18

 

SEI GEGRÜSST UND LEB WOHL! 

 

Das Tal war schöner, als Jace es in seiner Vision gesehen hatte. Vielleicht lag es am glitzernden Mondlicht, das den Bach zwischen den grünen Ufern silbern aufleuchten ließ. Weißbirken und Espen säumten die Hänge; ihre Blätter zitterten im Wind. Hier oben ging eine frische Brise, stellte Jace fest. 

Dies war zweifellos der Ort, an dem er Sebastian zum letzten Mal gesehen hatte. Endlich würde er ihn einholen. Nachdem er Wayfarer an einen Baum gebunden hatte, nahm Jace den blutigen Stofffaden aus seiner Tasche und wiederholte das Ortungsritual, nur um sicherzugehen. 

Er schloss die Augen und hoffte, Sebastian zu sehen, bestenfalls irgendwo in der Nähe - vielleicht sogar noch in diesem Tal … 

Doch stattdessen sah er nur Dunkelheit.

Sein Herz begann, wild zu schlagen.

Er versuchte es erneut, nahm den Faden in die linke Faust und zeichnete mit der rechten, schwächeren Hand ungelenk eine Ortungsrune auf den linken Handrücken. Dann holte er tief Luft und schloss die Augen. 

Wieder nichts. Nur eine wogende, schemenhafte Dunkelheit. Mit zusammengebissenen Zähnen stand Jace eine geschlagene Minute reglos da; der kalte Wind drang schneidend durch seine Jacke und verursachte ihm eine Gänsehaut. Schließlich öffnete er fluchend die Augen - und in einem Anfall verzweifelter Wut die Faust. Sofort erfasste der Wind den Faden und trug ihn fort, so schnell, dass Jace ihn nicht hätte zurückholen können, selbst wenn er seinen Entschluss umgehend bereut hätte. 

Seine Gedanken überschlugen sich. Offensichtlich funktionierte die Ortungsrune nicht mehr. Vielleicht war Sebastian ja aufgefallen, dass er verfolgt wurde, und er hatte etwas unternommen, um die Magie der Rune zu blockieren. Aber was konnte man gegen eine Ortungsrune schon unternehmen? Vielleicht befand er sich ja in der Nähe eines großen Gewässers - Wasser beeinträchtigte die Wirkung von Magie. 

Aber das half ihm jetzt auch nicht weiter. Schließlich konnte er nicht jeden See im Land absuchen und nachsehen, ob Sebastian vielleicht in dessen Mitte trieb. Dabei war er ihm schon so nahe gewesen - so nahe! Er hatte dieses Tal gesehen, hatte Sebastian darin gesehen. Und dort unten lag das Haus, kaum sichtbar zwischen den Bäumen in der Talsenke. Es konnte nicht schaden, ihm einen Besuch abzustatten, überlegte Jace - vielleicht fand er dort ja irgendetwas, das auf Sebastians oder Valentins Aufenthaltsort hindeutete. 

Resigniert nahm er die Stele und versah sich mit verschiedenen rasch wirkenden Kampfrunen: eine, die ihn lautlos machte, eine für Schnelligkeit und eine, die ihm einen sicheren Stand verlieh. Als er fertig war und das vertraute Brennen auf der Haut spürte, steckte er die Stele ein, gab Wayfarer einen aufmunternden Klaps und machte sich an den Abstieg ins Tal. 

Der Hang war mit tückischem, losem Geröll bedeckt und trügerisch steil. Vorsichtig suchte Jace sich einen Weg nach unten und wechselte dabei zwischen Klettern und Rutschen - was zwar schneller ging, aber auch gefährlicher war. Als er endlich die Talsohle erreicht hatte, bluteten seine Finger, da er auf dem losen Geröll mehrfach ausgerutscht war. Rasch wusch er sich die Hände im klaren, eisig kalten Bachwasser. 

Schließlich richtete er sich auf, schaute sich um und erkannte, dass er das Tal nun aus einer anderen Perspektive sah als in seiner Ortungsvision. Vor ihm lag ein Wäldchen mit knorrigen Bäumen, deren Äste und Zweige dicht miteinander verwoben waren, und die Hänge des Tals ragten steil in den Himmel hinauf. Endlich entdeckte er das kleine Haus hinter dichtem Gestrüpp. Sämtliche Fenster waren dunkel und aus dem Schornstein stieg kein Rauch, stellte Jace mit einer Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung fest. Natürlich würde ihm die Durchsuchung der Räume leichter fallen, wenn das Haus leer war - aber andererseits war es eben auch leer. 

Während Jace sich dem Gebäude näherte, fragte er sich, was ihm daran in seiner Vision so unheimlich erschienen war. Aus der Nähe betrachtet, handelte es sich um ein ganz normales idrisches Gehöft, gemauert aus weißen und grauen Steinquadern. Die Fensterläden mussten einst in leuchtendem Blau gestrahlt haben, doch jetzt sahen sie so aus, als hätte sich seit Jahren niemand mehr darum gekümmert: Ihre Farbe war verblasst und abgeblättert. 

Vorsichtig hievte Jace sich auf eine der Fensterbänke und blinzelte durch die milchige Glasscheibe. Dahinter lag ein großer, leicht staubiger Raum mit einer Werkbank, die sich entlang einer der Wände erstreckte. Allerdings handelte es sich bei den darauf verstreuten Gerätschaften nicht um die Arbeitsmittel eines normalen Handwerkers - es waren die Werkzeuge eines Hexenmeisters: Stapel von schmuddeligem Pergament; schwarze Wachskerzen; schwere Kupferkessel mit einer getrockneten dunklen Flüssigkeit am Rand; ein Sortiment von Messern, manche so dünn wie Ahlen, andere mit breiten Klingen. Auf dem Boden prangte ein mit Kreide gezeichnetes Pentagramm, dessen Konturen verwischt waren und dessen Spitzen fünf unterschiedliche Runen präsentierten. Jace verspürte ein mulmiges Gefühl im Magen - die Runen sahen genauso aus wie diejenigen, die um Ithuriels Füße in den Boden gemeißelt gewesen waren. War dies möglicherweise Valentins Werk? Konnten dies seine Werkzeuge sein? War dies vielleicht sein Versteck - ein Versteck, von dem Jace bisher nicht einmal geahnt hatte? 

Behutsam ließ er sich von der Fensterbank hinunter und landete weich auf einem Stück trockenen Rasen - als ein Schatten über das Antlitz des Monds streifte. Aber hier gab es doch gar keine Vögel, überlegte Jace und schaute gerade noch rechtzeitig auf, um einen Raben zu entdecken, der hoch über ihm kreiste. Jace erstarrte und zog sich hastig in den Schatten eines Baumes zurück, durch dessen Zweige er zum Himmel hinaufspähte. Als der Rabe näher kam, wusste Jace, dass ihn sein Instinkt nicht getäuscht hatte. Dies war nicht irgendein Vogel - dies war Hugo, der Rabe, der einst Hodge gehört hatte und den dieser gelegentlich für die Übermittlung von Nachrichten aus dem Institut eingesetzt hatte. Erst später hatte Jace erfahren, dass Hugo ursprünglich der Rabe seines Vaters gewesen war. 

Jace drückte sich dicht gegen den Baumstamm; sein Herz raste erneut, dieses Mal jedoch vor freudiger Erregung. Wenn Hugo hier war, konnte das nur bedeuten, dass er eine Nachricht überbrachte, die allerdings nicht mehr für Hodge bestimmt war - sondern für Valentin. Daran gab es keinen Zweifel. Wenn es ihm doch nur gelänge, dem Raben zu folgen… 

Im nächsten Moment ließ Hugo sich auf einer der Fensterbänke nieder und blinzelte durch die Scheibe. Als er offensichtlich erkannte, dass das Haus leer war, schwang er sich mit einem gereizten Krächzen wieder in die Lüfte und flog in Richtung des Bachlaufs. 

Sofort trat Jace aus dem Baumschatten und machte sich an die Verfolgung des Raben. 

 

»Das bedeutet also: Obwohl Jace nicht mit dir verwandt ist, hast du genau genommen dennoch deinen Bruder geküsst«, stellte Simon fest. 

»Simon!« Clary war entsetzt. »Halt die KLAPPE!« Sie wirbelte auf ihrem Platz herum, um nachzusehen, ob ihnen jemand zugehört hatte. Aber glücklicherweise schien niemand etwas von ihrem Gespräch mitbekommen zu haben. Clary saß auf einem der hochlehnigen Stühle auf dem Podium der Abkommenshalle, mit Simon an ihrer Seite, während ihre Mutter am Rand des Podiums stand, sich zu Amatis hinunterbeugte und sich mit ihr unterhielt. 

In der gesamten Halle herrschte das reinste Chaos, da immer mehr Schattenweltler hereinströmten und sich entlang der Wände verteilten. Clary erkannte verschiedene Mitglieder von Lukes Rudel wieder, darunter auch Maia, die ihr quer durch den Saal zugrinste. Neben den Feenwesen, die so bleich, kühl und grazil wie Eiszapfen wirkten, entdeckte sie etliche Hexenmeister, von deren Fingerspitzen blaue Funken sprühten, wenn sie sich durch den Raum bewegten. Einige von ihnen hatten Fledermausschwingen oder Ziegenfüße und Clary entdeckte sogar einen mit Hörnern. Nervös verteilten sich die anwesenden Schattenjäger zwischen den Neuankömmlingen. 

Die Stele fest umklammert, schaute Clary sich ängstlich um. Wo steckte Luke? Er war irgendwo in der Menge verschwunden. Einen kurzen Moment später entdeckte sie ihn bei Malachi, der vehement den Kopf schüttelte. Amatis hatte sich inzwischen ebenfalls zu ihnen gesellt und warf dem Konsul finstere Blicke zu. 

»Lass mich das ja nicht bereuen, dass ich dir das alles anvertraut habe, Simon«, wandte Clary sich wieder an ihren Freund und sah ihn warnend an. Sie hatte ihm eine Kurzversion von Jocelyns Geschichte erzählt - das meiste im Flüsterton, während Simon ihr geholfen hatte, sich einen Weg durch die Menge zu bahnen und ihren Platz auf dem Podium einzunehmen. Es erschien ihr merkwürdig, hier oben zu sitzen und auf den Saal hinabzublicken, als wäre sie die Königin aller Anwesenden. Aber eine Königin wäre nicht annähernd so von Panik erfüllt wie sie, überlegte Clary. »Außerdem hat er richtig furchtbar geküsst«, fügte sie für Simon hinzu. 

»Oder vielleicht war es einfach nur deshalb so furchtbar, weil er, na ja … weil er dein Bruder war.« Simon schien sich über die ganze Angelegenheit köstlich zu amüsieren - wozu er nach Clarys Meinung überhaupt kein Recht hatte. 

»Wiederhol das ja nicht in Gegenwart meiner Mutter, sonst bring ich dich um!«, stieß sie wütend funkelnd hervor. »Ich hab jetzt schon das Gefühl, dass ich mich jeden Moment übergeben muss oder in Ohnmacht falle. Mach es nicht noch schlimmer.« 

Jocelyn, die vom Rand des Podiums zurückgekehrt war und Clarys letzte Worte aufgeschnappt hatte - glücklicherweise aber nicht den Anlass für Clarys und Simons Gespräch -, klopfte ihrer Tochter ermunternd auf die Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Süße. Du warst vorhin einfach großartig. Kann ich dir irgendetwas besorgen? Eine Decke, heißes Wasser…« 

»Mir ist nicht kalt«, erwiderte Clary geduldig, »und ich wollte auch kein Bad nehmen. Mir geht’s so weit gut. Ich wünschte nur, Luke würde herkommen und mir sagen, was jetzt passiert.« 

Sofort winkte Jocelyn Luke querdurch den Saal zu, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, wobei sie irgendetwas stumm mit den Lippen formulierte, was Clary aber nicht entziffern konnte. 

»Mom«, fauchte sie, »nicht!« Doch es war bereits zu spät. Luke blickte auf - und mit ihm eine Reihe von Schattenjägern. Die meisten schauten zwar genauso rasch wieder fort, aber Clary spürte die Faszination in ihren Blicken. Der Gedanke, dass ihre Mutter in Schattenjägerkreisen eine Art Legende war, erschien Clary irgendwie seltsam. Nahezu jeder im Saal kannte Jocelyns Namen und hatte sich eine Meinung über sie gebildet, sei es eine positive oder negative. Clary fragte sich, wie es ihrer Mutter gelang, sich nicht davon beeinflussen zu lassen. Sie machte zumindest nicht den Eindruck, als würde es sie interessieren - stattdessen wirkte sie gefasst, beherrscht und gefährlich. 

Einen Moment später gesellte Luke sich zu ihnen aufs Podium, Amatis an seiner Seite. Er schien zwar immer noch erschöpft, aber zugleich auch wachsam und sogar ein wenig aufgeregt. »Noch einen Moment Geduld. Gleich geht’s los«, wandte er sich an Clary. 

»Malachi …«, setzte Jocelyn an, ohne Luke direkt anzusehen, »hat er irgendwelchen Ärger gemacht?« 

Luke winkte abschätzig ab. »Er meint, wir sollten Valentin eine Nachricht schicken und seine Bedingungen offiziell ablehnen. Aber ich bin der Meinung, dass wir uns nicht zu rühren brauchen. Soll Valentin mit seinem Heer doch in der Brocelind-Ebene auftauchen, in der Erwartung einer Kapitulation. Malachi war der Ansicht, das sei nicht sehr fair. Und als ich ihm erklärte, dass ein Krieg kein Schülerfußballturnier sei, erwiderte er: Falls einer der Schattenweltler auch nur ansatzweise über die Stränge schlüge, würde er sofort einschreiten und die ganze Geschichte beenden. Ich habe keine Ahnung, was seiner Ansicht nach hier passieren wird - als ob Schattenweltler nicht mal fünf Minuten friedlich sein könnten.« 

»Aber genau das denkt er«, warf Amatis ein. »Wir reden hier schließlich von Malachi. Wahrscheinlich fürchtet er, dass ihr euch gegenseitig auffressen könntet.« 

»Amatis! Jemand könnte dich hören!«, protestierte Luke und drehte sich dann um, da hinter ihm zwei Männer die Stufen zum Podium hinaufstiegen: Bei dem ersten Mann handelte es sich um einen groß gewachsenen, schlanken Elbenritter mit blattgrünen Augen und langem dunklem Haar, das sein schmales Gesicht wie zwei glatte Tücher rahmte. Er trug eine Rüstung aus einem schimmernden weißen Material - winzige, einander überlappende Metallplättchen, wie die Schuppen eines Fischs. 

Der zweite Mann war Magnus Bane, der mit ernstem Gesicht auf Luke zutrat. Er trug einen langen dunklen, bis zum Kragen zugeknöpften Mantel und hatte sein schwarzes Haar straff nach hinten gekämmt. 

»Du siehst so schlicht aus«, stellte Clary verblüfft fest. 

Magnus schenkte ihr ein mattes Lächeln. »Ich habe gehört, du wolltest uns eine Rune zeigen«, erwiderte er lediglich. 

Fragend schaute Clary zu Luke, der daraufhin bestätigend nickte. »Ja«, sagte sie. »Ich brauch nur irgendwas zum Schreiben - ein Stück Papier oder so was.« 

»Ich hab doch gefragt, ob du irgendetwas benötigst!«, stieß Jocelyn leise hervor und klang fast wieder wie die Mutter, die Clary kannte. 

»Hier - ich hab ein Stück Papier«, meldete Simon sich, fischte irgendetwas aus seiner Jeanstasche und gab es Clary: Es war ein zerknittertes Flugblatt mit einer Vorankündigung für einen Auftritt von Simons Band in der Knitting Factory. 

Clary zuckte die Achseln, drehte den Zettel um und nahm ihre geliehene Stele zur Hand. Als sie mit der Spitze über das Papier fuhr, sprühte der gläserne Stab kleine Funken und Clary fürchtete einen Moment, der Zettel könne Feuer fangen. Doch dann erlosch die winzige Flamme und Clary machte sich an die Zeichnung, während sie sich gleichzeitig stark konzentrierte, um alles andere um sie herum auszublenden: den Lärm der Menge, das Gefühl, dass alle sie anstarrten. 

Die Rune floss auch dieses Mal fast wie von selbst auf das Papier - ein Muster aus stark miteinander verwobenen Linien, überlagert von einem Raster, das sich bis zum Rand des Blatts erstreckte, als erwarte es eine Vollendung, die noch ausstand. Behutsam wischte Clary den Staub vom Papier und hielt es hoch, wobei sie sich ein wenig merkwürdig fühlte, als wäre sie in der Schule und würde der Klasse eine Hausaufgabe präsentieren. »Das ist die Rune«, erklärte sie. »Allerdings benötigt sie eine zweite Rune, um sie zu vervollständigen … damit sie richtig funktionieren kann. Eine … eine Partnerrune.« 

»Je ein Schattenweltler und ein Schattenjäger. Jeder Teil dieser Partnerschaft muss mit der Rune versehen werden«, erläuterte Luke. Dann zeichnete er eine Kopie auf die untere Hälfte des Zettels, riss diesen entzwei und reichte einen Teil seiner Schwester. »Fang schon mal an, die Rune zu verbreiten«, bat er sie. »Und zeig den Nephilim, wie sie funktioniert.« 

Mit einem kurzen Nicken stieg Amatis die Stufen hinunter und verschwand in der Menge. Der Elbenritter sah ihr kopfschüttelnd nach. »Man hat mir immer erzählt, dass nur die Nephilim die Runen des Erzengels tragen können«, sagte er mit unverhohlener Skepsis in der Stimme. »Und dass wir anderen verrückt würden oder sterben, sollten wir es auch nur versuchen.« 

»Bei dieser Rune handelt es sich um keine der Engelsrunen«, erwiderte Clary. »Sie stammt nicht aus dem Grauen Buch - sie stellt keinerlei Gefahr dar, das verspreche ich.« 

Doch der Elbenritter wirkte nicht sonderlich beeindruckt. 

Seufzend krempelte Magnus seinen Ärmel hoch und hielt Clary eine Hand entgegen. »Nur zu.« 

»Das geht nicht«, widersprach Clary. »Der Schattenjäger, der dich mit der Rune versieht, wird dein Partner sein, und ich darf an der Schlacht nicht teilnehmen.« 

»Das will ich auch schwer hoffen«, sagte Magnus. Dann warf er einen Blick auf Luke und Jocelyn, die dicht nebeneinanderstanden. »Ihr zwei… legt los«, forderte er sie auf. »Zeigt dem Eiben, wie das Ganze funktioniert.« 

Überrascht blinzelte Jocelyn ihn an. »Wie bitte?« 

»Na ja, ich bin davon ausgegangen, dass ihr beide Partner werden würdet, da ihr ja ohnehin so gut wie verheiratet seid«, erklärte Magnus. 

Auf Jocelyns Wangen breitete sich schlagartig eine verräterische Röte aus. »Ich … ich habe keine Stele …«, murmelte sie und mied Lukes Blick. 

»Hier, nimm meine.« Clary reichte ihr die Stele. »Na los, zeigt es ihnen.« 

Jocelyn wandte sich Luke zu, der eine bestürzte Miene zog und ihr ruckartig seine Hand entgegenstreckte, ehe sie ihn darum bitten konnte. Hastig setzte sie die Stele an, doch Lukes Hand zitterte so sehr, dass sie sein Handgelenk nahm, um es ruhig zu halten. Luke schaute von oben auf Jocelyn hinab und beobachtete, wie sie die Rune präzise auf seine Haut übertrug. Beim Anblick der beiden musste Clary an das Gespräch zurückdenken, das sie vor einiger Zeit mit Luke über ihre Mutter geführt hatte - über seine Gefühle für Jocelyn. Mit einem Anflug von Trauer fragte sie sich, ob ihre Mutter überhaupt wusste, dass Luke sie liebte, und wie sie wohl darauf reagieren würde, wenn sie es erfuhr. 

»So.« Jocelyn nahm die Stele fort. »Fertig.« 

Luke hob seine Hand und hielt sie so, dass der Elbenritter die verschlungene schwarze Rune in der Mitte der Handfläche sehen konnte. »Bist du jetzt zufrieden, Meliorn?« 

»Meliorn?«, fragte Clary. »Wir sind uns doch schon mal begegnet, oder nicht? Du bist doch früher mal mit Isabelle Lightwood gegangen.« 

Meliorn verzog keine Miene, aber Clary hätte schwören können, dass sich in seinen Augen eine Spur Unbehagen abzeichnete. Luke schüttelte den Kopf. »Clary, Meliorn ist ein Ritter am Lichten Hof. Es scheint ziemlich unwahrscheinlich, dass er…« 

»Doch, doch, doch!«, widersprach Simon. »Und ob er mit Isabelle zusammen war! Aber sie hat sich von ihm getrennt. Zumindest hat sie gesagt, dass sie das vorhabe. So ein Pech auch!« 

Meliorn blinzelte Simon an. »Bist du etwa der gewählte Vertreter der Nachtkinder?«, entgegnete er angewidert. 

Simon schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin nur ihretwegen hier«, sagte er und deutete auf Clary. 

»Die Kinder der Nacht«, erklärte Luke nach kurzem Zögern, »wirken nicht mit, Meliorn. Das habe ich deiner Königin aber auch übermitteln lassen. Sie haben sich entschlossen … eigene Wege zu gehen.« 

Meliorns elegante Züge verzogen sich zu einer finsteren Miene. »Wenn ich das gewusst hätte!«, grollte er. »Die Nachtkinder sind ein weises und vorsichtiges Volk. Jeder Plan, der ihren Zorn erregt, weckt mein Misstrauen.« 

»Von Zorn habe ich nichts gesagt«, erwiderte Luke, mit einer Mischung aus gewellter Gelassenheit und leichter Gereiztheit. Clary bezweifelte, dass irgendjemand, der ihn nicht gut kannte, seine Verärgerung überhaupt bemerkte. Doch dann spürte sie, dass sich seine Aufmerksamkeit verlagerte: Luke schaute auf den Saal hinab, und als Clary seinem Blick folgte, entdeckte sie eine vertraute Gestalt, die sich einen Weg durch die Menge bahnte - Isabelle, deren schwarzes Haar bei jedem Schritt hin und her schwang und die ihre Peitsche wie eine Reihe goldener Armbänder um ihr Handgelenk gewickelt hatte. 

Clary wandte sich Simon zu und zog ihn einen Schritt beiseite. »Die Lightwoods. Ich hab gerade Isabelle gesehen.« 

Stirnrunzelnd warf er einen Blick über die Menge. »Ich wusste nicht, dass du sie gesucht hast.« 

»Bitte geh zu ihr und rede mit ihr. Ich kann hier im Moment nicht weg«, flüsterte sie und sah sich verstohlen um, ob auch niemand mithörte. Doch die anderen waren alle beschäftigt: Luke gestikulierte mit jemandem in der Menge, während Jocelyn mit Meliorn redete, der sie mit ziemlicher Beunruhigung musterte. »Bitte sag Isabelle und Alec alles, was meine Mutter mir erzählt hat. Von Jace und wer er wirklich ist, und von Sebastian. Sie müssen es unbedingt erfahren. Sag ihnen, sie sollen so bald wie möglich zu mir kommen. Bitte, Simon.« 

»Okay.« Sichtlich beunruhigt von Clarys eindringlichem Ton, befreite Simon sein Handgelenk aus ihrem Griff und strich ihr kurz über die Wange, um sie zu beruhigen. »Bin gleich wieder zurück.« Damit stieg er die Stufen hinunter und verschwand im Gewimmel. 

Als Clary sich wieder umdrehte, sah sie, dass Magnus mit einem schiefen Lächeln um die Lippen zu ihr herüberschaute. »Kein Problem«, sagte er - offensichtlich eine Antwort auf eine Frage, die Luke ihm gerade gestellt hatte. »Ich kenne die Brocelind-Ebene. Ich werde das Portal draußen auf dem Platz errichten. Allerdings gehe ich davon aus, dass es aufgrund der erforderlichen Größe nicht von langer Dauer sein wird. Daher solltest du alle Paare, die bereits mit der Rune versehen sind, rasch hindurchschicken.« 

Als Luke nickte und sich zu Jocelyn umdrehte, beugte Clary sich schnell vor und flüsterte: »Übrigens: Vielen Dank. Für alles, was du für meine Mutter getan hast.« 

Magnus’ schiefes Grinsen wurde noch breiter. »Du hast nicht geglaubt, dass ich meinen Teil der Vereinbarung einhalten würde, oder?« 

»Ehrlich gesagt, hatte ich gewisse Zweifel«, räumte Clary ein. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass du es bei unserem Treffen in Fells Haus nicht für nötig gehalten hast, mir mitzuteilen, dass Jace Simon nach Alicante mitgebracht hatte. Bisher hatte ich noch keine Gelegenheit, dich deswegen anzuschreien … aber was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Dass mich das nicht interessieren würde?« 

»Ganz im Gegenteil: Dass dich das zu sehr interessieren würde«, entgegnete Magnus. »Und dass du alles stehen und liegen lassen und hinauf zur Garnison rennen würdest. Aber ich brauchte deine gesamte Aufmerksamkeit für die Suche nach dem Weißen Buch.« 

»Das war skrupellos«, sagte Clary wütend. »Und außerdem liegst du völlig falsch. Ich hätte …« 

»… genau das getan, was jeder getan hätte. Das, was ich getan hätte, wenn es um jemanden gegangen wäre, der mir am Herzen liegt. Ich mache dir doch gar keine Vorwürfe, Clary. Ich habe dir Simons Anwesenheit nicht deshalb verschwiegen, weil ich dich für schwach halte, sondern weil du ein Mensch bist. Und ich kenne mich mit der menschlichen Natur aus. Schließlich bin ich schon lange genug auf Erden.« 

»Als ob du keine Gefühle hättest und nie etwas Dummes tun würdest!«, schnaubte Clary. »Wo wir gerade davon reden: Wo ist eigentlich Alec? Warum bist du nicht jetzt in diesem Moment auf dem Weg zu ihm, um ihn zu deinem Partner zu machen?« 

Magnus zuckte zusammen. »Ich würde mich ihm niemals nähern, solange er bei seinen Eltern steht. Das weißt du doch genau.« 

Clary stützte das Kinn auf die Hände. »Manchmal ist es verdammt hart, das Richtige zu tun, wenn man jemanden liebt.« 

»Das kannst du laut sagen«, bestätigte Magnus. 

 

Der Rabe flog in großen, trägen Kreisen und schwang sich über die Baumwipfel in Richtung Westen. Inzwischen stand der Mond hoch am Himmel, sodass Jace auf das Licht seines Elbensteins verzichten konnte, während er dem Vogel im Schutz der Bäume folgte. 

Nach einer Weile stieg vor ihm der westliche Talhang steil auf, eine massive Wand aus grauem Felsgestein. Der Rabe schien dem Lauf des Bachs stromaufwärts zu folgen, der sich durch das Geröll schlängelte und schließlich in einer schmalen Felsspalte zu verschwinden schien. Bei dem Versuch, den Vogel nicht aus den Augen zu verlieren, hätte Jace sich auf dem feuchten steinigen Untergrund fast ein paarmal den Knöchel verstaucht und am liebsten lauthals geflucht, doch Hugo hätte ihn bestimmt gehört. Stattdessen konzentrierte er sich darauf, sich möglichst tief zu ducken und dabei nicht das Gleichgewicht zu verlieren. 

Als er endlich den Rand des Tals erreichte, war sein Hemd schweißgetränkt. Einen Moment lang fürchtete er, er hätte Hugo aus der Sicht verloren, und verspürte maßlose Enttäuschung. Doch dann entdeckte er den schwarzen Schatten des Raben, als dieser tiefer zu kreisen begann und Sekunden später in einer dunklen, zerklüfteten Lücke in der Felswand verschwand. Sofort stürmte Jace los, erleichtert, dass er nicht länger gekrümmt schleichen musste. Als er sich der Felsspalte näherte, erkannte er eine wesentlich größere dunkle Öffnung dahinter - eine Höhle. Hastig holte Jace seinen Elbenstein hervor und folgte dem Raben in die Finsternis. 

Durch den Eingang fiel nur wenig Licht in die Höhle und selbst diese geringe Lichtmenge schien nach ein paar Metern von einer erdrückenden Dunkelheit geschluckt zu werden. Jace hob seinen Elbenstein und ließ dessen Strahlen zwischen seinen Fingern hindurchscheinen. 

Zunächst dachte er, er befände sich wieder im Freien und über ihm würden die Sterne in ihrer ganzen Pracht prangen. Nirgendwo auf der Welt funkelten die Sterne so wie in Idris -aber es handelte sich nicht um ihren Schein, den Jace jetzt sah. Das Elbenlicht in seiner Hand ließ Dutzende glitzernder Katzengoldablagerungen im Felsgestein um ihn herum aufleuchten, die die Wände mit schimmernden Lichtpunkten überzogen. 

Als seine Augen sich daran gewöhnt hatten, erkannte er, dass er sich in einem schmalen Durchgang aus massivem Fels befand; der Höhleneingang lag hinter ihm und zwei abzweigende dunkle Tunnel taten sich vor ihm auf. Unwillkürlich musste Jace an die Geschichten denken, die ihm sein Vater erzählt hatte - von Helden, die sich in Labyrinthen mithilfe von Seilen oder Garnknäueln orientiert hatten, um sich nicht zu verirren. Allerdings hatte er jetzt weder das eine noch das andere bei sich. Vorsichtig bewegte er sich auf die Tunnelgänge zu und verharrte einen Moment, um zu lauschen. Aus weiter Ferne hörte er das Tröpfeln von Wasser, dahinter das Rauschen des Bachs, einen Flügelschlag und - Stimmen! 

Ruckartig wich Jace zurück. Die Stimmen kamen aus dem linken Tunnel, da war er sich sicher. Rasch strich er mit dem Daumen über den Elbenstein, um dessen Licht zu dimmen, bis es nur noch so schwach leuchtete, dass er selber den Weg finden konnte. Und dann tauchte er in die Dunkelheit des Tunnels ein. 

 

»Ist das dein Ernst, Simon? Stimmt das wirklich? Das ist ja fantastisch! Einfach wundervoll!« Isabelle griff nach der Hand ihres Bruders. »Hast du das gehört, Alec? Jace ist nicht Valentins Sohn!« 

»Und wessen Sohn ist er dann?«, fragte Alec, obwohl Simon das Gefühl hatte, dass er nur mit halbem Ohr zuhörte. Er schien sich die ganze Zeit im Saal umzusehen, als würde er etwas suchen. Seine Eltern standen ein Stück entfernt und schauten stirnrunzelnd in Richtung der drei jugendlichen. Simon hatte schon befürchtet, dass er ihnen ebenfalls die ganze Geschichte erzählen müsste, aber sie hatten ihm freundlicherweise ein paar Minuten allein mit Isabelle und Alec gestattet. 

»Ist doch egal!«, entgegnete Isabelle und riss begeistert die Hände hoch. Aber dann hielt sie inne. »Gute Frage. Wer ist denn nun sein Vater? Etwa doch Michael Wayland?« 

Simon schüttelte den Kopf. »Stephen Herondale.« 

»Also war die Inquisitorin Jace’ Großmutter«, überlegte Alec. »Dann muss das der Grund gewesen sein, weshalb sie . . Er unterbrach sich und starrte in die Ferne. 

»Weshalb sie was?«, hakte Isabelle nach. »Alec, hör gefälligst zu. Oder sag uns wenigstens, wonach du suchst.« 

»Nicht wonach, sondern nach wem«, erklärte Alec. »Ich suche nach Magnus. Ich wollte ihn fragen, ob er in der Schlacht mein Partner sein will. Aber ich hab keine Ahnung, wo er steckt. Hast du ihn vielleicht gesehen?«, wandte er sich an Simon. 

Simon schüttelte den Kopf. »Eben war er noch auf dem Podium bei Clary, aber…« - er reckte den Hals und sah sich um - »jetzt ist er nicht mehr da. Wahrscheinlich ist er irgendwo in der Menge.« 

»Ist das dein Ernst, Alec? Willst du ihn wirklich bitten, dein Partner zu werden?«, fragte Isabelle. »Diese ganze Partner-Geschichte ist wie Ringelpiez mit Anfassen, nur mit dem Unterschied, dass man dabei getötet werden kann«, kicherte sie. 

»Also genau wie Ringelpiez mit Anfassen«, konterte Simon. 

»Vielleicht sollte ich ja dann dich bitten, mein Partner zu sein, Simon«, sinnierte Isabelle und hob fragend eine Augenbraue. 

Stirnrunzelnd musterte Alec seine Schwester. Wie sämtliche Schattenjäger im Saal trug auch er seine vollständige Kampfmontur - von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, der Gürtel mit diversen Waffen bestückt und über der Schulter einen riesigen Bogen. Simon war froh, dass Alec einen Ersatz für seinen alten Bogen gefunden hatte, den Sebastian zerbrochen hatte. »Isabelle, du brauchst keinen Partner, weil du nicht kämpfen wirst. Du bist zu jung. Und wenn du auch nur im Traum daran denkst, bring ich dich um.« Ruckartig hob Alec den Kopf. »Wartet mal - ist das da drüben nicht Magnus?« 

Isabelle folgte seinem Blick und schnaubte. »Alec, das ist ein Werwolf. Ein Werwolf-Mädchen. Genau genommen, ist das … wie heißt sie noch mal? May?« 

»Maia«, berichtigte Simon. Das Mädchen stand ein Stück von ihnen entfernt. Sie trug ein enges schwarzes T-Shirt mit dem Aufdruck WAS MICH NICHT UMBRINGT … SOLLTE SICH SCHON MAL WARMLAUFEN über einer braunen Lederhose und hatte ihre zahlreichen Zöpfe mit einer Kordel zusammengebunden. Im nächsten Moment drehte sie sich um, als hätte sie die Blicke der drei gespürt, und schaute lächelnd in ihre Richtung. Simon erwiderte ihr Lächeln. Doch als Isabelle ein finsteres Gesicht zog, hörte er hastig damit auf. Wann genau war sein Leben eigentlich so verdammt kompliziert geworden? 

Eine Sekunde später lichtete sich Alecs Miene. »Da ist Magnus ja«, sagte er und setzte sich sofort in Bewegung, ohne Isabelle oder Simon noch eines Blickes zu würdigen. Entschlossen bahnte er sich einen Weg durch die Menge zu der Stelle, wo der hochgewachsene Hexenmeister stand. Magnus’ Überraschung darüber, dass Alec auf ihn zukam, war deutlich zu erkennen, selbst aus dieser Entfernung. 

»Irgendwie verhält er sich ja süß«, murmelte Isabelle, während sie Alec und Magnus beobachtete, »wenn auch wenig überzeugend.« 

»Wieso >wenig überzeugend<?« 

»Weil Alec einerseits Magnus dazu bewegen möchte, ihn ernst zu nehmen«, erläuterte Isabelle, »aber andererseits unseren Eltern noch immer nicht von ihm erzählt hat oder davon, dass er auf… auf… na, du weißt schon …« 

»Auf Hexenmeister steht?«, grinste Simon. 

»Wirklich sehr lustig.« Isabelle funkelte ihn an. »Du weißt genau, was ich meine. Hier geht es doch darum, dass …« 

»Ja, worum geht es hier eigentlich genau?«, fragte Maia, die sich den beiden genähert und Isabelles letzte Worte aufgeschnappt hatte. »Ich versteh nämlich diese ganze Partner-Geschichte nicht. Wie soll das funktionieren?« 

»Etwa so.« Simon deutete auf Alec und Magnus, die ein wenig abseits von der Menge in ihrer eigenen kleinen Welt standen. Alec beugte sich gerade über Magnus’ Hand und versah ihn mit der Rune; sein Gesicht wirkte konzentriert und die dunklen Haare waren ihm vor die Augen gefallen. 

»Dann sollen wir uns also alle so eine Rune auftragen lassen?«, fragte Maia. 

»Nur diejenigen, die in die Schlacht ziehen«, entgegnete Isabelle und musterte das andere Mädchen mit einem kühlen Blick. »Aber du siehst nicht aus, als ob du schon achtzehn wärst.« 

Maia schenkte ihr ein verkniffenes Lächeln. »Ich bin keine Schattenjägerin. Lykanthropen gelten schon mit sechzehn als volljährig.« 

»In dem Fall solltest du dich mit einer Rune versehen lassen«, erwiderte Isabelle. »Und zwar von einem Schattenjäger. Am besten ziehst du gleich los und suchst dir einen.« 

»Aber…« Maia, die noch immer in Alecs und Magnus’ Richtung geschaut hatte, verstummte abrupt. 

Simon drehte sich um, um nachzusehen, was das Werwolf-Mädchen gerade zum Schweigen gebracht hatte, und riss überrascht die Augen auf. 

Alec hatte die Arme um Magnus geschlungen und küsste ihn - voll auf den Mund. Magnus, der sich in einer Art Schockzustand zu befinden schien, stand wie angewurzelt da. Verschiedene Gruppen von Leuten - Schattenjäger und Schattenweltler gleichermaßen - starrten irritiert zu den beiden hinüber und tuschelten. Verstohlen warf Simon einen Blick auf die Lightwoods, die das Schauspiel mit großen Augen verfolgten. Maryse hatte eine Hand vor den Mund geschlagen. 

Und auch Maia wirkte vollkommen perplex. »Einen Moment mal«, stammelte sie. »Müssen wir das etwa auch machen?« 

 

Zum X-ten Mal schaute Clary über die Menge, in der Hoffnung, Simon zu entdecken. Aber sie konnte ihn einfach nicht finden. Der Saal war ein einziges Gewimmel von Schattenjägern und Schattenweltlern, von denen die ersten bereits durch die offenen Türen hinaus auf den Platz strömten. Überall blitzten Stelen auf, da immer mehr Schattenwesen und Nephilim sich zu Paaren zusammenfanden und sich gegenseitig mit der Rune versahen. Clary sah, wie Maryse Lightwood ihre Hand einer großen grünhäutigen Elfe entgegenstreckte, die genauso blass und hoheitsvoll wie sie selbst wirkte, und wie Patrick Penhallow feierlich einen Hexenmeister mit blau sprühenden Haaren zum Partner wählte. Durch die Türen der Halle erkannte Clary das leuchtende Schimmern des Portals, das Magnus auf dem Platz errichtet hatte, während das Funkeln der Sterne über dem Glasdach des Saals dem Ganzen eine surreale Note verlieh. 

»Erstaunlich, oder?«, meinte Luke, der vom Podium aus über die Menge schaute. »Schattenjäger und Schattenweltler, vereint in einem Raum. Mit einem gemeinsamen Ziel vor Augen.« Er klang fast ehrfürchtig. Aber Clary konnte nur daran denken, wie sehr sie sich wünschte, dass Jace jetzt hier wäre und alles miterleben könnte. Es gelang ihr nicht, die Sorge um ihn beiseitezuschieben, so sehr sie sich auch bemühte. Die Vorstellung, dass er vielleicht Valentin aufgestöbert hatte und möglicherweise sein Leben riskierte, weil er sich für verflucht hielt … dass er vielleicht sterben könnte, ohne jemals die Wahrheit zu erfahren … 

»Clary«, unterbrach Jocelyn Clarys Gedankengang mit einem leicht amüsierten Ton in der Stimme, »hast du gehört, was ich gesagt habe?« 

»Ja, hab ich«, erwiderte Clary, »und es ist tatsächlich erstaunlich, ich weiß.« 

Jocelyn legte ihre Hand auf Clarys. »Nein, das hab nicht ich gesagt, sondern Luke. Aber egal. Luke und ich werden beide in die Schlacht ziehen - das weißt du ja. Aber du bleibst mit Isabelle und den anderen Kindern hier.« 

»Ich bin kein Kind mehr.« 

»Ich weiß, aber du bist viel zu jung zum Kämpfen. Und selbst wenn du alt genug wärst, würde dir das Training fehlen.« 

»Aber ich will nicht einfach hier rumsitzen und tatenlos zusehen.« 

»Tatenlos?«, wiederholte Jocelyn erstaunt. »Clary, ohne dich wäre nichts von alldem hier auch nur denkbar gewesen. Wir hätten nicht einmal die Chance zu kämpfen, wenn du nicht gewesen wärst. Ich bin so stolz auf dich. Und ich wollte dir nur noch schnell sagen: Auch wenn Luke und ich gleich fort sind, werden wir auf jeden Fall zurückkehren. Mach dir keine Sorgen - alles wird gut.« 

Clary schaute ihre Mutter an und sah ihr direkt in die grünen Augen, die ihren eigenen so ähnelten. »Mom, erzähl mir keine Märchen«, sagte sie. 

Jocelyn zog scharf die Luft ein, richtete sich auf und nahm ihre Hand fort. Doch bevor sie etwas erwidern konnte, weckte etwas anderes Clarys Aufmerksamkeit - ein vertrautes Gesicht in der Menge. Eine schmächtige dunkle Gestalt, die zielgerichtet auf sie zukam und sich mit erstaunlicher Leichtigkeit durch das Gewimmel schlängelte - fast als würde sie sich durch die Menge bewegen, wie Rauch durch die Latten eines Zauns. 

Und genauso war es auch, erkannte Clary schlagartig: Vor ihr stand Raphael, in der gleichen Kleidung, die er auch bei ihrer ersten Begegnung getragen hatte - weißes Hemd über schwarzer Hose. Clary hatte ganz vergessen, wie klein er war. Er wirkte kaum älter als vierzehn, als er die Stufen hinaufkam, sein schmales Gesicht ruhig und engelsgleich, wie ein Chorknabe, der zum Altar emporsteigt. 

»Raphael«, stieß Luke mit einer Mischung aus Erstaunen und Erleichterung hervor. »Ich hätte nicht gedacht, dass du dich zu uns gesellen würdest. Haben die Nachtkinder es sich anders überlegt und werden nun doch mit uns gemeinsam gegen Valentin kämpfen? Der Sitz in der Kongregation steht euch immer noch offen - du brauchst nur einzuschlagen.« Er streckte Raphael seine Hand entgegen. 

Raphael musterte ihn ausdruckslos aus klaren dunklen Augen. »Ich kann dir nicht die Hand geben, Werwolf.« Als ein gekränkter Ausdruck über Lukes Gesicht huschte, lächelte der Vampirjunge, gerade so breit, dass die weißen Spitzen seiner Eckzähne zum Vorschein kamen. »Ich bin eine Projektion«, fügte er hinzu und hob die Hand, damit die anderen das Licht hindurchschimmern sehen konnten. »Ich kann nichts berühren.« 

»Aber … Warum …«, setzte Luke an und schaute zum Mondlicht hinauf, das durch das Glasdach fiel. »Na ja, ich bin jedenfalls froh, dass du hier bist. Ganz gleich, in welcher Erscheinungsform.« 

Raphael schüttelte den Kopf. Einen Moment lang ruhten seine Augen auf Clary - ein Blick, der ihr überhaupt nicht gefiel -, dann wandte er sich Jocelyn zu und sein Grinsen verbreiterte sich. »Du«, sagte er, »Valentins Frau. Andere meiner Art, die während des Aufstands dabei waren, haben mir von dir erzählt. Ich muss gestehen, dass ich nicht gedacht hätte, dich jemals persönlich zu Gesicht zu bekommen.« 

Jocelyn neigte den Kopf. »Damals haben viele Kinder der Nacht große Tapferkeit gezeigt. Bedeutet deine Anwesenheit, dass wir möglicherweise ein weiteres Mal Seite an Seite kämpfen?« 

Es erschien Clary merkwürdig, ihre Mutter so beherrscht und formell reden zu hören, aber für Jocelyn war das offenbar vollkommen normal - genauso normal wie in einem alten farbbeklecksten Overall auf dem Boden zu hocken und ein Bild zu malen. 

»Das hoffe ich zumindest«, erwiderte Raphael, während sein Blick Clary erneut streifte, wie die Berührung einer kalten Hand. »Wir haben nur einen einzigen Wunsch, eine einfache, kleine Bitte. Sobald die erfüllt ist, werden die Nachtkinder vieler Länder mit dem größten Vergnügen gemeinsam mit euch in die Schlacht ziehen.« 

»Der Sitz in der Kongregation«, sagte Luke. »Natürlich - das kann sofort in die Wege geleitet werden. Die Dokumente sind innerhalb einer Stunde aufgesetzt…« 

»Nein, nicht der Kongregationssitz«, entgegnete Raphael, »sondern etwas anderes.« 

»Etwas … anderes?«, wiederholte Luke verdutzt. »Aber was denn? Ich versichere dir, wenn es in unserer Macht liegt…« 

»Oh ja, das tut es«, lächelte Raphael zuckersüß. »Genau genommen, handelt es sich um etwas, das sich jetzt, in diesem Moment, innerhalb dieser Mauern befindet.« Er drehte sich um und deutete in Richtung der Menge. »Wir wollen diesen Jungen … diesen Tageslichtler. Wir wollen Simon!« 

 

Der Tunnel schien sich in endlosen Krümmungen serpentinenartig durch den Fels zu winden, sodass Jace nach einer Weile das Gefühl hatte, er würde durch die Gedärme eines riesigen Monsters kriechen. Die Luft roch nach feuchtem Gestein, Asche und irgendetwas anderem - etwas Dumpfem, Muffigem, das Jace entfernt an den Geruch in der Stadt der Gebeine erinnerte. Endlich öffnete sich der Tunnel zu einer kreisrunden Höhlenkammer. Gewaltige Stalaktiten mit glatten, schimmernden Oberflächen hingen von der zerklüfteten hohen Höhlendecke. Auch der Boden wirkte wie poliert und war mit glitzernden Steinplatten in einem geheimnisvollen Muster durchsetzt. Eine Reihe rauer Stalagmiten säumte den Rand der Höhle, in deren Mitte ein einzelner massiver Quarzstalagnit wie ein gigantischer Fangzahn aufragte. Als Jace genauer hinschaute, erkannte er, dass das rötlich schimmernde Gestein an den Seiten tatsächlich transparent und seine vermeintliche Maserung nur das Ergebnis darin wirbelnder, wogender Schwaden war - wie ein Reagenzglas, gefüllt mit rotem Rauch. 

Durch ein kreisrundes Loch in der hohen Felsdecke fiel gedämpftes Licht auf den Boden der Höhle, bei der es sich eindeutig um einen künstlich geschaffenen Hohlraum handelte - das komplizierte Muster der Steinplatten ließ gar keinen anderen Schluss zu. Doch wer sollte so eine gigantische unterirdische Kammer geschaffen haben? Und wozu? 

Plötzlich schallte ein scharfes Krächzen durch den Raum und ließ Jace nervös zusammenzucken. Er konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter einen wuchtigen Stalagmit ducken und das Licht seines Elbensteins löschen, als auch schon zwei schemenhafte Gestalten aus den Schatten des gegenüberliegenden Höhlenbereichs auftauchten und auf ihn zukamen, die Köpfe wie im tiefen Gespräch zusammengesteckt. Doch erst als sie die Höhlenmitte erreichten und in den von oben herabfallenden Lichtkegel traten, erkannte Jace, um wen es sich handelte. 

Sebastian.

Und Valentin. Um sich nicht erneut mitten durch die Menge schlängeln zu müssen, nahm Simon einen Umweg zurück zum Podium. Gedankenverloren und mit gesenktem Kopf ging er hinter den massiven Säulen entlang, die die Seiten des Saals flankierten. Es erschien ihm merkwürdig, dass Alec, der nur ein oder zwei Jahre älter war als Isabelle, in eine Schlacht zog, während der Rest von ihnen zurückbleiben sollte. Isabelle hatte diesen Befehl erstaunlich ruhig hingenommen - ohne Geschrei oder hysterische Anfälle. Simon hatte fast den Eindruck, als hätte sie damit gerechnet. Und vielleicht hatte sie das ja auch. Vielleicht hatte ja niemand etwas anderes erwartet. 

Nach ein paar Minuten hatte er die Stufen zum Podium fast erreicht, als er aufschaute und zu seiner Überraschung Raphael entdeckte, der vor Luke stand und wie üblich vollkommen ausdruckslos wirkte. Dagegen sah Luke ziemlich aufgebracht aus: Vehement schüttelte er den Kopf und hob abwehrend die Hände. Und Jocelyn neben ihm schien regelrecht empört. Clarys Gesicht konnte Simon nicht erkennen, da sie ihm den Rücken zugekehrt hatte, doch er kannte sie gut genug, um allein schon an den Schultern ihre Anspannung ablesen zu können. 

Da er nicht wollte, dass Raphael ihn bemerkte, duckte Simon sich hinter eine Säule und spitzte die Ohren. Selbst über das laute Stimmengewirr der Menge hinweg konnte er Lukes erhobene Stimme hören. 

»Völlig ausgeschlossen«, sagte Luke. »Ich kann nicht fassen, dass du es überhaupt wagst, so etwas zu verlangen.« 

»Und ich kann nicht fassen, dass du ablehnst.« Raphaels Stimme klang eisig und scharf - die klare, noch immer hohe Stimme eines vorpubertären Jungen. »Schließlich geht es hier nur um eine Kleinigkeit, eine läppische Angelegenheit.« 

»Das ist keine Kleinigkeit«, konterte Clary wütend. »Hier geht’s um Simon. Und er ist keine Angelegenheit, sondern ein Mensch.« 

»Er ist ein Vampir«, erwiderte Raphael, »was du offensichtlich immer wieder gern vergisst.« 

»Und bist du nicht auch ein Vampir?«, fragte Jocelyn in jenem eisigen Ton, den Clary von vielen Standpauken kannte, wenn sie und Simon wieder einmal etwas ausgefressen hatten. »Willst du damit sagen, dass dein Leben keinerlei Wert besitzt?« 

Simon drückte sich flach an die Säule. Was ging hier vor? 

»Mein Leben ist von großem Wert, da es - im Gegensatz zu deinem - ewig währt«, entgegnete Raphael. »Meinem Leben sind keine Grenzen gesetzt, während deines auf ein klar gesetztes Ende zusteuert. Aber darum geht es hier nicht. Der Tageslichtler ist ein Vampir, einer von uns, und ich verlange, dass er mir zurückgegeben wird.« 

»Du kannst ihn nicht zurückhaben«, fauchte Clary. »Schließlich hat er dir nie gehört. Du hast dich ja nicht mal für ihn interessiert - bis zu dem Moment, in dem du herausgefunden hast, dass er am helllichten Tag herumspazieren kann …« 

»Möglicherweise«, räumte Raphael ein, »aber nicht aus den Gründen, die du zu kennen glaubst.« Er neigte den Kopf leicht zur Seite und musterte sie aus dunklen, funkelnden Vogelaugen. »Kein Vampir sollte die Kräfte besitzen, die er besitzt«, fuhr er fort, »genau wie kein Schattenjäger die Kräfte haben sollte, die dich und deinen Bruder kennzeichnen. Jahrhundertelang hat man uns erzählt, wir seien ein Fehler der Natur, wir seien widernatürlich. Doch das Einzige wider die Natur ist der Tageslichtler.« 

»Raphael.« Lukes Ton klang warnend. »Ich habe keine Ahnung, was du dir erhoffst. Aber wir werden auf keinen Fall zulassen, dass du Simon Schaden zufügst.« 

»Wohingegen ihr keine Bedenken habt, dass Valentin und sein Dämonenheer all diesen Leuten, euren Verbündeten, Schaden zufügen.« Mit einer weit ausholenden Geste deutete Raphael auf die Menge. »Ihr lasst zu, dass sie freiwillig ihr Leben aufs Spiel setzen, wollt Simon aber nicht die gleiche Wahlmöglichkeit einräumen? Vielleicht würde er ja eine ganz andere Entscheidung treffen als ihr.« Langsam ließ er den Arm sinken. »Ihr wisst, dass wir nicht mit euch kämpfen werden, wenn ihr ihn uns nicht übergebt. Die Kinder der Nacht werden an diesem Tag nicht teilhaben.« 

»Dann eben nicht«, erwiderte Luke. »Ich werde eure Kooperation nicht mit einem unschuldigen Leben erkaufen. Ich bin nicht Valentin.« 

Sofort wandte Raphael sich Jocelyn zu. »Und was ist mit dir, Schattenjägerin? Willst du zulassen, dass dieser Werwolf darüber bestimmt, was für dein Volk das Beste ist?« 

Jocelyn musterte Raphael, als wäre er eine Kakerlake, die über ihren sauberen Küchenboden krabbelte. Und dann sagte sie sehr langsam und deutlich: »Wenn du auch nur eine Hand an Simon legst, Vampir, dann zerhack ich dich in winzige Stückchen und verfüttere dich an meine Katze. Hast du mich verstanden?« 

Raphael presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. »Also schön, wie ihr wollt«, stieß er hervor. »Aber wenn ihr in der Brocelind-Ebene im Sterben liegt, könnt ihr euch ja mal fragen, ob ein Leben den Verlust so vieler wirklich wert war.« Und damit verschwand er. 

Luke drehte sich rasch zu Clary um, doch Simon schaute nicht länger auf das Podium: Er blickte auf seine Hände hinab. Er hätte gedacht, sie würden zittern, aber sie wirkten so reglos wie die Hände eines Toten. Langsam, sehr langsam ballte er sie zu Fäusten. 

 

Valentin sah aus wie immer: ein kräftiger Mann in maßgeschneiderter Schattenjägermontur, dessen breite, massige Schultern einen seltsamen Kontrast zu seinem scharfkantigen, eleganten Gesicht bildeten. Das Heft des Engelsschwerts ragte hinter seinem Rücken auf und er trug ein schweres Bündel über der Schulter. Sein robuster Gürtel war mit zahlreichen Waffen bestückt: breite Jagdmesser, schmale Dolche und scharfe Abdeckklingen. Während Jace im Schutz des Stalagmiten zu Valentin hinüberstarrte, fühlte er wieder das, was er beim Gedanken an seinen Vater immer verspürte - eine hartnäckige familiäre Zuneigung, durchsetzt von Kälte, Enttäuschung und Misstrauen. 

Es war seltsam, seinen Vater hier mit Sebastian zu sehen, der irgendwie verändert wirkte. Auch er trug eine Kampfmontur und ein langes Schwert mit silbernem Heft an der Hüfte. Aber nicht seine Kleidung erschien Jace so merkwürdig - es waren seine Haare, die sein Gesicht nicht länger mit dunklen Locken rahmten, sondern mit einem hellen Schein umgaben, einem fast weißblonden Haarkranz. Diese Farbe stand ihm deutlich besser als die dunklen Haare-seine Haut wirkte jetzt nicht mehr so furchtbar blass. Offensichtlich hatte er sich die Locken schwarz gefärbt, um dem echten Sebastian Verlac ähnlicher zu sehen, und das hier war seine natürliche Haarfarbe. Eine bittere, brausende Woge des Hasses wallte in Jace auf und er musste sich zwingen, nicht hinter dem Fels hervorzuspringen und Sebastian an die Kehle zu gehen. 

Im nächsten Moment krächzte Hugo erneut auf, ließ sich aus großer Höhe herabfallen und landete auf Valentins Schulter. Der Anblick des Raben in einer Haltung, die er jahrelang mit Hodge verbunden hatte, versetzte Jace einen heftigen Stich. Im Grunde hatte Hugo Tag und Nacht auf der Schulter seines alten Lehrers gehockt und es erschien Jace irgendwie seltsam, fast falsch, den Vogel nun mit Valentin zu sehen - trotz allem, was Hodge getan hatte. 

Valentin hob die Hand, strich dem Raben über das schwarze, glänzende Gefieder und nickte ein paarmal, als wären Mensch und Vogel in ein angeregtes Gespräch vertieft. 

Sebastian beobachtete die beiden mit hochgezogenen Augenbrauen. »Irgendwelche Neuigkeiten aus Alicante?«, fragte er, als Hugo sich von Valentins Schulter abstieß und in die Lüfte erhob, wobei seine Flügel die funkelnden Spitzen der Stalaktiten streiften. 

»Nein, jedenfalls nichts Konkretes«, erwiderte Valentin. Die Stimme seines Vaters klang wie immer kühl und unerschütterlich und fuhr Jace durch Mark und Bein. Seine Hände zuckten unwillkürlich und er presste sie fest gegen seine Beine, dankbar für den breiten Felsen, der ihm Sichtschutz bot. »Aber eines ist sicher: Der Rat verbündet sich mit Lucians Schattenweltler-Streitkräften«, fuhr Valentin fort. 

Sebastian runzelte die Stirn. »Aber Malachi hat doch gesagt …« 

»Malachi hat versagt.« Valentin presste die Kiefer fest aufeinander. 

Zu Jace’ Überraschung ging Sebastian auf Valentin zu und legte ihm vertraulich eine Hand auf die Schulter. Diese Geste hatte etwas derart Selbstsicheres und Intimes an sich, dass Jace das Gefühl bekam, ein Haufen Würmer hätte sich in seinem Magen eingenistet. Niemand berührte Valentin auf diese Weise. Nicht einmal er hätte seinen Vater auf diese Weise angefasst. »Bist du verärgert?«, fragte Sebastian eine Sekunde später, mit derselben Vertraulichkeit in der Stimme, derselben grotesken, eigenartigen Andeutung von Nähe und Zugehörigkeit. 

»Der Rat befindet sich in einem schlimmeren Zustand, als ich gedacht hätte. Ich wusste zwar, dass die Lightwoods hoffnungslos korrupt sind und dass diese Art von Korruption ansteckend wirkt. Deswegen habe ich ja versucht, sie an der Einreise nach Idris zu hindern. Aber dass die restlichen Schattenjäger sich so leicht von Lucians Gift infizieren lassen, wo er doch nicht einmal mehr ein Nephilim ist …« Valentins Abscheu war offensichtlich, aber er rückte keinen Millimeter von Sebastian ab und machte keine Anstalten, die Hand des Jungen von seiner Schulter zu streifen, wie Jace mit zunehmendem Unverständnis registrierte. »Das enttäuscht mich zutiefst. Ich hätte gedacht, der Rat würde Vernunft annehmen. Mir wäre es lieber gewesen, die ganze Geschichte nicht auf diese Weise beenden zu müssen.« 

Sebastian zog eine belustigte Miene. »Da kann ich dir nicht zustimmen«, erwiderte er. »Stell dir die ganze Truppe doch nur einmal vor: wie sie kampfbereit mit Pauken und Trompeten in die Schlacht ziehen, nur um dann herauszufinden, dass das alles überhaupt keine Rolle mehr spielt. Dass ihre Bemühungen vollkommen umsonst sind. Mal dir doch nur mal den Ausdruck auf ihren Gesichtern aus.« Sebastians Lippen verzogen sich zu einem spöttischen Grinsen. 

»Jonathan«, seufzte Valentin, »hier geht es um eine nüchterne Notwendigkeit - nichts, woran man sich ergötzen sollte.« Jonathan? Jace klammerte sich an den Felsen; seine Hände waren plötzlich feucht und schlüpfrig geworden. Warum sollte Valentin Sebastian mit seinem Namen anreden? Handelte es sich um einen Versprecher? Aber Sebastian wirkte kein bisschen überrascht. 

»Ist es denn nicht besser, dass ich an dem, was ich tue, Freude empfinde?«, entgegnete Sebastian. »In Alicante hab ich mich jedenfalls prächtig amüsiert. Die Lightwoods sind unterhaltsamer, als du mir erzählt hattest, vor allem diese Isabelle. Jedenfalls habe ich unter unsere Bekanntschaft einen eindrucksvollen Schlusspunkt gesetzt. Und was Clary betrifft…« 

Allein die Erwähnung von Clarys Namen versetzte Jace’ Herz einen schmerzhaften Stich. 

»Sie war ganz anders, als ich sie mir vorgestellt hatte«, fuhr Sebastian schmollend fort. »Überhaupt nicht so wie ich.« 

»Niemand ist so wie du, Jonathan. Und Clary kam schon immer nach ihrer Mutter.« 

»Sie will einfach nicht zugeben, was sie wirklich will«, sinnierte Sebastian. »Noch nicht. Aber sie wird schon noch Vernunft annehmen.« 

Fragend hob Valentin eine Augenbraue. »Was meinst du mit >Vernunft annehmend<« 

Sebastian grinste - ein Grinsen, das Jace mit einer fast unbändigen Wut erfüllte; um sich zu beherrschen, biss er sich auf die Lippe, bis er Blut schmeckte. »Na ja, du weißt schon: auf unsere Seite wechseln. Ich kann es gar nicht erwarten«, erklärte Sebastian. »Sie hereinzulegen, war das größte Vergnügen, das ich seit Langem hatte.« 

»Du solltest dich nicht vergnügen - du solltest herausfinden, wonach sie gesucht hat!«, konterte Valentin. »Und als sie es dann gefunden hatte - ohne dein Beisein, wohlgemerkt -, da hast du zugelassen, dass sie es einem Hexenmeister gab. Und dann ist es dir nicht einmal gelungen, sie mit hierherzubringen - trotz der Bedrohung, die sie für uns darstellt. Das würde ich nicht gerade als Erfolg bezeichnen, Jonathan.« 

»Ich habe doch versucht, sie mitzunehmen. Aber die anderen haben sie nicht aus den Augen gelassen und ich konnte sie ja wohl kaum einfach mitten aus der Abkommenshalle entführen«, erwiderte Sebastian trotzig. »Außerdem hab ich dir doch schon gesagt, dass sie keine Ahnung hat, wie sie ihre Runen-Fähigkeiten einsetzen muss. Sie ist viel zu naiv, um irgendeine Gefahr darzustellen …« 

»Ganz gleich, welche Pläne der Rat in diesem Moment auch schmieden mag - Clary ist der Schlüssel«, schnaubte Valentin. »Hugin hat sie auf dem Podium der Halle gesehen. Wenn es ihr gelingt, dem Rat ihre Kräfte zu demonstrieren …« 

Sofort spürte Jace einen Anflug von Furcht um Clary, vermischt mit einer merkwürdigen Art Stolz: Natürlich war sie der Schlüssel zu allem - so kannte er sie. 

»Dann werden die Nephilim kämpfen«, ergänzte Sebastian Valentins Satz. »Aber genau das wollen wir doch, oder etwa nicht? Clary spielt keine Rolle. Die Schlacht ist das Einzige, was zählt.« 

»Ich denke, du unterschätzt sie«, sagte Valentin ruhig. 

»Nein, nein, ich hab sie eine ganze Weile beobachtet«, widersprach Sebastian. »Wenn ihre Kräfte wirklich so unbegrenzt wären, wie du glaubst, dann hätte sie sie dazu nutzen können, ihren kleinen Vampirfreund aus dem Gefängnis zu holen - oder diesen Narren Hodge gerettet, als er im Sterben lag…« 

»Eine Kraft muss nicht notwendigerweise unbegrenzt sein, um eine tödliche Wirkung zu entfalten«, hielt Valentin entgegen. »Und was Hodge betrifft: Du solltest ein wenig mehr Respekt gegenüber seinem Tod zeigen, zumal du derjenige bist, der ihn getötet hat.« 

»Er war gerade dabei, ihnen von dem Engel zu erzählen. Ich musste es tun.« 

»Nein, du wolltest es tun. So wie du es immer willst.« Valentin holte ein Paar schwere Lederhandschuhe aus seiner Jackentasche und streifte sie langsam über. »Vielleicht hätte Hodge ihnen davon erzählt. Vielleicht aber auch nicht. All die Jahre hat er sich im Institut um Jace gekümmert und sich bestimmt gefragt, wen er da aufzog. Hodge war einer der wenigen, der wusste, dass es mehr als einen Jungen gab. Ich konnte mir sicher sein, dass er mich nicht betrügen würde - dazu war er viel zu feige«, erklärte er und dehnte stirnrunzelnd die Finger. 

Mehr als einen Jungen? Wovon redete Valentin?, grübelte Jace. 

»Wen kümmert es schon, was Hodge gedacht hat?«, entgegnete Sebastian mit einer abschätzigen Handbewegung. »Er ist tot und das ist gut so!« Seine Augen funkelten düster. »Brichst du jetzt sofort zum See auf?« 

»Ja. Du weißt, was zu tun ist?« Valentin deutete mit dem Kinn auf das Schwert an Sebastians Hüfte. »Nutz das da. Es ist zwar nicht das Engelsschwert, aber es besitzt genügend dämonische Kräfte, um seinen Zweck zu erfüllen.« 

»Kann ich dich nicht zum See begleiten?« Sebastians Stimme hatte einen weinerlichen Ton angenommen. »Können wir das Heer nicht einfach schon jetzt freisetzen?« 

»Es ist noch nicht Mitternacht. Ich habe dem Rat gesagt, dass ich ihm bis Mitternacht geben würde. Vielleicht ändern die Nephilim ja noch ihre Meinung.« 

»Ganz bestimmt nicht…«, schmollte Sebastian. 

»Ich habe ihnen mein Wort gegeben und dazu stehe ich«, beendete Valentin die Diskussion. »Falls du bis Mitternacht nichts von Malachi hörst, öffne das Tor.« Als er sah, dass Sebastian zögerte, musterte er ihn ungeduldig. »Ich brauche dich hier Jonathan. Ich kann nicht bis Mitternacht warten; es kostet mich ohnehin schon eine Stunde, um durch die Tunnel zum See zu gelangen, und ich habe nicht die Absicht, die Schlacht in die Länge zu ziehen. Zukünftigen Generationen muss bewusst sein, wie schnell der Rat verloren hat und wie endgültig unser Sieg war.« 

»Es ist nur so schade, dass ich die Beschwörung verpasse. Dabei wäre ich so gern dabei gewesen, wenn du ihn heraufbeschwörst.« Sebastian zog ein wehmütiges Gesicht, doch in seinen Augen lag etwas Berechnendes, etwa Höhnisches und Gieriges und seltsam Kaltes - auch wenn Valentin das überhaupt nicht zu interessieren schien. 

Zu Jace’ Verblüffung strich Valentin Sebastian kurz über die Wange - eine rasche, unverhohlen zärtliche Geste -, ehe er sich abwandte und zum hinteren Ende der Höhle ging, die in tiefem Schatten lag. Dort hielt er einen Moment inne, eine bleiche Gestalt vor dunklem Hintergrund. »Jonathan«, rief er und Jace schaute unwillkürlich auf - er konnte einfach nicht anders. »Eines Tages wirst du dem Engel persönlich ins Antlitz schauen können. Schließlich erbst du einmal die Engelsinsignien, wenn ich nicht mehr bin. Und vielleicht wirst auch du eines Tages Raziel heraufbeschwören.« 

»Das würde mir gefallen«, bestätigte Sebastian und wartete reglos, bis Valentin mit einem letzten Kopfnicken in der Dunkelheit verschwunden war. »Oh, ja, das würde mir sehr gefallen«, murmelte er mit gesenkter Stimme. »Und dann würde ich diesem Mistkerl ins Gesicht spucken.« Im nächsten Moment wirbelte er herum, sein Gesicht eine weiße Maske. »Du kannst genauso gut auch herauskommen, Jace«, sagte er. »Ich weiß, dass du da bist.« 

Jace erstarrte, doch nur einen Sekundenbruchteil. Sein Körper hatte sich bereits in Bewegung gesetzt, bevor sein Verstand reagieren konnte, und brachte ihn ruckartig auf die Beine. Blitzschnell stürmte er in Richtung Tunnelausgang, nur von einem Gedanken beherrscht: Er musste es bis nach draußen schaffen, musste Luke irgendwie eine Nachricht zukommen lassen. 

Doch der Ausgang war versperrt. Sebastian stand davor, mit kühler, selbstgefälliger Miene und die Arme so weit ausgestreckt, dass seine Finger fast die Tunnelwände berührten. »Also wirklich«, höhnte er, »du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, dass du schneller wärst als ich?« 

Jace kam schlitternd zum Stehen. Sein Herz schlug unregelmäßig, wie ein defektes Metronom, doch seine Stimme klang ruhig: »Da ich dir in jeder anderen Hinsicht überlegen bin, lag die Vermutung durchaus nahe.« 

Sebastian lächelte nur zuckersüß. »Ich habe dein Herz schlagen hören«, sagte er sanft. »Als du mich mit Valentin beobachtet hast. Und, hat dir das zu schaffen gemacht?« 

»Dass du dich mit meinem Vater triffst?«, erwiderte Jace achselzuckend. »Du bist ein bisschen zu jung für ihn, wenn du mich fragst.« 

»Was?« Zum ersten Mal seit ihrer ersten Begegnung schien Sebastian total perplex. Allerdings konnte Jace sich nur kurz daran erfreuen, ehe Sebastian seine Selbstbeherrschung wiedererlangte. In seinen Augen funkelte ein düsteres Licht, das eines deutlich machte: Er würde Jace nicht verzeihen, dass er seinetwegen die Fassung verloren hatte. »Manchmal hast du mich ins Grübeln gebracht«, fuhr Sebastian nun mit zuckersüßer Stimme fort. »Hin und wieder schienst du etwas an dir zu haben, etwas Besonderes. Irgendetwas blitzte manchmal hinter deinen gelben Augen auf - ein Anflug von Intelligenz, ganz im Gegensatz zum Rest deiner strohdummen Adoptivfamilie. Aber ich schätze, das war nur eine Pose, eine Attitüde. Du bist genauso dämlich wie der Rest, trotz deiner jahrelangen guten Erziehung.« 

»Was weißt du denn schon über meine Erziehung?« 

»Mehr als du denkst.« Sebastian ließ die Arme sinken. »Derselbe Mann, der dich erzogen hat, hat auch mich großgezogen. Nur mit dem Unterschied, dass er nicht nach zehn Jahren genug von mir hatte.« 

»Wie meinst du das?« Jace’ Stimme war nur noch ein Flüstern. Er musterte Sebastians regungslose, unfreundliche Züge, als würde er den anderen Jungen zum ersten Mal sehen - die weißblonden Haare, die anthrazitschwarzen Augen, die kantigen, wie aus Stein gemeißelten Gesichtszüge. Plötzlich tauchte vor Jace’ innerem Auge das Gesicht seines Vaters auf, das der Engel ihm gezeigt hatte: jung und scharf und wachsam und gierig. Und in dem Moment wusste er es. »Du«, stieß er hervor. »Valentin ist dein Vater. Du bist mein Bruder.« 

Doch Sebastian stand nicht länger vor ihm - plötzlich war er hinter ihm, die Arme auf Höhe von Jace’ Schultern, als wolle er ihn umarmen; aber seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Sei gegrüßt und leb wohl, mein Bruder«, fauchte er. Dann streckte er die Finger, legte sie um Jace’ Kehle und drückte zu. 

 

Clary war erschöpft. Ein dumpfer, dröhnender Schmerz pochte in ihrem Schädel - die Nachwirkungen von der Erschaffung der Rune. Sie hatte das Gefühl, als versuchte jemand, von der falschen Seite eine Tür einzutreten. 

»Alles in Ordnung?«, fragte Jocelyn und legte Clary eine Hand auf die Schulter. »Du siehst nicht aus, als würde es dir besonders gut gehen.« 

Clary warf einen Blick auf die Hand ihrer Mutter und sah die spinnwebartige schwarze Rune auf ihrem Handrücken, das Gegenstück zur Rune auf Lukes Hand. Unwillkürlich verkrampfte sich Clarys Magen. Irgendwie gelang es ihr, sich mit der Tatsache zu arrangieren, dass ihre Mutter in wenigen Stunden gegen ein Heer von Dämonen kämpfen würde - aber nur mit äußerster Mühe und indem sie den Gedanken sofort verdrängte, sobald er auftauchte. 

»Ich frage mich nur, wo Simon steckt.« Langsam streckte Clary die Beine und stand auf. »Ich werde ihn mal suchen gehen.« 

»Wo? Da unten?«, fragte Jocelyn skeptisch und warf einen beunruhigten Blick auf die noch immer unüberschaubare Menge, die sich allmählich lichtete, da die bereits mit Runen versehenen Paare hinaus auf den Platz strömten. Malachi stand mit unbewegter Miene an der Tür und zeigte den Schattenweltlern und Schattenjägern den Weg zum Portal. 

»Keine Sorge. Ich bin gleich wieder zurück«, erklärte Clary und schob sich an Jocelyn und Luke vorbei zur Podiumstreppe. 

Als sie die Stufen hinabstieg und sich unter die Menge mischte, spürte sie, wie sich viele der Anwesenden umdrehten und ihr nachsahen, spürte ihre Blicke wie eine schwere Last auf ihren Schultern. Hastig suchte sie nach den Lightwoods oder Simon, konnte jedoch niemand Bekanntes entdecken - es war ohnehin schon schwierig genug, mit ihrer Körpergröße überhaupt irgendetwas zu sehen. Seufzend wandte Clary sich in die westliche Richtung der Halle, wo sich das Gewimmel schon etwas gelichtet hatte. 

In dem Moment, in dem sie sich den hohen Marmorsäulen näherte, schoss eine Hand dahinter hervor, packte sie am Arm und zog sie in die Schatten. Clary konnte gerade noch überrascht nach Luft schnappen, ehe sie bereits in der Dunkelheit mit dem Rücken gegen die kalte Marmorwand gedrückt wurde. 

»Nicht schreien, okay? Ich bin’s nur«, flüsterte eine Stimme - Simon. 

»Natürlich werde ich nicht schreien. Mach dich nicht lächerlich.« Clary schaute sich um - zwischen den Säulen hindurch konnte sie nur Teile des Saals sehen - und fragte sich, was los war. »Aber was soll dieses James-Bond-Spielchen? Ich war ohnehin auf der Suche nach dir.« 

»Ich weiß. Ich hab auf dich gewartet, bis du endlich vom Podium heruntergekommen bist. Ich muss mit dir reden … unter vier Augen.« Nervös fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich hab gehört, was Raphael gesagt hat. Was er gefordert hat.« 

»Oh, Simon.« Clary ließ die Schultern hängen. »Hör zu, es ist nichts passiert. Luke hat ihn weggeschickt…« 

»Vielleicht hätte er das nicht tun sollen«, sagte Simon. »Vielleicht hätte er Raphael geben sollen, was er verlangt hat.« 

Clary blinzelte ihn verblüfft an. »Du meinst dich? Auf keinen Fall. Ich sehe keine Möglichkeit…« 

»Doch, es gibt eine Möglichkeit.« Simons Griff um ihre Arme verstärkte sich. »Clary, ich will das hier durchziehen. Ich will, dass Luke Raphael mitteilt, dass die Vereinbarung gilt. Sonst werde ich es ihm selbst sagen.« 

»Ich weiß, was du vorhast«, protestierte Clary. »Und das respektiere ich auch - ich bewundere dich sogar dafür! Aber du musst das nicht tun, Simon, wirklich nicht. Raphaels Forderung ist falsch und niemand wird dich dafür verurteilen, dass du dich nicht für einen Krieg aufopferst, der nicht deiner ist…« 

»Aber genau darum geht es ja«, widersprach Simon. »Raphael hat recht: Ich bin ein Vampir - was du tatsächlich ständig vergisst. Oder vielleicht willst du es auch nur vergessen. Doch ich bin nun mal ein Schattenweltler, so wie du eine Schattenjägerin bist, und dieser Kampf betrifft uns alle.« 

»Aber du bist nicht wie die anderen…« 

»Ich bin einer von ihnen.« Simon sprach langsam, dezidiert, als wollte er absolut sichergehen, dass Clary jedes Wort verstand. »Und das werde ich immer sein. Wenn die Schattenweltler diesen Krieg an der Seite der Schattenjäger austragen, aber ohne die Beteiligung von Raphaels Volk, dann wird es für die Nachtkinder keinen Sitz in der Kongregation geben. Sie werden nicht an der neuen Welt teilhaben, die Luke zu schaffen versucht - eine Welt, in der Schattenjäger und Schattenwesen zusammenarbeiten. Zusammenleben. Die Vampire werden aus dieser Welt ausgeschlossen sein. Sie werden die Feinde der Nephilim sein. Ich werde dein Feind sein.« 

»Du würdest niemals mein Feind sein.« 

»Allein der Gedanke würde mich schon umbringen«, sagte Simon schlicht. »Aber ich kann hier nicht einfach nur herumstehen und so tun, als ginge mich das alles nichts an. Und ich werde dich nicht um deine Erlaubnis bitten. Ich könnte deine Hilfe gebrauchen, aber wenn du dich weigerst, werde ich Maia bitten, mich zum Lager der Vampire zu bringen. Und dann werde ich mich Raphael ergeben. Hast du das verstanden?« 

Sprachlos schaute Clary Simon an. Er hielt ihre Arme so fest, dass sie ihren eigenen Pulsschlag unter dem Druck seiner Hände spüren konnte. Unentschlossen fuhr sie sich mit der Zunge über die trockenen Lippen; sie hatte einen bitteren Geschmack im Mund. »Wie kann ich dir helfen?«, fragte sie schließlich leise.

Als Simon ihr sein Vorhaben erklärte, starrte sie ihn ungläubig an und schüttelte bereits den Kopf, ehe er seinen Satz beendet hatte. »Nein«, stieß sie hervor, »der Plan ist der reinste Irrsinn, Simon. Das ist keine Gabe - das ist eine Strafe.. 

»Aber möglicherweise nicht für mich«, erwiderte Simon und schaute in Richtung der Menge. Clary folgte seinem Blick und entdeckte Maia, die am Rand stand und sie neugierig beobachtete. Sie wartete eindeutig auf Simon. Zu schnell, dachte Clary. Dos geht mir alles viel zu schnell! 

»Es ist auf jeden Fall besser als die Alternative, Clary«, fuhr Simon fort. 

»Nein …« 

»Vielleicht verursacht es mir ja überhaupt keine Schmerzen. Ich meine, ich bin doch bereits gestraft, oder? Schon jetzt kann ich keine Kirche, keine Synagoge mehr betreten. Ich kann den Namen G… keine heiligen Namen aussprechen. Ich kann nicht älter werden und bin bereits von einem normalen Leben ausgeschlossen. Vielleicht würde diese Geschichte überhaupt nichts verändern.« 

»Aber vielleicht ja doch.« 

Simon ließ Clarys Arme los und zog Patricks Stele aus ihrem Gürtel. »Hier«, sagte er und hielt sie ihr entgegen. »Tu es für mich, Clary. Bitte.« 

Mit tauben Fingern nahm Clary die Stele, hob sie hoch und setzte die Spitze auf Simons Stirn, direkt oberhalb der Augen. Dos erste Runenmal, hatte Magnus gesagt, das allererste. Clary konzentrierte sich und die Stele setzte sich wie von selbst in Bewegung, wie ein Tänzer beim Einsetzen der Musik. Schwarze Linien zeichneten sich auf Simons Stirn ab, wie eine Blüte, die sich im Zeitraffer entfaltet. Als Clary fertig war, schmerzte und pochte ihre rechte Hand, doch sie ließ die Stele sinken und betrachtete ihr Werk. Sie wusste, dass sie etwas Perfektes geschaffen hatte - etwas Perfektes und Ungewöhnliches und sehr Altes, etwas vom Anbeginn der Zeit. Das Mal strahlte wie ein Stern über Simons Augen, während er sich mit den Fingern über die Stirn strich, einen verwirrten und verwunderten Ausdruck im Gesicht. 

»Ich kann es fühlen«, sagte er. »Fast wie eine Verbrennung.« »Keine Ahnung, was jetzt passieren wird«, flüsterte Clary. »Ich weiß nicht, welche Langzeitwirkungen damit verbunden sind.« 

Simon schenkte ihr ein schiefes Lächeln und berührte Clary vorsichtig an der Wange. »Lass uns hoffen, dass wir die Gelegenheit haben, das herauszufinden.« 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
titlepage.xhtml
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_000.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_001.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_002.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_003.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_004.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_005.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_006.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_007.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_008.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_009.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_010.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_011.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_012.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_013.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_014.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_015.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_016.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_017.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_018.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_019.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_020.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_021.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_022.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_023.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_024.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_025.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_026.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_027.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_028.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_029.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_030.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_031.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_032.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_033.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_034.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_035.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_036.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_037.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_038.html