9

SÜNDIGES BLUT

 

»Ich kann mich gar nicht erinnern, dass es hier überhaupt einen Keller gegeben hat«, sagte Jace und starrte an Clary vorbei in die klaffende Öffnung in der Mauer. Er hob seinen Elbenlichtstein ein Stück, sodass der Lichtschein von den schwarzen Seitenflächen des Tunnels reflektiert wurde. Die Wände bestanden aus einem glatten dunklen Gestein, das Clary nicht kannte, und die Treppenstufen schimmerten, als wären sie feucht. Ein seltsamer Geruch schlug ihnen entgegen: muffig, modrig, mit einer merkwürdig metallischen Note, bei der sich Clary sofort die Nackenhaare aufrichteten.

»Was könnte sich da unten befinden?«, fragte sie nervös.

»Keine Ahnung.« Jace marschierte zur Treppe und stellte prüfend einen Fuß auf die oberste Stufe. Als sie standhielt, zuckte er die Achseln und machte sich an den Abstieg: Vorsichtig tastete er sich Stufe für Stufe hinab. Etwa auf der Hälfte der Treppe drehte er sich um und sah zu Clary hinauf. »Kommst du mit? Oder möchtest du lieber da oben auf mich warten?«

Clary schaute sich noch einmal schaudernd in der leeren Bibliothek um und folgte Jace dann eilig.

Die Stufen drehten sich in einer immer enger werdenden Spirale in die Tiefe, als befänden sie sich auf dem Weg durch das Gehäuse einer riesigen Meeresschnecke. Als sie den Fuß der Treppe erreichten, verstärkte sich der seltsame Geruch deutlich. Vor ihnen lag ein großer quadratischer Raum, an dessen Steinwänden sich breite Streifen von Feuchtigkeit niedergeschlagen hatten - neben anderen dunkleren Flecken. Der Boden war bedeckt mit Zeichen und Markierungen: ein wildes Durcheinander aus Pentagrammen und Runen und unregelmäßig verteilten weißen Steinen. 

Als Jace einen Fuß von der letzten Treppenstufe auf den Boden setzte, knirschte irgendetwas unter seinen Stiefeln und er und Clary schauten gleichzeitig nach unten.

»Knochen«, wisperte Clary. Der Boden war nicht mit weißen Steinen übersät, sondern mit Knochen in allen Größen und Formen. »Was, zum Teufel, hat Valentin hier unten gemacht?« 

Der Elbenlichtstein in Jace’ Hand sandte ein unheimliches Licht durch den Raum. »Experimente«, sagte Jace in nüchternem, aber zugleich angespanntem Ton. »Das hat die Feenkönigin doch erzählt…«

»Was für Knochen sind das?«, fragte Clary mit hoher Stimme. »Tierknochen?«

»Nein.« Jace trat mit dem Fuß gegen einen Knochenhaufen, der daraufhin auseinanderfiel. »Nein, nicht nur Tierknochen.«

Clary spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. »Lass uns umkehren.«

Statt einer Antwort hob Jace die Hand mit dem Elbenlichtstein, der nun hell aufleuchtete und ein grelles Licht ausstrahlte, das selbst die dunkelsten Ecken des Kellers ausleuchtete. Große Teile des Raums schienen leer, aber der hinterste Bereich war mit einem Tuch abgehängt. Irgendetwas befand sich hinter diesem Tuch, eine gekrümmte Gestalt…

»Jace«, flüsterte Clary. »Was ist das?« 

Jace schwieg, doch plötzlich hielt er eine Seraphklinge in der Hand. Clary hatte gar nicht mitbekommen, dass er die Waffe gezückt hatte, die im Elbenlicht wie ein Schwert aus Eis schimmerte.

»Jace, nicht«, stieß Clary hervor, doch es war bereits zu spät: Entschlossen marschierte er auf das Tuch zu, hob es mit der Spitze seiner Klinge an und riss es dann mit einem Ruck beiseite. Der Stoff zerfiel zu einer Wolke von Staub. 

Jace taumelte zurück, wobei ihm der Elbenlichtstein aus der Hand glitt. Als der grelle Lichtschein zu Boden fiel, konnte Clary einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen: Es war kreidebleich und starr vor Entsetzen. Clary schnappte sich das Elbenlicht, ehe es ausgehen konnte, und hielt es hoch in die Luft, um herauszufinden, was Jace so erschüttert hatte - ausgerechnet ihn, der sonst so unerschütterlich war.

Zunächst erkannte sie die Gestalt eines Mannes - ein Mann, der in schmutzige weiße Lumpen gehüllt auf dem Boden kauerte. An seinen Fuß- und Handgelenken saßen schwere Eisenfesseln, die mit massiven Metallkrampen im Steinboden verankert waren. Wie kann es sein, dass er noch lebt?, dachte Clary entsetzt, während bittere Gallenflüssigkeit in ihrer Kehle aufstieg. Der Elbenlichtstein zitterte in ihrer Hand und das Licht warf tanzende Flecken auf den Gefangenen. Clary sah ausgemergelte Arme und Beine, über und über mit den Narben zahlloser Folterungen bedeckt. Dann drehte der Mann ihr sein totenschädelartiges Gesicht zu, mit schwarzen leeren Höhlen anstelle der Augäpfel. Einen Moment später ertönte ein trockenes Rascheln und Clary erkannte, dass das, was sie für Lumpen gehalten hatte, in Wahrheit Schwingen waren, weiße Schwingen, die sich hinter seinem Rücken zu zwei reinweißen Halbkreisen ausbreiteten - die einzigen reinen Objekte in diesem dreckigen Kellerverlies. 

Clary stieß ein trockenes Krächzen aus. »Jace. Siehst du das …?« 

»Ja, ich sehe es auch. «Jace stand direkt hinter ihr und seine Stimme klang spröde wie zersprungenes Glas.

»Du hast doch gesagt, es gäbe keine Engel… dass niemand jemals einen gesehen hätte …«

Jace flüsterte leise vor sich hin - anscheinend eine Reihe panikerfüllter Flüche. Zögernd ging er einen Schritt auf die gekrümmte Gestalt am Boden zu und zuckte abrupt zurück, als wäre er von einer unsichtbaren Wand abgeprallt. Ein Blick nach unten verriet Clary, dass der Engel innerhalb eines Pentagramms kauerte, welches aus ineinander verschlungenen, tief in den Boden geritzten Runen bestand; sie glühten in einem schwachen, phosphoreszierenden Licht. »Die Runen«, flüsterte sie, »wir kommen nicht an den Runen vorbei …«

»Aber es muss doch einen Weg geben …«, erwiderte Jace mit brechender Stimme, »irgendetwas, das wir tun können.«

In dem Moment hob der Engel den Kopf. Er hatte goldene Locken, genau wie Jace, die jedoch im Licht des Elbensteins matt und stumpf wirkten, wie Clary mit schmerzlichem Bedauern feststellte. Feuchte Strähnen klebten neben den leeren Augenhöhlen und sein Gesicht war mit schrecklichen Narben übersät, wie ein wunderschönes Gemälde, das Vandalen zerstört hatten. Während Clary ihn entsetzt anstarrte, öffnete der Engel den Mund und ein Klang entstieg seiner Kehle - eine einzelne gesungene Note, ein ergreifender goldener Ton, der andauerte und andauerte und so hoch und süß war, dass sein Klang fast schmerzte … 

Plötzlich tauchte vor Clarys Augen eine Flut von Bildern auf. Krampfhaft umklammerte sie den Elbenstein, doch sein Licht war verschwunden … sie war verschwunden … nicht länger in diesem Kellerverlies, sondern woanders … an einem Ort, an dem die Bilder der Vergangenheit wie in einem Wachtraum an ihr vorbeizogen - Fragmente, Farben, Geräusche.

Sie befand sich in einem Weinkeller, der kahl und sauber war. Nur eine einzige riesige Rune bedeckte den Steinboden. Daneben stand ein Mann; in einer Hand hielt er ein aufgeschlagenes Buch und in der anderen eine weiß glühende Fackel. Als er den Kopf hob, erkannte Clary, dass es sich um Valentin handelte: Er war allerdings wesentlich jünger, mit glattem, attraktivem Gesicht und klaren dunklen Augen. Dann begann er zu psalmodieren und sofort schlugen aus den Umrissen der Rune Feuerzungen empor. Und als die Flammen erloschen, lag eine gekrümmte Gestalt zwischen der weißen Asche: ein Engel, mit halb gespreizten, blutigen Schwingen, wie ein Vogel, den eine Kugel vom Himmel geholt hatte …

Dann wechselte die Szenerie. Valentin stand vor einem Fenster, an seiner Seite eine junge Frau mit glänzenden roten Haaren. Als er die Arme ausstreckte, um sie an sich zu ziehen, glitzerte ein silberner Ring an seiner Hand auf, ein Ring, der Clary sehr bekannt vorkam. Mit einem Schlag erkannte Clary ihre Mutter. Doch sie schien sehr jung zu sein, mit weichen und verwundbaren Zügen. Sie trug ein weißes Nachthemd und war eindeutig schwanger. 

»Das Abkommen ist nicht nur die dümmste Idee, die der Rat jemals hatte, sondern auch das Schlimmste, was den Nephilim passieren konnte«, stieß Valentin wütend hervor. »Allein die Vorstellung, dass wir an alle Schattenwesen gebunden, an diese Kreaturen gefesselt sein sollen …« 

»Valentin«, sagte Jocelyn lächelnd, »genug Politik für heute, bitte.«Sie streckte sich und schlang ihm liebevoll die Arme um den Hals. Auch er betrachtete sie mit einem liebevollen Ausdruck im Gesicht. Doch in seinen Augen funkelte noch etwas anderes, etwas, das Clary einen Schauer über den Rücken jagte … 

Dann kniete Valentin inmitten einer Waldlichtung. Ein strahlend heller Vollmond schien auf die Szenerie herab und beleuchtete das schwarze Pentagramm, das in die aufgewühlte Erde des Waldbodens geritzt worden war. Die Zweige der Bäume reichten bis an das Pentagramm heran, doch an den Stellen, an denen sie über seine Konturen ragten, hatten sich die Blätter aufgerollt und schwarz verfärbt. In der Mitte des fünfeckigen Sterns saß eine schlanke, anmutige Frau mit langen, schimmernden Haaren. Ihr Gesicht lag tief im Schatten, doch Clary sah ihre nackten weißen Arme. Die Frau streckte den linken Arm vor sich aus und öffnete die Finger. Clary konnte eine tiefe, klaffende Wunde in ihrer Handfläche erkennen, aus der ein zäh fließender Strom Blut in einen silbernen Kelch tropfte, der auf dem Rand des Pentagramms stand. Im Mondlicht wirkte das Blut pechschwarz, aber vielleicht war es ja auch tatsächlich schwarz. 

»Das Kind, das mit diesem Blut in seinen Adern geboren wird«, setzte die Frau mit sanfter, lieblicher Stimme an, »wird Kräfte besitzen, welche die der Dämonenfürsten des Abgrunds zwischen den Welten bei Weitem übersteigen. Der Knabe wird mächtiger sein als Asmodeus, der Dämon des Zorns, und er wird stärker sein als die Shedu, die Sturmdämonen. Mit der richtigen Ausbildung wird es nichts geben, wozu er nicht fähig wäre. Aber ich warne dich«, fugte die Frau hinzu, »das Blut wird ihm auch seine Menschlichkeit rauben, da Gift jeder Zelle das Leben raubt.«

»Ich danke Euch, Herrscherin von Edom«, sagte Valentin. Als er den Kelch mit Blut entgegennehmen wollte, hob die Frau den Kopf und Clary sah, dass sie zwar wunderschöne Züge besaß, aber ihre Augen nur schwarze Höhlen waren, aus denen zuckende schwarze Tentakel herausragten, die wie Fühler die Luft sondierten. Clary stieß einen unterdrückten Schrei aus …

Die Nachtszenerie und der Wald verschwanden. Nun stand Jocelyn jemandem gegenüber, den Clary nicht sehen konnte. Sie war nicht mehr schwanger und ihre leuchtend roten Haare hingen in wirren Strähnen um ihr von Panik verzerrtes, verzweifeltes Gesicht. »Ich kann nicht länger bei ihm bleiben, Ragnor«, sagte sie. »Nicht einen einzigen weiteren Tag. Ich habe in seinen Tagebüchern gelesen. Weißt du, was er Jonathan angetan hat? Ich hätte nicht geglaubt, dass irgendjemand dazu fähig wäre - nicht einmal Valentin.« Ihre Schultern zuckten. »Er hat Dämonenblut verwendet: Jonathan ist kein normaler Säugling mehr. Er ist nicht einmal ein Mensch - er ist ein Monster…«

Dann verschwand Jocelyn und Valentin erschien: Rastlos umrundete er den Runenkreis, eine schimmernde Seraphklinge in der Hand. »Warum willst du nicht reden?«, murmelte er. »Warum gibst du mir nicht endlich, was ich will?« Ruckartig stieß er die Waffe nach unten und der Engel krümmte und wand sich, während eine goldene Flüssigkeit aus seiner Wunde floss und wie verschüttetes Sonnenlicht auf den Boden tropfte. »Wenn du mir schon keine Antwort gibst«, zischte Valentin, »dann kannst du mir wenigstens dein Blut geben. Es wird mir und den Meinen von größerem Nutzen sein als dir.« 

Auch diese Szenerie löste sich auf und wich einem Bild, das die Bibliothek auf dem Landsitz der Waylands zeigte. Helle Sonnenstrahlen fielen durch die rautenförmigen Scheiben der Buntglasfenster und tauchten den Raum in blaues und grünes Licht. Durch die geöffnete Bibliothekstür drangen Stimmengewirr und heiteres Lachen - in einem der anderen Räume fand eine fröhliche Feier statt. Jocelyn kniete vor einem Bücherregal und sah sich verstohlen um. Dann zog sie einen dicken Wälzer aus ihrer Tasche und schob ihn zwischen die anderen Bücher…

Sekunden später war das Bild fort. Die Szenerie zeigte nun einen Keller, denselben Keller, in dem Clary sich in diesem Moment befand. Auf dem Boden war dasselbe in den Stein geritzte Pentagramm zu sehen und in dessen Mitte lag der Engel. Daneben stand Valentin, erneut mit einer flammenden Seraphklinge in der Hand. Er war kein junger Mann mehr, wirkte um Jahre gealtert. »Ithuriel«, sagte er. »Wir sind inzwischen doch alte Freunde, oder? Ich hätte dich unter den Ruinen zurücklassen können, bei lebendigem Leibe begraben, aber nein, ich nahm dich mit hierher. All die Jahre habe ich dich in meiner Nähe gehalten und darauf gehofft, dass du mir eines Tages verraten würdest, was ich wissen will, wissen muss.« Er trat nun einen Schritt näher, die Klinge gezückt. Ihr heller Lichtschein ließ die Runenbarriere schwach aufleuchten. »Als ich dich heraufbeschworen habe, träumte ich davon, du würdest mir den Grund nennen, das Warum. Warum Raziel uns geschaffen hat, das Geschlecht der Schattenjäger, uns aber nicht die Kräfte verliehen hat, die Schattenweltler besitzen: die Schnelligkeit der Werwölfe, die Unsterblichkeit der Feenwesen, die Zauberkräfte der Hexenmeister oder die Ausdauer der Vampire. Er ließ uns nackt im Angesicht der Höllengeburten zurück, nackt bis auf diese schwarzen Linien auf unserer Haut. Aber warum sollen ihre Kräfte unsere übersteigen? Warum können wir nicht auch das haben, was sie besitzen? Wieso sollte das gerecht sein?« 

Doch der Engel hockte weiterhin mit geschlossenen Schwingen im Zentrum des fünfeckigen Sterns, reglos und schweigend wie eine Marmorstatue. Aus seinen Augen sprach nichts als schreckliches, stilles Leid.

Verärgert verzog Valentin den Mund.

»Also schön, wie du willst. Dann schweig eben weiter. Aber meine Zeit wird kommen.« Valentin hob die Klinge. »Den Engelskelch habe ich bereits, Ithuriel, und schon bald werde ich auch das Schwert besitzen. Aber ohne den Spiegel kann ich die Beschwörungszeremonie nicht beginnen. Der Spiegel ist das Einzige, was ich noch brauche. Also verrate mir endlich, wo er ist. Sag mir, wo ich ihn finde, und ich werde dich sterben lassen.«

Die Szene zerfiel in tausend Fragmente, und als Clarys Sicht schwand, erhaschte sie Bruchstücke von Bildern, die sie aus ihren eigenen Albträumen kannte - Engel mit weißen und schwarzen Schwingen, spiegelglatte Wasserflächen, Gold und Blut - und Jace, der sich von ihr abwandte, immer wieder von ihr abwandte. Clary streckte die Arme nach ihm aus und zum ersten Mal sprach der Engel in Worten zu ihr, die sie verstehen konnte.

Dies sind nicht die ersten Träume, die ich dir geschickt habe.

Das Bild einer Rune zeichnete sich hinter Clarys geschlossenen Lidern ab, brannte wie ein Feuerwerkskörper - eine Rune, die sie noch nie zuvor gesehen hatte: so kräftig, schlicht und eindeutig wie ein geknüpfter Knoten. Einen Moment später war das Bild verschwunden, zusammen mit dem süßen Engelsgesang. Clary befand sich wieder in ihrem Körper, schwankend auf ihren eigenen Beinen, den Blick in das dreckige, stinkende Kellerverlies gerichtet. Vor ihr hockte der Engel - schweigend, erstarrt, mit geschlossenen Schwingen, ein Bild des Kummers und der Qual.

Bestürzt schluchzte Clary auf. »Ithuriel.« Mit wehem Herzen streckte sie die Arme nach dem Engel aus, obwohl sie wusste, dass sie die Runen nicht überschreiten konnte. So viele Jahre hatte der Engel in diesem Keller verbracht, hatte stumm und allein in der Dunkelheit gesessen, in Ketten geschlagen und dem Tode nahe, aber unfähig zu sterben … 

Plötzlich war Jace an ihrer Seite. An seinem schmerzerfüllten Gesicht konnte Clary ablesen, dass auch er alles gesehen hatte, was sie gesehen hatte. Er warf einen Blick auf die Seraphklinge in seiner Hand und schaute dann wieder zu dem Engel, der ihnen seine leeren Augenhöhlen zugewandt hatte, einen flehentlichen Ausdruck im Gesicht. 

Jace ging zögernd einen Schritt vor und dann einen weiteren. Sein Blick war fest auf den Engel gerichtet und es erschien Clary, als würde eine Art stumme Kommunikation zwischen ihnen stattfinden, ein Gespräch, das sie nicht hören konnte. Jace’ Augen leuchteten wie goldene Scheiben, die strahlendes Sonnenlicht reflektieren.

»Ithuriel«, flüsterte er. 

Die Klinge in seiner Hand flammte auf wie eine helle Fackel. Der Engel drehte den Kopf in die Richtung des Schwerts, als könne er den gleißenden Lichtschein sehen. Dann streckte er die Hände aus, wobei die Eisenfesseln um seine Gelenke rasselten wie kreischende Musikfetzen.

»Clary«, wandte Jace sich an Clary. »Die Runen.«

Die Runen. Einen Moment lang starrte Clary ihn verwirrt an, doch seine Augen drängten sie zum Handeln. Einen Sekundenbruchteil später begriff sie, was er meinte: Sie reichte ihm den Elbenlichtstein, nahm die Stele aus seiner Tasche und kniete sich vor die Runen auf dem Boden, die aussahen, als hätte jemand sie mit einem scharfen Gegenstand in den Stein gemeißelt. 

Clary schaute zu Jace auf. Der Ausdruck in seinem Gesicht, das Funkeln in seinen Augen verblüffte sie - er betrachtete sie voller Zuversicht, voller Vertrauen in ihre Fähigkeiten. Mit der Spitze der Stele ritzte sie Linie um Linie in den Boden, veränderte die Fesselungsrunen zu Befreiungsrunen, verwandelte Gefangenschaft in Freiheit. Flammen schlugen aus den Umrissen der Runen empor, als würde Clary den Schwefelkopf eines Zündholzes über die Seitenfläche einer Streichholzschachtel reiben. 

Als sie ihr Werk schließlich vollendet hatte, richtete sie sich auf. Die Runen schimmerten und glühten zu ihren Füßen. Sofort war Jace an ihrer Seite; das Licht des Elbensteins war erloschen, lediglich die Seraphklinge, die er nach dem Engel benannt hatte, leuchtete in seiner Hand. Vorsichtig streckte er den Arm aus und dieses Mal konnte seine Hand die Runenbarriere ungehindert passieren.

Der Engel hob beide Hände und nahm die Klinge entgegen. Dann schloss er die Lider über den leeren Augenhöhlen und einen Moment glaubte Clary, ihn lächeln zu sehen. Langsam drehte er die Waffe in seinen Händen, bis die Spitze der Klinge direkt unterhalb seines Brustbeins ruhte. Clary schnappte erschrocken nach Luft und bewegte sich auf ihn zu, doch Jace packte sie am Arm, hielt sie eisern fest und riss sie ein Stück zurück - genau in dem Moment, in dem der Engel sich die Klinge tief in den Körper rammte.

Sein Kopf sank nach hinten und seine Hände glitten vom Heft der Klinge, die auf Höhe des Herzens aus dem Brustkorb ragte - falls Engel Herzen besaßen; Clary war sich nicht ganz sicher. Feuerzungen schlugen aus der Wunde empor und breiteten sich von der Klinge in alle Richtungen aus. Der Körper des Engels ging in weißen Flammen auf und die Fesseln an seinen Gelenken begannen, scharlachrot zu glühen wie Eisen, das zu lange im Feuer gelegen hatte. Unwillkürlich musste Clary an mittelalterliche Gemälde von Heiligen denken, verzehrt vom überirdischen Glanz himmlischer Entrückung. Im nächsten Moment öffneten sich die Schwingen des Engels und loderten hell auf - ein Gitterwerk schimmernder Flammen. 

Clary konnte den Anblick nicht länger ertragen. Erschüttert wandte sie sich ab und vergrub das Gesicht an Jace’ Schulter. Jace schlang die Arme um sie und zog sie an sich, fest und hart. »Ist schon gut«, murmelte er, »alles wird gut.« Aber die Luft war erfüllt von dichtem Qualm und der Boden schien unaufhörlich zu schwanken. Doch erst als Jace strauchelte, wurde Clary mit einem Schlag bewusst, dass dieses Gefühl nicht nur vom Schock herrühren konnte: Der Boden schwankte tatsächlich. Notgedrungen ließ Clary Jace los und taumelte ein paar Schritte zur Seite. Die Steinfliesen unter ihren Füßen begannen, sich übereinanderzuschieben, und von der Decke rieselte ein feiner Hagel aus Steinen und Dreck. Der Engel war zu einer Rauchsäule erstarrt; die Runen um ihn herum strahlten gleißend hell. Wie gebannt starrte Clary auf die Schriftzeichen, entschlüsselte ihre Bedeutung … und warf Jace einen gehetzten Blick zu: »Das Herrenhaus! Es war an Ithuriel gebunden. Wenn der Engel stirbt, wird das ganze Gebäude …« 

Aber es gelang ihr nicht, ihren Satz zu beenden. Jace hatte sie bereits an der Hand gepackt und stürmte mit ihr zur Wendeltreppe, deren Stufen sich inzwischen so stark wölbten und verwarfen, dass Clary stürzte und sich das Knie aufschlug. Doch Jace hielt sie mit eiserner Entschlossenheit fest. Clary ignorierte den stechenden Schmerz im Bein und den beißenden Staub, der ihr die Luft zum Atmen raubte, rappelte sich auf und rannte weiter.

Endlich erreichten sie das Ende der Treppe und stürmten in die Bibliothek. Hinter ihnen hörte Clary ein dumpfes Dröhnen, als die noch verbliebenen Stufen zusammenkrachten. Doch auch hier war die Lage nicht viel besser: Der Boden schwankte, Bücher fielen aus den Regalen und eine der Marmorstatuen war umgestürzt und in tausend Stücke zersprungen. Jace ließ Clarys Hand los, schnappte sich einen Stuhl und schleuderte ihn - bevor sie ihn fragen konnte, was er damit bezweckte - gegen eines der hohen Buntglasfenster. 

Der Stuhl durchbrach die Scheibe in einer Fontäne von Glasscherben. Sofort wandte Jace sich Clary wieder zu und hielt ihr seine Hand entgegen. Durch die scharfkantigen Reste des Fensters konnte sie hinter ihm eine mondbeschienene Wiese erkennen und in der Ferne eine Reihe von Baumwipfeln. DÖS geht ziemlich tief runter! Ich kann unmöglich so weit springen!, überlegte Clary fieberhaft und wollte gerade den Kopf schütteln, als sie sah, wie er erschrocken die Augen aufriss und ihr eine Warnung zurief: Eine der schweren Marmorbüsten auf den oberen Regalböden war an den Rand des Bretts gerutscht und stürzte in diesem Moment auf sie herab. Blitzschnell duckte Clary sich und wich zur Seite aus, sodass die Büste nur wenige Zentimeter von ihrem ursprünglichen Standort krachend zu Boden ging und ein tiefes Loch in die Steinfliesen schlug. 

Im nächsten Moment spürte Clary Jace’ Arme um ihre Taille, die sie scheinbar mühelos hochhoben. Sie war zu überrascht für eine Gegenwehr, als er sie zu der zerbrochenen Scheibe trug und ohne Umschweife aus dem Fenster warf.

Sekundenbruchteile später traf sie auf einer grasbedeckten Anhöhe direkt unter dem Fenster auf und kullerte den steilen Hang hinab, wobei sie sich immer schneller überschlug - bis sie schließlich mit solcher Wucht gegen einen kleinen Grashügel prallte, dass es ihr den Atem raubte. Unmittelbar darauf war Jace neben ihr, doch im Gegensatz zu ihr rollte er sich ab, kam auf die Knie und starrte die Anhöhe hinauf zum Herrenhaus. 

Clary drehte sich um, um in die gleiche Richtung zu schauen, doch Jace hatte sie bereits gepackt und drückte sie in die Bodenvertiefung zwischen den beiden Hügeln. Später sollte sie dunkle Blutergüsse an den Stellen ihrer Oberarme vorfinden, an denen er sie festgehalten hatte - doch in diesem Moment schnappte sie nur überrascht nach Luft, als er sie auf den Boden presste, sich auf sie warf und sie mit seinem Körper schützte, während auf der Anhöhe eine gewaltige Explosion die Luft erbeben ließ. Es schien, als würde die Erde förmlich zerrissen, wie bei einem Vulkanausbruch, und eine weiß glühende Staubsäule schoss in den Himmel.

Clary hörte ein Prasseln um sie herum. Einen verwirrenden Moment lang dachte sie, es hätte zu regnen begonnen, doch dann erkannte sie, dass es sich um Erdbrocken, Steine und Glassplitter handelte: Trümmer des in die Luft gesprengten Herrenhauses, die wie ein todbringender Hagel um sie herum niedergingen.

Jace presste sie noch fester auf den Boden, seinen Körper flach auf ihren gedrückt. Sein rasender Herzschlag klang in Clarys Ohren fast so laut wie das Prasseln des herabstürzenden Schutts und Gerölls.

Dann ließ das Dröhnen der Explosion allmählich nach, wie Rauch, der sich in Luft auflöst, und wurde vom lauten Tschilpen aufgeschreckter Vögel abgelöst. Clary konnte sie über Jace’ Schulter vor dem dunklen Nachthimmel aufgeregt kreisen sehen. 

»Jace«, flüsterte sie leise. »Ich glaube, ich habe deine Stele irgendwo verloren.«

Jace drückte sich leicht hoch, stützte sich auf die Ellbogen und blickte auf sie hinab. Trotz der Dunkelheit konnte sie sich selbst in seinen Augen sehen. Sein Gesicht war mit Ruß und Dreck beschmiert, der Kragen seines Hemdes zerrissen. »Kein Problem. Hauptsache, du bist nicht verletzt.«

»Mir geht’s gut.« Ohne darüber nachzudenken, hob sie die Hände und fuhr ihm mit den Fingern sanft durch die Locken. Sofort bemerkte sie, wie sich sein Körper anspannte und seine Augen dunkler wurden. »Du hast Gras in den Haaren«, erklärte sie betont sachlich, doch ihr Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an und Adrenalin jagte durch ihre Adern. Sämtliche Geschehnisse - der Tod des Engels, die Zerstörung des Herrenhauses - erschienen ihr weniger real als das, was sie in Jace’ Augen sah.

»Du solltest mich nicht so berühren«, murmelte er.

Clarys Arm erstarrte in der Bewegung; ihre Handfläche ruhte an seiner Wange.

»Du weißt, weshalb«, sagte er, drückte sich hoch und rollte sich auf den Rücken. »Du hast es doch auch gesehen, oder? Die Vergangenheit, der Engel. Unsere Eltern.«

Es war das erste Mal, dass er Jocelyn und Valentin so genannt hatte, schoss es Clary durch den Kopf. Unsere Eltern. Langsam drehte sie sich auf die Seite. Sie sehnte sich danach, ihn zu berühren, war sich aber nicht sicher, ob sie es wagen durfte. Jace starrte blind hinauf zum Himmel. »Ja, ich habe es auch gesehen«, bestätigte sie. 

»Dann weißt du ja, was ich bin.« Die Worte kamen leise und gequält über seine Lippen. »Ich bin ein Halbdämon, Clary. Ein Halbdämon. Das hast du doch begriffen, oder?« Er rollte sich auf die Seite und seine Augen bohrten sich in ihre. »Du hast selbst gesehen, was Valentin versucht hat. Er hat Dämonenblut verwendet - hat es bei mir benutzt, und zwar noch vor meiner Geburt. Ich bin zur Hälfte ein Monster. Ein Teil derer, die ich jahrelang hart bekämpft und zu vernichten versucht habe.« 

Entschlossen unterdrückte Clary die Erinnerung an Valentins Stimme - Jocelyn hat mich verlassen, weil ich aus ihrem ersten Kind ein Monster gemacht habe - und versuchte, Jace zu beruhigen: »Hexenmeister sind doch auch Halbdämonen. So wie Magnus. Das macht sie noch lange nicht böse …« 

»Aber sie tragen nicht das Blut von Dämonenfürsten in sich. Du hast doch gehört, was die Herrscherin von Edom gesagt hat.«

Das Blut wird ihm auch seine Menschlichkeit rauben, da Gift jeder Zelle das Leben raubt. »Aber das ist nicht wahr!«, protestierte Clary mit zitternder Stimme. »Das kann nicht sein. Es ergibt doch überhaupt keinen Sinn …« 

»Doch, für mich schon.« Wut und Verzweiflung spiegelten sich in Jace’ Gesicht. Clary sah, wie die silberne Kette an seiner nackten Kehle aufleuchtete und im Schein der Sterne unheimlich funkelte. »Doch, das erklärt alles.« 

»Du meinst, das erklärt, warum du so ein fantastischer Schattenjäger bist? Warum du loyal und furchtlos und ehrlich und all das bist, was Dämonen nicht sind?« 

»Es erklärt, warum ich empfinde, was ich für dich empfinde«, erwiderte er tonlos.

»Was meinst du damit?«

Jace schwieg einen langen Moment und sah sie eindringlich an. Clary konnte die Wärme seines Körpers spüren, über den winzigen Abstand hinweg, der sie voneinander trennte. Obwohl er sie nicht berührte, konnte sie ihn fühlen, als läge er noch immer auf ihr. »Du bist meine Schwester«, sagte er schließlich. »Meine Schwester, mein Blut, meine Familie. Ich sollte dich beschützen wollen …« - er stieß ein fast lautloses, freudloses Lachen aus - «… dich beschützen vor der Sorte von Jungs, die mit dir genau das machen wollen, was ich mit dir machen möchte.« 

Clary hielt den Atem an. »Du hast doch gesagt, du wolltest nur noch mein Bruder sein.«

»Da habe ich gelogen. Dämonen lügen nun mal, Clary«, erwiderte er. »Es gibt eine bestimmte Sorte von Verwundungen, die man sich als Schattenjäger zuziehen kann - innere Verletzungen, die durch Dämonengift verursacht werden. Dabei verblutet man langsam von innen, ohne genau zu wissen, was los ist. Und genauso fühlt es sich an, nur noch dein Bruder zu sein.«

»Aber Aline …«

»Ich musste es wenigstens versuchen.« Seine Stimme klang völlig teilnahmslos. »Aber ich will, weiß Gott, niemand anderen außer dir. Ich will noch nicht mal jemand anderen als dich wollen.« Er hob eine Hand, fuhr ihr mit den Fingern leicht durchs Haar und streifte ihre Wangen mit den Fingerspitzen. »Und jetzt weiß ich wenigstens den Grund dafür.« 

»Ich will auch niemand anderen als dich«, flüsterte Clary kaum hörbar.

Sie spürte, wie er die Luft anhielt. Langsam stützte er sich auf den Ellbogen und schaute auf sie hinab. Sein Mienenspiel hatte sich vollkommen verändert - auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck, den Clary noch nie zuvor gesehen hatte, ein träges, fast raubtierhaftes Licht in seinen Augen … Behutsam ließ er seine Finger von ihrer Wange zu ihren Lippen gleiten, zeichnete mit der Fingerspitze die Konturen ihres Mundes nach. »Vermutlich solltest du mir sagen, dass ich damit aufhören muss«, murmelte er.

Doch Clary schwieg. Sie wollte ihm nicht sagen, er solle aufhören. Sie hatte es satt, immer wieder Nein zu sagen - Nein zu Jace, Nein zu ihren Gefühlen. Sie wollte sich endlich gestatten, das zu fühlen, wonach sie sich von ganzem Herzen sehnte. Ganz gleich, zu welchem Preis.

Jace beugte sich zu ihr hinab. Seine Lippen streiften ihre Wange, berührten sie nur ganz leicht, und doch verursachte diese leise Berührung kleine elektrische Schauer, die sie am ganzen Körper erbeben ließen. »Wenn du willst, dass ich aufhöre, solltest du es jetzt sagen«, flüsterte er. Als Clary noch immer schwieg, streifte er mit seinen Lippen über ihre Schläfen. »Oder jetzt.« Er folgte der Kontur ihrer Wangenknochen. »Oder jetzt.« Seine Lippen schwebten über ihren. »Oder…«

Doch Clary hatte bereits die Arme ausgestreckt und zog ihn zu sich heran, sodass der Rest seiner Worte in ihrem Mund unterging. Behutsam küsste er sie, sanft… Aber Zärtlichkeit war nicht das, was sie wollte, nicht jetzt, nicht nach all der Zeit! Stürmisch packte sie ihn am Hemd und zog ihn fester an sich. Jace stöhnte leise auf, der Laut kam tief aus seiner Kehle und dann schlang er die Arme um sie, presste sie an sich, küsste sie leidenschaftlich und rollte sich über sie. Steine gruben sich in Clarys Rücken und ihre Schulter schmerzte vom Aufprall auf der Wiese unter dem Fenster, doch das alles kümmerte sie nicht. In diesem Moment existierte nur Jace. Er war das Einzige, was sie spürte, erhoffte, begehrte. Nichts anderes zählte mehr. 

Sie konnte die Wärme seines Körpers durch ihren Mantel spüren, die Hitze, die er durch ihre und seine Kleidung abstrahlte. Ungeduldig zog sie ihm die Jacke aus und Momente später lag auch sein Hemd auf dem Boden. Ihre Finger erkundeten seinen Körper, während sein Mund ihren erkundete. Weiche Haut über schlanken Muskeln, Narben wie dünne Drahtschnüre. Vorsichtig berührte sie das sternförmige Mal an seiner Schulter - es fühlte sich glatt und flach an, als wäre es ein Teil seiner Haut, nicht erhaben wie seine übrigen Narben. Möglicherweise galten diese Spuren verheilter Wunden anderen Menschen als Unvollkommenheiten, doch Clary sah das mit anderen Augen. Für sie waren sie ein historisches Zeugnis, tief in seinen Körper geritzt - die Karte eines Lebens in endlosem Kampf.

Mit bebenden Fingern fummelte Jace an den Knöpfen ihres Umhangs herum. Clary konnte sich nicht erinnern, dass seine Hände jemals gezittert hätten. »Lass mich mal«, sagte sie und griff nach dem letzten Knopf. Als sie sich aufrichtete, streifte etwas Kaltes, Metallisches ihr Schlüsselbein und sie hielt vor Überraschung die Luft an.

»Was ist?« Jace erstarrte. »Hab ich dir wehgetan?«

»Nein, du nicht. Aber das hier.« Vorsichtig berührte sie die Silberkette an seinem Hals. An ihrem Ende baumelte ein schmaler silberner Ring, der gegen sie geprallt war, als sie sich vorgebeugt hatte. Nachdenklich starrte Clary auf den Anhänger. 

Dieser Ring … dieses verwitterte Metallband mit seinem Muster aus Sternen … irgendwoher kannte sie diesen Ring.

Mit einem Schlag wurde Clary bewusst, dass es sich um den Ring der Familie Morgenstern handelte. Es war derselbe Ring, der an Valentins Hand geglitzert hatte … in dem vom Engel gesandten Wachtraum. Der Ring hatte Valentin gehört und er hatte ihn Jace gegeben, so wie er von jeher von Generation zu Generation weitergereicht worden war, von Vater zu Sohn.

»Tut mir leid«, sagte Jace. Mit den Fingerspitzen zeichnete er die Konturen ihrer Wange nach, einen verträumten Blick in den Augen. »Ich hab ganz vergessen, dass ich das verdammte Ding um den Hals trage.«

Plötzlich strömte eine Eiseskälte durch Clarys Adern. »Jace«, sagte sie leise. »Jace, hör auf.«

»Womit soll ich aufhören? Den Ring zu tragen?«

»Nein, hör auf… hör auf, mich zu berühren. Hör für einen Moment auf.«

Sein Gesicht wurde vollkommen reglos. Ein fragender Ausdruck hatte das träumerische Licht aus seinen Augen vertrieben, doch er schwieg und zog lediglich seine Hand weg.

»Jace«, wiederholte Clary. »Warum? Warum jetzt?«

Erstaunt schaute er sie an; die Überraschung sorgte dafür, dass sich seine Lippen einen Spalt öffneten. Clary erkannte eine dunkle Linie an der Stelle, an der er sich auf die Unterlippe gebissen hatte. Oder vielleicht hatte sie ihn ja gebissen. »Warum was jetzt?«, fragte er ratlos.

»Du hast doch gesagt, zwischen uns wäre nichts. Und wenn … wenn wir uns die Gefühle gestatten, die wir gerne für einander empfinden würden, dann würden wir alle Menschen, die wir lieben, verletzen.«

»Ich hab’s dir doch schon gesagt: Das war eine Lüge.« Sein Blick wurde wieder sanfter. »Glaubst du ernsthaft, ich würde dich nicht wollen …?«

»Nein«, erwiderte Clary. »Nein, ich bin ja nicht blöd, ich weiß, dass du es auch willst. Aber als du gesagt hast, dass du endlich verstehst, warum du auf diese Weise für mich empfindest, was hast du damit gemeint?«

Natürlich kannte sie seine Antwort, aber sie musste diese Frage stellen, musste es aus seinem Mund hören.

Jace umfasste ihre Handgelenke, führte ihre Hände zu seinem Gesicht und presste sie auf seine Wangen. »Erinnerst du dich, was ich vor ein paar Tagen zu dir gesagt habe … im Haus der Penhallows?«, fragte er. »Dass du nie nachdenkst, bevor du handelst, und dass du deswegen alles vermasselst, was du anfängst?«

»Nein, das hatte ich vergessen. Aber vielen Dank für die Erinnerung.«

Jace schien den Sarkasmus in Clarys Stimme kaum wahrzunehmen. »Damals habe ich gar nicht von dir geredet, Clary. Ich meinte mich damit. Denn so bin ich nun mal.« Er wandte das Gesicht ab, sodass ihre Finger über seine Wangen glitten. »Wenigstens weiß ich jetzt den Grund dafür. Ich weiß nun, was mit mir nicht stimmt. Und vielleicht… vielleicht ist das ja auch der Grund, warum ich dich so sehr brauche. Denn wenn Valentin mich zu einem Monster gemacht hat, dann hat er dich vermutlich zu einer Art Engel gemacht. Und Luzifer hat Gott geliebt, oder etwa nicht? Das behauptet zumindest Milton.« 

Clary sog hörbar die Luft ein. »Ich bin kein Engel! Und du weißt doch gar nicht, ob Valentin Ithuriels Blut tatsächlich dafür verwendet hat. Vielleicht wollte Valentin es ja nur für sich selbst…«

»Er sagte wörtlich: >Das Blut wird mir und den Meinen von größerem Nutzen sein< … >mir und den Meinen<«, erwiderte Jace leise. »Das erklärt auch, warum du diese besonderen Fähigkeiten besitzt, Clary. Die Feenkönigin meinte, wir beide wären Experimente. Nicht nur ich.« 

»Aber ich bin kein Engel, Jace«, beharrte Clary. »Ich bringe meine aus der Bücherei geliehenen Bücher nicht zurück. Ich lade mir illegal Musik aus dem Internet herunter. Ich belüge meine Mutter. Ich bin ein ganz gewöhnliches Mädchen.« 

»Nicht für mich.« Jace blickte auf sie hinab. Sein Gesicht schwebte vor einem Hintergrund aus funkelnden Sternen. Von seiner üblichen Arroganz war nichts mehr zu erkennen - noch nie hatte Clary ihn so ungeschützt gesehen. Doch selbst in diesen ungeschützten Blick mischte sich ein Selbsthass, der so tief ging wie eine Wunde. »Clary, ich …«

»Geh runter von mir«, sagte Clary.

»Was?« Das Begehren in seinen Augen zersplitterte in tausend Stücke, wie die Scherben des Portals in Renwicks Ruine, und einen kurzen Moment starrte er sie nur vollkommen verblüfft an. Clary brachte es kaum über sich, ihn anzusehen und trotzdem bei ihrem Nein zu bleiben. Der Anblick seines Gesichts … Selbst wenn sie Jace nicht liebte, würde ein Teil von ihr ihn noch immer wollen, der Teil, der sie zur Tochter ihrer Mutter machte, die alle wunderschönen Dinge um ihrer Schönheit willen liebte. 

Andererseits war genau das - die Tatsache, dass sie die Tochter ihrer Mutter war - der Grund dafür, dass sie unmöglich nachgeben konnte.

»Du hast gehört, was ich gesagt habe«, erwiderte sie. »Und lass meine Finger in Ruhe.« Sie riss die Hände zurück und ballte sie zu Fäusten, damit sie nicht länger unkontrolliert zitterten.

Jace rührte sich nicht. Dann verzog er den Mund und einen Moment lang sah Clary wieder jenes raubtierhafte Licht in seinen Augen - dieses Mal jedoch vermischt mit Wut. »Ich nehme nicht an, dass du mir den Grund sagen willst, oder?«

»Du glaubst, du würdest mich nur wollen, weil du böse wärst, nicht menschlich. Du suchst nur nach einem weiteren Grund, dich selbst zu hassen. Aber ich werde nicht zulassen, dass du mich dazu benutzt, dir deine >Unwürdigkeit< zu beweisen.«

»Das habe ich nie gesagt. Ich hab nie gesagt, dass ich dich benutzen würde.«

»Prima«, erwiderte Clary. »Dann sag mir hier und jetzt, dass du kein Monster bist. Sag mir, dass mit dir alles in Ordnung ist. Und sag mir, dass du mich auch dann wollen würdest, wenn du kein Dämonenblut hättest.« Denn ich habe kein Dämonenblut. Aber ich will dich trotzdem. 

Ihre Blicke trafen sich; Jace’ Augen funkelten vor blinder Wut. Einen Moment lang schienen beide die Luft anzuhalten - doch dann stieß Jace sich von Clary ab, fluchte und sprang auf die Beine. Zornig schnappte er sich sein Hemd vom Rasen, streifte es über den Kopf, zerrte es bis über die Jeans und sah sich dann suchend nach seiner Jacke um. 

Auch Clary rappelte sich auf-und kam schwankend auf die Füße. Der beißende Wind erzeugte eine Gänsehaut auf ihren Armen und ihre Beine fühlten sich an, als bestünden sie aus halb geschmolzenem Wachs. Mit tauben Fingern knöpfte sie ihren Umhang zu, während sie gegen den Drang ankämpfte, in heiße Tränen auszubrechen. Doch die würden ihr jetzt auch nicht weiterhelfen.

Die Luft war noch immer erfüllt von tanzenden Staub- und Aschepartikeln, die Wiese von Trümmern übersät: Splitter von Möbelstücken, im Wind flatternde Buchseiten, Fragmente von vergoldetem Holz, ein Treppenabsatz aus mehreren Stufen, der auf mysteriöse Weise intakt geblieben war. Clary drehte sich zu Jace um.

Mit einem Ausdruck wilder Genugtuung auf dem Gesicht trat er gegen diverse Trümmerteile. »Na klasse«, stieß er hervor, »jetzt sind wir endgültig aufgeschmissen.«

Mit diesem Kommentar hatte Clary nicht gerechnet. Blinzelnd starrte sie ihn an: »Was ist denn?«

»Weißt du nicht mehr? Du hast doch meine Stele verloren. Und ohne die besteht nicht die geringste Chance, dass du ein Portal erschaffen kannst.« Aus seinen Worten klang eine Art bitteres Vergnügen, als würde ihm die Situation auf seltsame Weise eine gewisse Befriedigung verschaffen. »Damit ist eine schnelle Rückkehr unmöglich. Uns bleibt nichts anderes übrig, als zu laufen.« Selbst unter normalen Umständen wäre der Rückweg kein Spaziergang geworden. Da Clary an die Lichter der Großstadt gewöhnt war, konnte sie kaum fassen, wie dunkel es nachts in Idris wurde. In den dichten schwarzen Schatten, die die Straße auf beiden Seiten säumten, schien es vor irgendwelchen kaum sichtbaren Kreaturen zu wimmeln, und trotz des Scheins von Jace’ Elbenlichtstein konnte sie nur wenige Meter weit schauen. Clary vermisste die Straßenlaternen, die sanfte Hintergrundbeleuchtung der Autoscheinwerfer, die Geräusche der Stadt. Hier in Idris hörte sie nichts außer dem gleichmäßigen Knirschen ihrer Stiefel auf dem Schotterweg, nur gelegentlich unterbrochen von einem überraschten Schnaufen, wenn sie über einen größeren Stein strauchelte. 

Nach ein paar Stunden begannen ihre Füße zu schmerzen und ihr Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, so trocken wie Pergament. Die Luft war nun schneidend kalt und Clary stapfte zitternd und mit hochgezogenen Schultern neben Jace her, die Hände tief in den Taschen vergraben. Doch all dies wäre noch erträglich gewesen, wenn Jace wenigstens mit ihr geredet hätte. Seit ihrem Aufbruch hatte er kein Wort mehr mit ihr gewechselt, abgesehen von ein paar kurz angebundenen Anweisungen - welchen Weg sie an einer Kreuzung nehmen oder dass sie um ein Schlagloch herumgehen solle. Allerdings bezweifelte Clary, dass es Jace viel ausgemacht hätte, wenn sie in eines der Schlaglöcher gefallen wäre - ein Sturz hätte lediglich ihr Vorankommen verzögert.

Endlich schien sich der Himmel im Osten zu lichten. Überrascht hob Clary den Kopf und riss sich damit aus ihrem schlaftrunkenen Trott. »Für die Morgendämmerung ist es noch reichlich früh«, stellte sie erstaunt fest.

Jace musterte sie mit kühler Verachtung. »Das ist Alicante. Bis zum Sonnenaufgang dauert es noch mindestens drei Stunden. Das da drüben sind die Lichter der Stadt.«

Clary war viel zu erleichtert darüber, dass sie nicht mehr weit zu laufen hatten, um sich seine arrogante Haltung zu Herzen zu nehmen, und erhöhte ihrerseits das Schritttempo. Als sie um eine Ecke bogen, fanden sie sich auf einem breiten Feldweg wieder, der sich in Serpentinen einen Hügel hinabschlängelte und in der Ferne hinter einer Kurve verschwand. Obwohl die Stadt noch nicht in Sichtweite gekommen war, strahlte der Himmel in einem merkwürdigen rötlichen Glanz.

»Wir müssten bald da sein«, sagte Clary. »Gibt es vielleicht eine Abkürzung, direkt den Hügel hinunter?«

Jace runzelte die Stirn. »Irgendetwas stimmt hier nicht«, erwiderte er knapp, setzte sich in Bewegung und lief die Straße entlang, wobei seine Stiefel kleine Staubwolken aufwirbelten, die in dem seltsamen Licht ockergelb leuchteten. Clary ignorierte die Proteste ihrer blasenübersäten Füße und musste förmlich sprinten, um mit ihm Schritt halten zu können. Als Jace hinter einer Kurve abrupt stehen blieb, prallte Clary ungebremst gegen ihn und hätte ihn fast umgerannt - unter anderen Umständen hätte sie vielleicht darüber gelacht, doch in dieser Situation war ihr nicht danach zumute.

Das rötliche Licht hatte nun an Leuchtkraft gewonnen und überzog den Nachthimmel mit einem scharlachroten Glühen, das den Hügel, auf dem sie standen, fast taghell erleuchtete. Aus dem Tal unter ihnen stiegen Rauchfahnen hoch wie die sich entfaltenden Federn eines schwarzen Pfaus. Und aus dem schwarzen Dunst ragten die Dämonentürme von Alicante auf, deren gläserne Verkleidungen den rauchverhangenen Himmel Feuerpfeilen gleich durchbohrten. Doch zwischen den dicken Qualmwolken entdeckte Clary das Scharlachrot zuckender Flammen, die wie eine Handvoll glitzernder Rubine auf einem schwarzen Tuch über die gesamte Stadt verbreitet waren. 

Es schien undenkbar und doch ließ sich nicht daran rütteln: Sie standen auf einer Hügelkuppe hoch über Alicante - und die Stadt unter ihnen brannte lichterloh.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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