich an den Konsul: »Herrgott noch mal, Malachi, die Schattenwesen sind stark und wir sind viele. Ich hab dir doch gesagt, dass wir euch helfen können.«

»Und ich habe dir gesagt, dass wir eure Hilfe weder brauchen noch wollen!«, entgegnete der Konsul mit erhobener Stimme. 

»Magnus?« Clary schob sich verstohlen neben den Hexenmeister. Inzwischen hatte sich eine kleine Menge um Luke und den Konsul versammelt und verfolgte ihre hitzige Diskussion aufmerksam; Clary war sich ziemlich sicher, dass niemand ihr Beachtung schenkte. »Magnus!«, flüsterte sie. »Ich muss mit dir reden … solange die anderen noch mit sich selbst beschäftigt sind.«

Magnus warf ihr einen fragenden Blick zu, nickte dann und zog sie beiseite, wobei er wie ein Büchsenöffner durch die Menge schnitt. Keiner der versammelten Schattenjäger oder Werwölfe schien sich dem über einen Meter achtzig großen Hexenmeister mit den Katzenaugen und dem schiefen Grinsen in den Weg stellen zu wollen. Eilig drängte Magnus Clary in eine etwas ruhigere Ecke des Saals. »Worum geht’s?«

»Ich habe das Buch.« Vorsichtig zog Clary es aus der Tasche ihres völlig verdreckten Umhangs und hinterließ dabei schmutzige Fingerspuren auf dem elfenbeinweißen Umschlag. »Ich war in Valentins Landhaus. Das Buch stand in der Bibliothek, genau wie du gesagt hast. Und …«Sie verstummte und dachte an den gefangen gehaltenen Engel. »Ach, schon gut«, murmelte sie und hielt ihm das Weiße Buch entgegen. »Hier. Nimm es.«

Mit seinen langen Fingern pflückte Magnus ihr das Buch aus der Hand und durchblätterte rasch die Seiten, wobei seine Augen immer größer wurden. »Das ist ja noch viel besser, als ich gedacht habe«, verkündete er hocherfreut. »Ich kann es gar nicht erwarten, einen dieser Zaubersprüche auszuprobieren.«

»Magnus!« Clarys scharfe Stimme brachte ihn wieder auf den Boden der Realität zurück. »Zuerst meine Mutter. Du hast es versprochen.«

»Und ich halte mich an meine Versprechen.« Der Hexenmeister nickte feierlich, doch in seinen Augen schimmerte irgendetwas - etwas, dem Clary nicht ganz traute.

»Da ist noch was«, fügte sie hinzu und dachte an Simon. »Ehe du abreist…«

»Clary!« Eine atemlose Stimme drang über ihre Schulter. Überrascht wirbelte Clary herum und entdeckte Sebastian, der auf sie zusteuerte. Er trug seine Schattenjägermontur, die ihm erstaunlich gut stand - als wäre er zum Kampf geboren, dachte Clary. Während alle anderen blutverschmiert und ziemlich mitgenommen aussahen, wirkte er vollkommen unversehrt - abgesehen von zwei roten Kratzern, die sich über seine linke Wange zogen, als hätte irgendeine Kreatur mit langen Krallen nach ihm ausgeschlagen. »Ich habe mir Sorgen um dich gemacht. Auf dem Weg hierher bin ich an Amatis’ Haus vorbeigekommen, aber du warst nicht da und sie meinte, sie hätte dich auch nicht gesehen …«

»Ach, mir geht’s gut.« Clary schaute kurz von Sebastian zu Magnus, der das Weiße Buch fest gegen seine Brust gedrückt hielt. Sebastian musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Und was ist mit dir?«, fragte Clary. »Dein Gesicht…« Vorsichtig berührte sie seine Verletzung. Aus den Kratzspuren quoll noch immer Blut.

Sebastian zuckte die Achseln und schob ihre Hand behutsam beiseite. »Eine Dämonin hat mich in der Nähe der Penhallows erwischt. Aber mir geht’s gut. Was gibt’s Neues?«

»Nichts. Ich unterhalte mich nur gerade mit Ma… Ragnor«, verbesserte Clary sich hastig, als ihr plötzlich mit Schrecken bewusst wurde, dass Sebastian keine Ahnung hatte, wer Magnus tatsächlich war.

»Maragnor?« Sebastian zog die Augenbrauen noch höher. »Okay. Na dann.« Neugierig schaute er in Richtung des Weißen Buches. Clary wünschte, Magnus würde es wegstecken - so wie er es hielt, waren die vergoldeten Buchstaben auf dem Umschlag deutlich zu erkennen. »Was ist das?«, fragte Sebastian gespannt.

Magnus musterte den Jungen einen Moment aus nachdenklich zusammengekniffenen Katzenaugen. »Ein Zauberbuch«, sagte er schließlich. »Nichts, was für einen Schattenjäger von Interesse wäre.«

»Also, meine Tante sammelt zufälligerweise Zauberbücher. Darf ich mal einen Blick reinwerfen?«, erwiderte Sebastian und streckte die Hand aus. Doch ehe Magnus diese Bitte abschlagen konnte, hörte Clary, wie jemand ihren Namen rief, und Jace und Alec kamen auf sie zu, offensichtlich nicht besonders erfreut, Sebastian hier zu sehen.

»Ich dachte, ich hätte dir gesagt, du sollst bei Max und Isabelle bleiben!«, fuhr Alec ihn an. »Hast du sie etwa allein gelassen?«

Langsam wandte Sebastian den Blick von Magnus ab und schaute zu Alec. »Deine Eltern sind nach Hause gekommen, genau wie du gesagt hast.« Seine Stimme klang kalt. »Sie haben mich hierhergeschickt, um dir zu sagen, dass es ihnen gut geht, und das Gleiche gilt für Izzy und Max. Sie sind auf dem Weg hierher.«

»Schönen Dank auch, dass du diese Nachricht sofort nach deinem Eintreffen überbracht hast«, warf Jace sarkastisch ein.

»Als ich hier angekommen bin, habe ich euch nicht gesehen«, erwiderte Sebastian. »Aber ich habe Clary gesehen.«

»Weil du nach ihr Ausschau gehalten hast.«

»Weil ich mit ihr reden muss. Und zwar allein.« Er wandte sich wieder Clary zu und der eindringliche Ausdruck in seinen Augen stimmte sie nachdenklich. Sie wollte ihm schon sagen, dass er sie in Jace’ Gegenwart nicht so ansehen solle, doch das hätte übertrieben und verrückt geklungen, und möglicherweise hatte er ihr ja tatsächlich etwas Wichtiges mitzuteilen. »Clary?«, hakte Sebastian nach.

Sie nickte. »Also gut. Aber nur eine Sekunde«, sagte sie und sah, wie sich Jace’ Ausdruck veränderte. Er zog zwar keine finstere Miene, doch sein Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos. »Ich bin gleich wieder zurück«, fügte Clary hinzu, aber Jace schaute gar nicht in ihre Richtung. Seine Augen waren fest auf Sebastian geheftet. 

Sebastian packte Clary am Handgelenk und zog sie von den anderen fort, in Richtung der dichten Menge in der Saalmitte. Als sie einen raschen Blick über die Schulter warf, sah sie, dass die anderen ihr nachschauten, sogar Magnus. Sie sah, dass der Hexenmeister ein einziges Mal den Kopf schüttelte, eine winzige, kaum wahrnehmbare Bewegung.

Sofort widersetzte Clary sich Sebastians Bemühungen, sie fortzuzerren. »Sebastian. Hör auf. Was ist los? Was wolltest du mir sagen?« 

Langsam drehte er sich zu ihr um, ihr Handgelenk noch immer fest im Griff. »Ich dachte, wir könnten kurz nach draußen gehen«, erwiderte er. »Uns irgendwo ungestört unterhalten …«

»Nein. Ich will lieber hierbleiben«, sagte Clary. Sie hörte, wie ihre Stimme dabei leicht zitterte, als wäre sie sich nicht sicher. Aber sie war sich sicher. Entschlossen riss sie ihre Hand zurück, entwand sie seiner Umklammerung. »Was ist los mit dir?«

»Dieses Buch«, setzte Sebastian an. »Das, das Fell in den Fingern hielt - das Weiße Buch. Weißt du, woher er es hat?«

»Darüber hast du mit mir reden wollen?« 

»Dieses Buch enthält eine Sammlung außerordentlich machtvoller Zaubersprüche«, erklärte Sebastian. »Es ist ein Buch, das … na ja, ein Buch, nach dem viele Leute schon sehr lange suchen.«

Clary schnaubte genervt. »Also schön. Hör zu, Sebastian«, sagte sie. »Der Mann dort drüben ist nicht Ragnor Fell, sondern Magnus Bane.« 

»Das ist Magnus Bane?« Sebastian wirbelte herum und starrte den Hexenmeister an, ehe er sich mit einem vorwurfsvollen Blick in den Augen erneut Clary zuwandte. »Und das hast du die ganze Zeit gewusst, oder? Du kennst Bane, stimmt’s?« 

»Ja, und es tut mir leid. Aber er wollte nicht, dass ich es dir sage. Außerdem ist er der Einzige, der mir helfen kann, meine Mutter zu retten. Deswegen habe ich ihm auch das Weiße Buch gegeben. Darin steht ein Zauberspruch, der ihr vielleicht helfen könnte.«

Tief in Sebastians Augen blitzte irgendetwas auf und Clary verspürte wieder dasselbe Unbehagen wie in dem Moment, als er sie geküsst hatte: das plötzliche Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte, grundlegend nicht stimmte - als hätte sie einen Schritt nach vorne gemacht, in der Erwartung, auf festen Boden zu treffen. Doch stattdessen schien sie in einen Abgrund zu stürzen.

Sebastians Hand schoss vor und packte sie erneut am Handgelenk. »Du hast das Buch - das Weiße Buch - einem Hexenmeister gegeben? Einem dreckigen Schattenweltler?« 

Clary blieb stocksteif stehen. »Ich kann nicht fassen, dass du so etwas gerade gesagt hast«, erwiderte sie kühl. Dann schaute sie hinab auf ihr Handgelenk, das Sebastian eisern festhielt. »Magnus ist mein Freund.«

Sebastian lockerte den Griff ein wenig, allerdings nur einen Hauch. »Tut mir leid«, räumte er ein. »Das hätte ich nicht sagen sollen. Es ist nur so … wie gut kennst du Magnus Bane?«

»Jedenfalls besser als dich«, konterte Clary und warf einen Blick über die Schulter zu der Stelle, wo sie Magnus mit Jace und Alec zurückgelassen hatte. Doch im nächsten Moment jagte ein Gefühl unangenehmer Überraschung durch ihren Körper: Magnus war verschwunden. Jace und Alec standen allein da und beobachteten sie und Sebastian. Clary konnte die Intensität von Jace’ Missbilligung spüren wie die Hitze eines glühend heißen Backofens. 

Sebastian folgte ihrem Blick und seine Augen verdüsterten sich. »Kennst du ihn auch gut genug, um zu wissen, wohin er mit deinem Buch verschwunden ist?«

»Das ist nicht mein Buch. Ich habe es ihm geschenkt«, fauchte Clary, aber ein eisiges Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als sie an den überschatteten Ausdruck in Magnus’ Augen dachte. »Außerdem wüsste ich nicht, was dich das überhaupt angeht. Hör zu, ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du gestern angeboten hast, mir bei der Suche nach Ragnor Fell zu helfen, aber jetzt jagst du mir wirklich Angst ein. Ich geh wieder zu meinen Freunden zurück.«

Clary setzte sich in Bewegung, doch Sebastian war schneller und versperrte ihr den Weg. »Tut mir leid. Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Es ist nur so, dass hinter dieser ganzen Geschichte mehr steckt, als du ahnst.«

»Dann erzähl es mir.«

»Komm mit mir nach draußen. Dann erzähl ich dir alles.« Sein Ton klang eindringlich, besorgt. »Clary, bitte.«

Doch Clary schüttelte den Kopf. »Ich muss hier drinnen bleiben. Ich muss auf Simon warten.« Das entsprach sogar teilweise der Wahrheit. »Alec hat mir erzählt, dass sie die Gefangenen hierherbringen würden …«

Sebastian zog die Augenbrauen hoch. »Hat dir das denn niemand gesagt, Clary? Sie haben die Gefangenen in der Garnison zurückgelassen. Das habe ich von Malachi aufgeschnappt. Als die Stadt angegriffen wurde, haben sie die Garnison evakuiert bis auf die Gefangenen. Malachi meinte, dass die beiden sowieso mit Valentin unter einer Decke stecken würden. Und sie freizulassen, wäre ein zu großes Risiko gewesen.«

Clary hörte Sebastians Worte wie durch einen Nebel; ihr wurde schwindelig und dann übel. »Das kann nicht stimmen.«

»Doch, es stimmt«, sagte Sebastian. »Das schwöre ich.« Sein Griff um Clarys Handgelenk verstärkte sich erneut und Clary begann zu schwanken. »Hör zu: Ich kann dich den Hügel hinaufbringen. Zur Garnison. Ich kann dir helfen, ihn da rauszuholen. Aber du musst mir versprechen, dass du …«

»Sie muss dir gar nichts versprechen«, sagte Jace in dem Moment. »Lass sie los, Sebastian.«

Überrumpelt lockerte Sebastian den Griff um Clarys Handgelenk. Sie riss sich los und drehte sich um. Vor ihr standen Jace und Alec, beide mit finsterer Miene. Jace’ Hand ruhte locker auf dem Heft der Seraphklinge an seinem Gürtel.

»Clary kann tun, was sie will«, erwiderte Sebastian. Auf seinem Gesicht breitete sich ein seltsamer, starrer Ausdruck aus, der Clary noch schlimmer erschien als jede finstere Miene. »Und in diesem Moment will sie mit mir zur Garnison, um ihren Freund zu retten. Den Freund, den ihr ins Gefängnis habt werfen lassen.« 

Während Alec leicht erbleichte, schüttelte Jace nur den Kopf. »Ich mag dich nicht«, sagte er nachdenklich. »Ich weiß, dass alle anderen dich mögen, Sebastian, aber ich nicht. Vielleicht liegt es daran, dass du so angestrengt darum bemüht bist, dass die Leute dich mögen. Vielleicht bin ich auch nur ein egoistischer Mistkerl. Aber ich mag dich nicht und noch weniger mag ich die Art und Weise, wie du meine Schwester festgehalten hast. Wenn sie zur Garnison und nach Simon suchen möchte - prima. Dann wird sie mit uns dorthin gehen. Und nicht mit dir.«

Sebastians Gesicht blieb unverändert starr. »Ich denke, dass sollte sie selbst entscheiden«, erwiderte er. »Findest du nicht?«

Beide sahen Clary erwartungsvoll an. Unschlüssig schaute sie an ihnen vorbei, hinüber zu Luke, der noch immer heftig mit Malachi diskutierte.

»Ich möchte mit meinem Bruder gehen«, sagte sie schließlich.

Irgendetwas flackerte in Sebastians Augen auf - allerdings war es so schnell wieder verschwunden, dass Clary keine Zeit blieb, es genauer zu erkennen. Trotzdem verspürte sie eine schneidende Kälte an ihrer Kehle, als hätte eine eisige Hand sie dort berührt. »Natürlich«, sagte Sebastian und trat einen Schritt beiseite.

Alec setzte sich als Erster in Bewegung und schob Jace vor sich her. Die drei hatten gerade die Hälfte der Strecke zur Tür zurückgelegt, als Clary bewusst wurde, dass ihr Handgelenk schmerzte - es brannte, als wäre sie einer Herdplatte zu nahe gekommen. Sie warf einen Blick darauf, in der Erwartung, rote Striemen an der Stelle vorzufinden, wo Sebastian sie festgehalten hatte, doch es ließ sich nichts erkennen. Nur ein wenig Blut an ihrem Ärmel, das von der Kratzwunde in Sebastians Gesicht stammte. Stirnrunzelnd zog sie den Ärmel über das noch immer brennende Handgelenk und beeilte sich, um zu Jace und Alec aufzuschließen. 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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