14

IM FINSTREN WALD

 

»Also, wie findet ihr das?«, setzte Jace an, ohne Clary eines Blickes zu würdigen - im Grunde hatte er sie nicht richtig angesehen, seit sie und Simon an der Eingangstür des Hauses erschienen waren, das die Lightwoods inzwischen bezogen hatten. Stattdessen lehnte er sich gegen eines der hohen Fenster im Wohnzimmer und starrte in den sich rasch verfinsternden Himmel. »Ein Junge nimmt am Begräbnis seines kleinen Bruders teil und verpasst dadurch den ganzen Spaß«, fuhr er fort.

»Jace, hör auf«, sagte Alec mit müder Stimme. Er hatte sich in einen der abgewetzten, schweren Polstersessel fallen lassen - neben dem Sofa die einzigen Sitzgelegenheiten im gesamten Wohnzimmer. Das ganze Haus verströmte eine merkwürdige, unvertraute Atmosphäre: Sämtliche Räume waren in verblassten Pastelltönen und floralen Mustern dekoriert und alles wirkte leicht abgenutzt und schäbig. Auf dem Beistelltisch neben Alec stand eine Glasschale mit Pralinen; vor lauter Hunger hatte Clary ein paar davon gegessen, dabei aber feststellen müssen, dass das Schokoladenkonfekt ausgetrocknet und bröckelig war. Sie fragte sich, welche Sorte von Leuten hier wohl gelebt hatte. Die Sorte, die davonlief, sobald die Situation ernster wurde, dachte sie säuerlich; diese Leute hatten es nicht anders verdient, als dass man ihr Haus beschlagnahmt hatte. 

»Womit soll ich aufhören?«, fragte Jace. Draußen war es inzwischen so dunkel geworden, dass Clary die Reflexion seines Gesichts in der Fensterscheibe sehen konnte. Seine Augen wirkten fast schwarz. Er trug noch immer die Kleidung, die er bei der Beerdigung getragen hatte - kein Schwarz, da dies die Farbe des Kampfes war, sondern Weiß, die Farbe der Trauer bei den Nephilim. In den Kragen und die Ärmel seiner weißen Jacke waren scharlachrote Runen gewirkt; doch im Gegensatz zu den Kampfrunen, die eine aggressive und schützende Ausstrahlung besaßen, sprachen diese Runen eine sanftere Sprache - Worte von Kummer und Heilung. Auch die Metallbänder an seinen Handgelenken zeigten ähnliche Runen. Alec war auf die gleiche Weise gekleidet, von Kopf bis Fuß in Weiß, mit denselben rotgoldenen Runen, wodurch seine Haare tiefschwarz schimmerten. 

Jace dagegen, überlegte Clary, wirkte in seiner weißen Kleidung wie ein Engel - wenngleich auch wie ein Racheengel.

»Du bist doch gar nicht auf Clary sauer. Oder auf Simon«, sagte Alec, runzelte dann aber leicht die Stirn: »Zumindest glaube ich, dass du nicht auf Simon sauer bist.« 

Clary rechnete fast mit einer wütenden Erwiderung, doch Jace antwortete nun »Clary weiß, dass ich nicht sauer auf sie bin.«

Simon legte einen Arm auf die Rückenlehne des Sofas und verdrehte die Augen, sagte aber lediglich: »Ich verstehe nur nicht, wie es Valentin gelingen konnte, den Inquisitor zu töten. Ich dachte immer, Projektionen könnten niemandem Schaden zufügen.«

»Eigentlich sollten sie dazu auch nicht in der Lage sein«, erklärte Alec. »Sie sind nur Illusionen, so was wie bunte Luft.«

»Aber nicht in diesem Fall. Valentin hat einfach in den Inquisitor hineingegriffen und dann seine Hand gedreht. . .« Clary erschauderte bei der Erinnerung. »Der ganze Boden war voller Blut.« 

»Klingt nach einem zusätzlichen Snack für dich«, wandte Jace sich an Simon.

Simon ignorierte seine Bemerkung. »Hat es jemals einen Inquisitor gegeben, der nicht eines schrecklichen Todes gestorben ist?«, fragte er sich laut. »Das ist ja fast wie bei den Drummern von Spinal Tap.« 

Alec rieb sich mit der Hand übers Gesicht. »Meine Eltern wissen noch gar nichts davon und ich freu mich nicht gerade darauf, es ihnen erzählen zu dürfen«, murmelte er.

»Wo sind denn deine Eltern?«, fragte Clary. »Ich dachte, sie wären oben«, fügte sie hinzu und schaute in Richtung Treppe.

Alec schüttelte den Kopf. »Sie sind noch immer in der Totenstadt. An Max’ Grab. Sie haben uns nach Hause geschickt, weil sie noch einen Moment allein sein wollten.«

»Und was ist mit Isabelle?«, fragte Simon. »Wo steckt sie?«

»Sie weigert sich, ihr Zimmer zu verlassen«, erklärte Jace nun mit todernster Miene. »Sie glaubt, dass Max’ Tod ihre Schuld sei. Sie wollte noch nicht mal mit zur Beerdigung.«

»Habt ihr versucht, mit ihr zu reden?«

»Nein«, erwiderte Jace, »wir haben ihr stattdessen kräftig ins Gesicht geschlagen. Warum fragst du? Meinst du, Prügel würden nichts bringen?«

»War ja nur ‘ne Frage.« Simons Ton klang sanft.

»Wir sollten ihr erzählen, dass Sebastian nicht der richtige Cousin der Penhallows war«, überlegte Alec. »Vielleicht fühlt sie sich dann etwas besser. Sie denkt, sie hätte es spüren müssen, dass mit Sebastian irgendetwas nicht stimmte. Aber wenn er ein Spion war…« Alec zuckte die Achseln. »Keiner von uns hat auch nur irgendetwas Merkwürdiges an ihm festgestellt. Nicht mal die Penhallows.« 

»Ich habe ihn für ein Arschloch gehalten«, berichtigte Jace seinen Freund.

»Ja, aber nur, weil er…«Alec verstummte und sank noch tiefer in seinen Sessel. Er sah erschöpft aus - seine Gesichtsfarbe wirkte hellgrau gegen das leuchtende Weiß seiner Trauerkleidung. »Ach, das spielt jetzt auch keine Rolle mehr. Sobald Isabelle erfährt, womit Valentin droht, kann sie sowieso nichts mehr aufheitern.«

»Aber wird er seine Drohung wirklich wahr machen?«, fragte Clary. »Ein Dämonenheer gegen die Nephilim aussenden? Ich meine, er ist doch immer noch ein Schattenjäger, oder? Er kann doch nicht sein eigenes Volk vernichten wollen.« 

»Nicht mal bei seinen eigenen Kindern hat es ihn interessiert, ob er ihr Leben zerstörte«, entgegnete Jace und schaute quer durch den Raum Clary an, die seinem Blick standhielt. »Wie kommst du auf die Idee, dass er sich für sein Volk interessieren würde?«

Fragend blickte Alec von Jace zu Clary und zurück. Sein Gesichtsausdruck verriet ihr, dass Jace ihm noch nicht von Ithuriel erzählte hatte. Er schaute verwirrt und sehr, sehr traurig. »Jace …«

»Das Ganze erklärt allerdings eines«, sagte Jace, ohne Alec anzusehen. »Magnus hat versucht, eine Ortungsrune an den persönlichen Dingen anzuwenden, die Sebastian in seinem Zimmer zurückgelassen hat… damit wir ihn vielleicht auf diese Weise aufspüren können. Aber er meinte, er empfange nicht viele Impulse, von keinem der Gegenstände … nur ein Rauschen.« 

»Und was bedeutet das?«

»Diese Dinge haben Sebastian Verlac gehört, dem echten Cousin. Der falsche Sebastian hat sie ihm wahrscheinlich abgenommen, als er ihn abgefangen hat. Und Magnus empfängt deshalb keine Impulse, weil der echte Sebastian …«

»… vermutlich nicht mehr lebt«, beendete Alec seinen Satz. »Und der Sebastian, den wir kennen, ist viel zu gerissen, um irgendetwas zurückzulassen, mit dem wir ihn orten könnten. Schließlich braucht man dazu schon einen besonderen, persönlichen Gegenstand - etwas, das irgendwie mit der gesuchten Person in Verbindung steht. Ein Familienerbstück oder eine Stele oder eine Bürste mit ein paar Haaren … irgend so etwas.«

»Was wirklich ärgerlich ist, denn wenn wir ihm folgen könnten, würde er uns wahrscheinlich direkt zu Valentin führen«, sinnierte Jace. »Ich bin mir sicher, er ist sofort zu seinem Herrn und Gebieter zurückgerannt, um Bericht zu erstatten. Wahrscheinlich hat er ihm auch längst von Hodges hirnrissiger Theorie erzählt, dass der Lyn-See der Spiegel sein soll.«

»Vielleicht ist diese Idee gar nicht so hirnrissig«, erwiderte Alec. »Jedenfalls hat der Rat auf allen Wegen, die zum See führen, Wachen postiert und Schutzschilde errichtet, die sofort ein Warnsignal senden, wenn sich jemand mithilfe eines Portals dorthin teleportiert.« 

»Na großartig. Jetzt fühlen wir uns alle doch schon viel sicherer«, schnaubte Jace und lehnte sich gegen die Wand.

»Da ist noch was, das ich nicht verstehe«, warf Simon ein. »Warum ist Sebastian hiergeblieben? Nach dem, was er Izzy und Max angetan hatte, wusste er doch, dass man ihn schnappen würde. Er konnte seine Tarnung gar nicht länger aufrechterhalten. Selbst wenn er geglaubt hat, er hätte Izzy getötet, statt sie >nur< k.o. zu schlagen, wie wollte er denn dann erklären, dass die beiden tot waren, er aber vollkommen unversehrt? Nein, spätestens in dem Moment wäre er aufgeflogen. Also, warum ist er während der Dämonenschlacht geblieben? Warum ist er zur Garnison gekommen? Um mich zu holen? Kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es ihm im Grunde herzlich egal war, ob ich noch am Leben war oder nicht.« 

»Jetzt tust du ihm aber unrecht«, spottete Jace. »Ich bin mir sicher, dass er dich lieber tot als lebendig gesehen hätte.«

»Ehrlich gesagt, glaube ich, dass er meinetwegen geblieben ist«, warf Clary ein.

Jace warf ihr aus seinen goldenen Augen einen funkelnden Blick zu. »Deinetwegen? Hat er sich vielleicht ein weiteres heißes Date erhofft?«

Clary spürte, wie sie errötete. »Nein. Und unser Date war auch nicht heiß. Genau genommen, war es nicht mal ein Date. Aber das tut nichts zur Sache. Als Sebastian zur Abkommenshalle gekommen ist, hat er die ganze Zeit versucht, mich nach draußen zu locken, um ungestört reden zu können. Er hat irgendetwas von mir gewollt, aber ich weiß wirklich nicht, was.«

»Oder vielleicht hat er ja dich gewollt«, sagte Jace. Als er Clarys Gesichtsausdruck sah, fugte er hinzu: »Nein, nicht auf diese Weise. Ich meine, er hat dich vielleicht zu Valentin bringen wollen.«

»Valentin interessiert sich nicht für mich«, widersprach Clary. »Der Einzige, für den er sich überhaupt interessiert, bist du.«

Irgendetwas flackerte in den Tiefen von Jace’ Augen auf. »Ach, so nennst du das also?« Sein Gesichtsausdruck wirkte beängstigend düster. »Nach dem, was auf dem Schiff passiert ist, interessiert er sich jetzt aber für dich. Was bedeutet, dass du vorsichtig sein musst. Sehr vorsichtig. Genau genommen, könnte es nicht schaden, wenn du die nächsten Tage im Haus bleibst. Du kannst dich ja in deinem Zimmer einschließen, so wie Isabelle.«

»Das werde ich auf keinen Fall tun.«

»Natürlich nicht«, erwiderte Jace, »denn du bist schließlich auf dieser Welt, um mich zu peinigen, stimmt’s?«

»Es dreht sich nicht immer alles nur um dich, Jace«, konterte Clary fuchsteufelswild. 

»Mag sein«, räumte Jace ein, »aber in den meisten Fällen schon - das musst du zugeben.«

Clary widerstand dem Drang, laut loszuschreien.

In dem Moment räusperte Simon sich. »Wo wir gerade von Isabelle sprechen - was zwar schon einen Augenblick zurückliegt, aber ich dachte, ich sollte noch mal darauf zurückkommen, ehe dieser Streit vollends ausbricht … Ich denke, ich sollte mal versuchen, mit ihr zu reden.« 

»Du?«, fragte Alec entgeistert, schämte sich dann aber für seine taktlose Äußerung und fugte hinzu: »Es ist nur so … Isabelle will nicht mal für ihre eigene Familie ihr Zimmer verlassen. Warum sollte sie dann bei dir eine Ausnahme machen?« 

»Vielleicht gerade deshalb, weil ich eben nicht zur Familie gehöre«, erklärte Simon. Er stand ruhig da, die Hände in den Taschen, die Schultern entspannt. Als Clary neben ihm auf dem Sofa gesessen hatte, war ihr die dünne weiße Linie an seinem Hals wieder aufgefallen - an der Stelle, wo Valentin ihm die Kehle durchgeschnitten hatte - und die Narben an den ebenfalls aufgeschlitzten Handgelenken. Simons Begegnungen mit der Welt der Schattenjäger hatten ihn verändert, und zwar nicht nur an der Oberfläche; die Veränderungen gingen sogar noch tiefer als seine Verwandlung zum Vampir. Er stand aufrecht da, den Kopf hoch erhoben und nahm jede Bemerkung, die Jace oder Alec ihm an den Kopf warfen, gelassen hin; es schien ihn nicht einmal zu interessieren. Den Simon, der sich vor ihnen gefürchtet oder von ihnen hätte einschüchtern lassen, gab es nicht mehr. ‘ 

Plötzlich verspürte Clary einen heftigen Stich im Herzen und erkannte mit einem Schlag die Ursache dafür: Er fehlte ihr - Simon fehlte ihr. Der Simon, der er früher einmal gewesen war. 

»Ich werde mal einen Versuch unternehmen, Isabelle zum Reden zu bringen«, sagte Simon nun. »Schaden kann’s jedenfalls nicht.«

»Aber es ist doch schon fast dunkel«, protestierte Clary. »Und wir haben Luke und Amatis versprochen, vor Sonnenuntergang wieder zurück zu sein.«

»Ich bring dich nach Hause«, bot Jace an. »Und was Simon betrifft: Er findet sich ja wohl allein im Dunkeln zurecht. Oder, Simon?«

»Natürlich tut er das«, warf Alec entrüstet ein, als wollte er seine vorherige Kränkung wieder gutmachen. »Schließlich ist er ein Vampir - und …« Er verstummte einen Moment und fügte dann hinzu: »Und mir ist gerade klar geworden, dass du wahrscheinlich nur einen Scherz gemacht hast. Vergiss es einfach.« 

Simon grinste. Clary öffnete den Mund, um erneut zu protestieren, schloss ihn dann aber wieder. Einerseits, weil sie genau wusste, dass sie sich unvernünftig verhielt. Und andererseits, weil sie Jace’ Blick sah, den er Simon zuwarf: eine Mischung aus Belustigung, Dankbarkeit und tatsächlich so etwas wie Respekt - ein klein wenig Respekt, wie Clary überrascht feststellte.

 

Das neue Domizil der Lightwoods lag nicht weit von Amatis’ Haus entfernt, aber Clary wünschte inständig, der Weg würde länger dauern. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jeder Augenblick mit Jace kostbar und irgendwie zeitlich begrenzt war und dass sie sich einem kaum wahrnehmbaren Stichtag näherten - einem Moment, der sie für immer voneinander trennen würde.

Während sie durch die Gassen liefen, warf Clary Jace einen verstohlenen Blick zu. Er schaute unverwandt geradeaus, fast als wäre sie gar nicht da. Im harschen Elbenlicht der Straßenlaternen wirkte sein Profil scharf umrissen und kantig. Seine Haare kräuselten sich an den Wangen und verdeckten nur unzulänglich die weiße Narbe an der Schläfe, wo sich ein Runenmal befunden hatte. An seiner Kehle blitzte etwas Metallisches auf - die Kette, an der der Morgenstern-Ring baumelte. Seine linke Hand hing locker an seiner Seite herab; Clary sah, dass die Knöchel noch immer wund wirkten. Dann heilte er also tatsächlich wie ein Irdischer - so wie Alec es von ihm verlangt hatte.

Als Clary bei dem Gedanken schauderte, warf Jace ihr einen Blick zu. »Ist dir kalt?«, fragte er.

»Ich musste nur gerade an etwas denken«, erklärte sie. »Es wundert mich, dass Valentin auf den Inquisitor losgegangen ist - anstatt auf Luke«, fuhr sie fort. »Schließlich war der Inquisitor ein Schattenjäger und Luke … Luke ist ein Schattenweltler. Und hinzu kommt außerdem, dass Valentin ihn hasst.«

»Aber in gewisser Weise respektiert er ihn auch, selbst wenn Luke ein Schattenweltler ist«, gab Jace zu bedenken und Clary erinnerte sich an den Blick, den Jace Simon kurz zuvor zugeworfen hatte. Rasch versuchte sie, nicht daran zu denken. Die Vorstellung gefiel ihr ganz und gar nicht, dass Jace und Valentin irgendwelche Gemeinsamkeiten haben könnten, auch wenn es nur um so etwas Banales wie einen Blick ging. »Luke versucht, den Rat zu verändern, ihn zum Umdenken zu bewegen. Genau das Gleiche hat auch Valentin versucht, wenn auch mit… mit einem anderen Ziel. Luke ist ein Revolutionär. Er strebt nach Veränderung. Und für Valentin repräsentierte der Inquisitor den alten, engstirnigen Rat, den er so abgrundtief hasst.«

»Und sie waren ja auch einst Freunde«, sagte Clary. »Luke und Valentin.«

»>Die Spuren dessen, was einst war<«, sagte Jace und am leicht spöttischen Unterton in seiner Stimme erkannte Clary, dass er aus irgendeinem Werk zitierte. »Unglücklicherweise hasst man niemanden so sehr wie denjenigen, den man einst geliebt hat. Ich könnte mir vorstellen, dass Valentin für Luke etwas ganz Besonderes geplant hat … wenn er erst einmal die Macht übernommen hat.«

»Aber das wird er doch nicht… die Macht übernehmen«, erwiderte Clary, und als Jace schwieg, wiederholte sie mit erhobener Stimme: »Er wird nicht gewinnen - das kann er nicht. Er kann doch nicht ernsthaft einen Krieg wollen, nicht gegen Schattenjäger und Schattenweltler …« 

»Wie kommst du auf die Idee, dass die Schattenjäger Seite an Seite mit den Schattenweltlern kämpfen werden?«, fragte Jace, den Blick noch immer abgewandt. Der Weg führte am Kanal entlang und Jace starrte angespannt auf das dunkle Wasser. »Nur weil Luke das sagt? Luke ist ein Idealist.«

»Und was ist daran schlecht?«

»Nichts. Aber ich bin nun mal keiner«, sagte Jace und die Leere in seiner Stimme versetzte Clary einen eisigen Stich. Verzweiflung, Zorn, Hass - allesamt Dämoneneigenschaften. Er verhält sich so, wie er glaubt, sich verhalten zu müssen. 

Inzwischen hatten sie Amatis’ Haus erreicht. Clary blieb am Fuß der Treppe stehen und drehte sich zu Jace um. »Mag sein«, sagte sie. »Aber du bist auch nicht wie er.« 

Bei diesen Worten zuckte Jace leicht zusammen, aber vielleicht lag es auch nur an der Bestimmtheit in Clarys Ton. Er drehte den Kopf und schaute sie seit dem Verlassen des Lightwood-Hauses zum ersten Mal richtig an - zumindest kam es Clary so vor. »Clary…«, setzte er an, hielt dann aber bestürzt den Atem an. »Da ist Blut an deinem Ärmel. Bist du verletzt?« 

Rasch trat er einen Schritt auf sie zu und nahm ihr Handgelenk hoch. Als Clary einen Blick darauf warf, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass er recht hatte: Auf dem rechten Ärmel ihres Umhangs prangte ein unregelmäßig geformter scharlachroter Fleck. Doch noch viel seltsamer erschien ihr die Tatsache, dass der Blutfleck hellrot schimmerte. Sollte getrocknetes Blut nicht eigentlich viel dunkler sein? Clary runzelte die Stirn. »Das ist nicht mein Blut.«

Jace entspannte sich ein wenig und lockerte seinen Griff um ihr Handgelenk. »Vielleicht vom Inquisitor?«

Clary schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube, das ist Sebastians Blut.«

»Sebastians Blut?« 

»Ja. Weißt du noch, wie er am Abend der Schlacht in die Halle gekommen ist? Sein Gesicht war blutig. Ich vermute, Isabelle hatte sich gewehrt und ihm dabei ein paar tiefe Kratzer zugefügt. Na, jedenfalls habe ich sein Gesicht berührt und dabei offensichtlich meinen Ärmel mit Blut beschmiert.« Erstaunt inspizierte sie den Fleck genauer. »Ich dachte, Amatis hätte den Umhang gewaschen, aber anscheinend ist sie nicht dazu gekommen.«

Eigentlich erwartete Clary, dass Jace ihr Handgelenk nun loslassen würde, doch er hielt ihren Ärmel noch eine Weile fest und betrachtete das Blut interessiert, ehe er ihre Hand schließlich freigab, offensichtlich zufrieden. »Danke.«

Einen Moment lang starrte Clary ihn an und schüttelte dann den Kopf. »Du hast nicht vor, mir zu erzählen, was das jetzt gerade sollte, oder?« 

»Auf keinen Fall.«

Entnervt riss Clary die Arme in die Luft. »Ich geh jetzt rein. Bis dann.« Sie machte auf dem Absatz kehrt und lief die Stufen zu Amatis’ Haustür hinauf. Sie konnte ja nicht ahnen, dass das Lächeln auf Jace’ Gesicht in dem Moment verschwand, als sie ihm den Rücken zudrehte. Und dass er - nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte - noch eine ganze Weile in der Dunkelheit dastand, ihr nachschaute und ein kurzes Stück Faden wieder und wieder zwischen den Fingern drehte.

»Isabelle«, rief Simon. Er hatte eine Weile gebraucht, um ihr Zimmer zu finden, aber der laute Schrei »Geh weg!«, der durch die Tür drang, überzeugte ihn davon, dass er vor dem richtigen Raum stand. »Isabelle, lass mich rein.«

Im nächsten Moment ertönte ein dumpfes Dröhnen und die Tür vibrierte leicht, als hätte Isabelle irgendetwas dagegengeworfen. Vermutlich einen Schuh. »Ich will nicht mit dir oder Clary reden. Ich will mit niemandem reden. Lass mich in Ruhe, Simon.«

»Clary ist nicht hier«, erwiderte Simon. »Und ich werde nicht weggehen, bis du mit mir redest.«

»Alec!«, brüllte Isabelle. »Jace! Macht, dass er verschwindet!«

Simon wartete. Aus dem unteren Stockwerk war nichts zu hören. Entweder hatte Alec das Haus ebenfalls verlassen oder er hielt sich einfach zurück. »Sie sind nicht da, Isabelle. Ich bin allein hier.«

Auf der anderen Seite der Tür herrschte einen Augenblick Stille, doch schließlich hörte er Isabelles Stimme wieder, dieses Mal jedoch aus größerer Nähe, als wenn sie direkt vor der Tür stünde. »Du bist wirklich allein?« 

»Ja, ganz allein«, bestätigte Simon.

Im nächsten Moment öffnete sich die Tür quietschend einen Spalt. Dahinter stand Isabelle, in einem schwarzen Slip, die langen Haare vollkommen zerzaust. So hatte Simon sie noch nie zu Gesicht bekommen: barfuß, ungekämmt und ohne Make-up. »Du kannst reinkommen«, murmelte sie.

Schweigend folgte er ihr in den dunklen Raum - die Vorhänge waren zugezogen und sämtliche Lampen ausgeschaltet. Im Lichtschein aus dem Flur erkannte Simon, dass das Zimmer so aussah, als wäre ein Tornado hindurchgefegt - zumindest hätte seine Mutter das so formuliert. Überall auf dem Boden lagen Kleidungsstücke verstreut und vor dem Bett stand eine weit geöffnete Reisetasche, die den Eindruck erweckte, als wäre sie explodiert. Über einem der Bettpfosten hing Isabelles leuchtend silbergoldene Peitsche und ein weißer, spitzenbesetzter BH baumelte über dem anderen. Verlegen wandte Simon den Blick ab.

Isabelle ließ sich auf die Bettkante sinken und betrachtete Simon mit einem bitteren Lächeln. »Ein Vampir, der errötet - wer hätte das gedacht?!« Dann hob sie resolut das Kinn. »So, ich hab dich reingelassen. Also, was willst du?«

Trotz ihres wütend funkelnden Blicks hatte Simon den Eindruck, dass sie jünger wirkte als sonst - ihre riesigen Augen stachen dunkel aus ihrem erschöpften bleichen Gesicht hervor. Selbst im dämmrigen Licht des Raums konnte er die weißen Narben erkennen, die ihre helle Haut bedeckten - von den nackten Armen, Schultern und Schlüsselbeinen bis hinunter zu ihren Beinen. Wenn Clary eine Schattenjägerin bleibt, wird sie eines Tages genauso aussehen… am ganzen Körper mit Narben bedeckt, dachte er. Doch diese Vorstellung traf ihn nicht mehr so hart wie vielleicht noch vor wenigen Wochen. Die Art und Weise, mit der Isabelle ihre Narben trug, hatte etwas Besonderes an sich, als wäre sie stolz darauf. 

Isabelle hielt etwas in den Händen, einen kleinen Gegenstand, den sie unablässig in den Fingern drehte und der im schummrigen Licht matt glänzte. Einen Moment lang glaubte Simon, dass es sich vielleicht um ein Schmuckstück handeln könnte.

»Das, was Max zugestoßen ist …«, setzte er an, »das ist nicht deine Schuld.«

Statt zu Simon hochzuschauen, starrte Isabelle unvermindert auf das Objekt in ihren Händen. »Weißt du, was das ist?«, fragte sie schließlich und hob es Simon entgegen.

Offenbar handelte es sich um einen kleinen, handgeschnitzten Spielzeugsoldaten. Ein Miniatur-Schattenjäger, inklusive schwarzer, von Hand aufgemalter Kampfmontur, erkannte Simon plötzlich. Das silberne Glitzern, das er bemerkt hatte, stammte von den Farbresten des kleinen Schwertes, das der Krieger in der Hand hielt.

»Der hat früher mal Jace gehört«, sagte Isabelle, ohne seine Antwort abzuwarten. »Es war das einzige Spielzeug, das er bei sich hatte, als er aus Idris zu uns kam. Möglicherweise gehörte der Soldat einst zu einem größeren Set… vielleicht hat er ihn auch selbst geschnitzt… keine Ahnung; er hat nie viele Worte darüber verloren. Aber er trug ihn jahrelang immer mit sich herum, in einer Jacken- oder Hosentasche oder sonst wo. Und dann entdeckte ich eines Tages, dass Max den Spielzeugsoldaten hatte und von da an überall mit hinschleppte. Jace muss damals etwa dreizehn gewesen sein. Er hat ihn Max einfach geschenkt, vermutlich, als er sich zu alt dafür fühlte. Na, jedenfalls lag der Soldat in Max’ Hand, als man ihn fand. Es schien, als hätte er ihn fest umklammert, als Sebastian … als er …« Sie verstummte. Die Anstrengung, die es sie kostete, um nicht in Tränen auszubrechen, war deutlich sichtbar: Sie presste die Lippen fest zusammen, da diese unkontrolliert zu zucken begannen. »Ich hätte für ihn da sein müssen, ihn beschützen müssen. Ich hätte diejenige sein sollen, an der er sich hätte festhalten können, und nicht so ein dummer, kleiner Spielzeugsoldat.« Wütend warf sie den Miniatur-Schattenjäger auf das Bett; ihre Augen schimmerten feucht. 

»Du warst doch bewusstlos«, protestierte Simon. »Und du wärst beinahe selbst gestorben, Izzy. Es gab wirklich nichts, was du hättest tun können.«

Isabelle schüttelte den Kopf, wobei ihre wirren Haare über ihre Schultern streiften. Sie sah grimmig und wild aus. »Was weißt du denn schon?«, herrschte sie ihn an. »Hast du gewusst, dass Max in der Nacht seines Todes zu uns gekommen ist und uns erzählt hat, er habe gesehen, wie jemand auf einen der Dämonentürme geklettert sei? Und dass ich seine Beobachtung mit der Bemerkung abgetan habe, er müsse geträumt haben, und ihn dann wieder ins Bett geschickt habe? Und dabei hatte er die ganze Zeit recht. Ich wette, das war dieser Dreckskerl Sebastian, der den Turm hinaufgeklettert ist, um auf diese Weise die Schutzschilde zu deaktivieren. Und dann hat er Max getötet, damit der Kleine niemandem mehr erzählen konnte, dass er ihn gesehen hatte. Wenn ich doch nur zugehört hätte, mir nur eine Sekunde Zeit zum Zuhören genommen hätte, dann wäre das alles nicht passiert.« 

»Aber woher hättest du das denn ahnen sollen?«, widersprach Simon. »Und was Sebastian betrifft: Er war nicht wirklich der Cousin der Penhallows. Er hat alle zum Narren gehalten.«

Isabelle wirkte nicht überrascht. »Ich weiß«, murmelte sie, »ich hab dich mit Alec und Jace reden hören. Ich hab hier oben am Treppengeländer gestanden …«

»Dann hast du gelauscht?«

Isabelle zuckte die Achseln. »Nur bis zu dem Moment, als du gesagt hast, du wolltest hochkommen und mit mir reden. Da bin ich dann wieder in mein Zimmer zurückgerannt. Ich hatte keine Lust, mit dir zu sprechen.« Sie warf ihm einen Seitenblick zu. »Eines muss ich dir allerdings lassen: Du bist echt hartnäckig.«

»Hör mal, Isabelle«, setzte Simon an und ging einen Schritt auf sie zu. Doch plötzlich wurde er sich der Tatsache bewusst, dass sie nur spärlich bekleidet war; daher verzichtete er darauf, ihr eine Hand auf die Schulter zu legen oder sie mit einer anderen tröstenden Geste zu berühren. »Als mein Vater starb, wusste ich zwar, dass das nicht meine Schuld war, aber ich konnte einfach nicht aufhören, an all die Dinge zu denken, die ich hätte tun sollen, ihm hätte sagen sollen, bevor es zu spät war.«

»Ja, aber in diesem Fall ist es nun mal meine Schuld«, entgegnete Isabelle. »Und ich hätte zuhören sollen. Aber mir bleibt immer noch die Möglichkeit, diesen Dreckskerl zu finden, der Max das angetan hat, und ihn zu töten.« 

»Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich hilft …«

»Woher willst du das denn wissen?«, konterte Isabelle. »Hast du denjenigen, der für den Tod deines Vaters verantwortlich war, aufgestöbert und getötet?«

»Mein Vater hatte einen Herzinfarkt«, erklärte Simon.

»Dann weißt du auch nicht, wovon du redest, oder?« Isabelle hob herausfordernd das Kinn und musterte ihn mit festem Blick. »Komm her.«

»Wie bitte?«

Herrisch winkte sie ihn mit dem Zeigefinger zu sich heran. »Komm her, Simon.« 

Zögernd ging Simon auf sie zu. Er war kaum noch einen Schritt von ihr entfernt, als sie ihn am Kragen seines T-Shirts packte und ruckartig zu sich heranzog, bis nur noch wenige Zentimeter sie voneinander trennten. Simon konnte erkennen, dass auf der Haut unter Isabelles Augen die Spuren kürzlich vergossener Tränen schimmerten. »Weißt du, was ich jetzt wirklich brauche?«, fragte sie und artikulierte dabei jedes Wort klar und deutlich.

»Hm«, sagte Simon. »Nein …«

»Ein wenig Ablenkung«, erklärte Isabelle und riss ihn mit einer halben Körperdrehung neben sich auf das Bett.

Simon landete mit dem Rücken in einem Haufen zusammengeknäuelter Kleidungsstücke. »Isabelle«, protestierte er leise, »glaubst du wirklich, dass du dich dadurch besser fühlen wirst?«

»Vertrau mir«, erwiderte Isabelle und legte ihm eine Hand auf die Brust, genau über sein schlagloses Herz. »Ich fühle mich schon jetzt deutlich besser.« 

 

Clary lag hellwach im Bett und starrte auf den schmalen Streifen Mondlicht, der langsam über die Decke wanderte. Sie war von den Ereignissen des Tages noch viel zu aufgedreht, um an Schlaf auch nur denken zu können, und die Tatsache, dass Simon nicht zum Abendessen zurückgekehrt war, trug auch nicht zu ihrer Beruhigung bei. Nachdem sie eine Weile angespannt am Esstisch gesessen hatte, hatte sie Luke ihre Sorge mitgeteilt, woraufhin dieser sich seinen Mantel übergeworfen hatte und zum Haus der Lightwoods gehastet war. Kurze Zeit später war er mit einem belustigten Lächeln auf den Lippen zurückgekehrt. »Simon geht es gut, Clary«, hatte er gesagt. »Geh schlafen.« Und dann war er zusammen mit Amatis zu einer weiteren endlosen Sitzung in der Abkommenshalle aufgebrochen. Clary fragte sich, ob inzwischen jemand die Überreste von Aldertrees weit verspritztem Blut beseitigt hatte.

Da sie nichts anderes zu tun hatte, war sie tatsächlich ins Bett gegangen, aber der Schlaf wollte sich einfach nicht einstellen. Immer wieder sah sie Valentin vor ihrem inneren Auge: Wie er dem Inquisitor in die Brust gegriffen und dann das Herz herausgerissen hatte. Wie er sich zu ihr umgedreht und hervorgestoßen hatte: »Wenn du wirklich alles wüsstest, würdest du jetzt den Mund halten. Wenn schon nicht zu deinem eigenen Wähle, dann wenigstens zum Wähle deines Bruders.« Doch am stärksten belasteten Clary die Geheimnisse, die sie von Ithuriel erfahren hatte - wie ein tonnenschweres Gewicht lagen sie auf ihrer Brust. Und unter all diese Sorgen mischte sich, wie ein steter Herzschlag, die unablässige Angst um ihre Mutter… dass sie sterben könnte. Wo, zum Teufel, steckte Mag-nus? 

Plötzlich ertönte ein leises Rascheln hinter dem Vorhang und ein breiter Mondstrahl fiel durch das Fenster in den Raum. Ruckartig setzte Clary sich auf und tastete fieberhaft nach der Seraphklinge, die sie auf ihrem Nachttisch aufbewahrte.

»Keine Panik.« Eine Hand streckte sich ihr entgegen, eine schlanke, narbenübersäte, vertraute Hand. »Ich bin’s nur.«

Clary zog scharf die Luft ein, woraufhin die Hand verschwand. »Jace«, stieß Clary hervor. »Was machst du hier? Was ist passiert?«

Als Jace nicht sofort reagierte, drehte sie sich zu ihm hin und zog dabei die Bettdecke um sich herum. Sie spürte, wie sie errötete, da ihr siedend heiß bewusst wurde, dass sie nur eine Schlafanzughose und ein dünnes Trägerhemdchen trug. Doch dann sah sie den Ausdruck auf seinem Gesicht und ihre Verlegenheit schwand.

»Jace?«, flüsterte sie. Er stand am Kopfende des Bettes, noch immer in seiner weißen Trauerkleidung, und in der Art und Weise, wie er zu ihr hinunterschaute, lag nichts Leichtes oder Sarkastisches oder Distanziertes. Sein Gesicht war kreidebleich und seine Augen wirkten gehetzt und vor Anspannung fast schwarz. »Jace, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Clary besorgt.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte er mit einem benommenen Ausdruck im Gesicht, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht. »Eigentlich wollte ich gar nicht hierherkommen. Ich bin die ganze Nacht ziellos umhergewandert - ich konnte nicht schlafen. Und dann hab ich festgestellt, dass meine Füße mich immer wieder hierhergebracht haben. Zu dir.«

Clary setzte sich aufrechter und ließ die Bettdecke auf ihre Hüften sinken. »Warum kannst du nicht schlafen? Ist irgendetwas passiert?«, fragte sie und kam sich sofort ziemlich dumm vor. Was war schließlich nicht alles passiert? 

Jace schien ihre Frage kaum wahrzunehmen. »Ich musste dich einfach sehen«, murmelte er, eher zu sich selbst. »Ich weiß, dass ich das nicht sollte. Aber ich konnte nicht anders.«

»Komm, setz dich«, sagte Clary und zog ihre Beine hoch, damit er sich auf der Bettkante niederlassen konnte. »Weil du mir nämlich Angst einjagst - so wie du da stehst. Bist du sicher, dass nichts passiert ist?«

»Ich hab nicht gesagt, dass nichts passiert sei.« Vorsichtig setzte er sich auf das Bett, das Gesicht ihr zugewandt. Er war nun so nahe, dass sie sich nur leicht hätte vorbeugen müssen, um ihn zu küssen …

Clary Herz schlug schneller. »Gibt es irgendwelche Neuigkeiten? Schlechte Nachrichten? Ist alles … sind alle in Ordnung …?«

»Nein, keine schlechten Nachrichten und eigentlich auch gar keine Neuigkeit, sondern eher das Gegenteil … etwas, das ich schon immer gewusst habe und das du … das du wahrscheinlich ebenfalls weißt. Besonders gut hab ich es ja nicht verbergen können.« Seine Augen erfassten ihr Gesicht, tasteten langsam jeden Zentimeter ab, als wollte er sich ihre Züge gut einprägen. »Es ist etwas passiert«, sagte er gedehnt und zögerte einen Moment. »Mir ist nämlich etwas bewusst geworden.« 

»Jace«, wisperte Clary und fürchtete sich plötzlich aus unerklärlichem Grund vor dem, was er als Nächstes sagen würde. »Jace, du brauchst nicht…«

»Eigentlich wollte ich zu einem … zu einem bestimmten Ort, aber irgendwie bin ich immer wieder hier gelandet«, erklärte Jace. »Ich konnte einfach nicht aufhören zu laufen … aufhören zu denken … an den Moment, in dem ich dich zum ersten Mal gesehen habe, und daran, dass ich dich danach einfach nicht vergessen konnte. Ich wollte es zwar, habe es aber nicht geschafft. Also habe ich Hodge überredet, dass er mich nach dir auf die Suche schickt, um dich zum Institut zu bringen. Und selbst damals schon, in diesem blöden Cafe, als ich dich zusammen mit Simon auf der Couch sitzen sah, hatte ich das Gefühl, dass das nicht richtig war - ich hätte derjenige sein sollen, der neben dir auf dem Sofa saß. Derjenige, der dich zum Lachen brachte. Dieses Gefühl konnte ich einfach nicht loswerden. Dass ich derjenige sein sollte. Und je besser ich dich kennenlernte, desto mehr verstärkte sich dieses Gefühl. So etwas hatte ich noch nie zuvor empfunden. Bis dahin hatte ich ein Mädchen immer nur gewollt, und wenn es dann so weit war, dass ich sie besser kannte, interessierte sie mich nicht mehr. Doch mit dir wurde dieses Gefühl von Mal zu Mal nur noch stärker - bis zu jener Nacht, als du in Renwicks Ruine aufgetaucht bist. In dem Moment wusste ich es. 

Und als ich dann herausfand, warum ich so für dich empfand - als wärst du ein Teil von mir, den ich verloren und von dem ich bis zu deinem Erscheinen nicht einmal geahnt hatte, dass er mir fehlte -, als ich erfuhr, dass dies daran lag, dass du meine Schwester bist, da erschien mir das Ganze wie eine Art kosmischer Witz. Als würde Gott mir ins Gesicht spucken. Und ich weiß noch nicht einmal, wofür! Dafür, dass ich mir eingebildet hatte, du könntest tatsächlich eines Tages zu mir gehören, oder dass ich etwas Derartiges verdient hätte … dass ich es verdient hätte, so glücklich zu sein? Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, was ich getan hatte, um derart bestraft zu werden …« 

»Wenn du dich gestraft fühlst, dann werde auch ich bestraft«, sagte Clary. »Weil ich nämlich genau dasselbe gefühlt habe wie du. Aber wir können nicht… wir müssen aufhören, so zu empfinden, weil das unsere einzige Chance ist.« 

Jace hatte die Hände zu Fäusten geballt. »Unsere einzige Chance wofür?« 

»Um überhaupt zusammen sein zu können. Denn sonst könnten wir uns nicht in der Nähe des anderen aufhalten, nicht einmal im selben Raum sein, und das könnte ich nicht ertragen. Lieber habe ich dich nur als Bruder in meinem Leben als gar nicht…«

»Dann soll ich danebensitzen und zusehen, wie du dich mit anderen Jungs verabredest, dich in jemand anderen verliebst, heiratest …?« Seine Stimme klang angespannt. »Und jeden Tag sterbe ich innerlich ein Stückchen mehr.«

»Nein. Denn dann wird es dir egal sein«, erwiderte Clary, fragte sich aber in dem Moment, ob sie die Vorstellung überhaupt ertragen konnte, dass es Jace eines Tages vielleicht egal war. So weit in die Zukunft vorausgedacht wie er hatte sie noch nicht, und als sie sich nun vorzustellen versuchte, wie sie mit ansah, dass er sich in jemand anderes verliebte, jemand anderes heiratete, gelang es ihr nicht einmal, sich ein Bild davon zu machen. Das Einzige, was sie sah, war ein leerer schwarzer Tunnel, der sich endlos lang vor ihr erstreckte. »Bitte«, flüsterte sie. »Wenn wir nicht mehr darüber reden … wenn wir einfach vorgeben …« 

»Da gibt es nichts vorzugeben«, erwiderte Jace mit fester, klarer Stimme. »Ich liebe dich und ich werde dich immer lieben, bis zu dem Tag, an dem ich sterbe. Und wenn es ein Leben nach dem Tod gibt, werde ich dich auch dann noch lieben.«

Clary hielt den Atem an. Er hatte es ausgesprochen - die Worte, nach denen es kein Zurück mehr gab. Mühsam rang sie um eine Antwort, brachte aber kein Wort über die Lippen.

»Und ich weiß, dass du glaubst, ich würde nur mit dir zusammen sein wollen, weil… weil ich mir selbst beweisen müsse, was für ein Monster ich bin«, fuhr Jace fort. »Und vielleicht bin ich ja tatsächlich ein Monster - die Antwort darauf kenne ich nicht. Aber ich weiß eines: Selbst wenn Dämonenblut in meinen Adern fließt, so fließt doch auch menschliches Blut in mir. Und ich könnte dich nicht so sehr lieben, wie ich dich liebe, wenn ich nicht auch wenigstens ein kleines bisschen Mensch wäre. Denn Dämonen wollen. Aber sie lieben nicht. Und ich …« 

Ruckartig stand er auf, mit einer Art brutaler Abruptheit, und ging zum Fenster. Er wirkte schrecklich verloren - so verloren wie in der Abkommenshalle, als er vor Max’ leblosem Körper gestanden hatte.

»Jace?«, fragte Clary beunruhigt. Als er nicht reagierte, krabbelte sie aus dem Bett, lief zu ihm und legte ihm eine Hand auf den Arm. Doch er starrte weiterhin reglos aus dem Fenster. Ihre Reflexionen in der Scheibe waren fast transparent - die geisterhaften Konturen eines hochgewachsenen Jungen und eines kleineren Mädchens, deren Hand sich ängstlich an seinen Arm klammerte. »Jace, was ist los?«

»Ich hätte dir das alles nicht erzählen dürfen«, sagte er, ohne sie anzuschauen. »Es tut mir leid. Das war wahrscheinlich ein bisschen viel auf einmal. Du hast so … so geschockt ausgesehen.« Die Anspannung ließ seine Stimme vibrieren wie einen Draht, der unter Strom stand.

»Das war ich auch«, erklärte Clary. »Während der vergangenen Tage habe ich mich ständig gefragt, ob du mich vielleicht hassen würdest. Und als ich dich heute Abend sah, war ich mir ziemlich sicher, dass meine Befürchtung stimmte.«

»Dich hassen?«, wiederholte Jace und starrte sie verwundert an. Dann streckte er vorsichtig die Hand aus und berührte sie leicht an der Wange - seine Fingerspitzen streiften sanft über ihre Haut. »Ich habe dir ja schon erzählt, dass ich nicht schlafen konnte. Morgen Abend um Mitternacht werden wir uns entweder im Krieg befinden oder unter Valentins Knechtschaft. Dies könnte die letzte Nacht unseres Lebens sein, mit Sicherheit die letzte halbwegs normale. Die letzte Nacht, in der wir uns schlafen legen und am Morgen aufstehen, so wie wir es immer getan haben. Aber ich konnte nur an eines denken: dass ich diese Nacht mit dir verbringen möchte.«

Clarys Herz setzte einen Schlag aus. »Jace …«

»Nein nein, ich meine das nicht auf diese Weise«, erklärte er. »Ich werde dich nicht anrühren, jedenfalls nicht, solange du es nicht willst. Und ich weiß, dass es falsch ist - herrje, es ist in jeder Hinsicht falsch -, aber ich möchte mich einfach nur neben dich legen und zusammen mit dir aufwachen, nur ein Mal, nur ein einziges Mal in meinem Leben.« Verzweiflung klang aus seiner Stimme. »Es ist nur diese eine Nacht. Und welche Rolle spielt schon eine Nacht, verglichen mit einem ganzen Leben?« 

Sie spielt deshalb eine Rolle, weil du bedenken solltest, wie wir uns am nächsten Morgen fühlen würden. Denk doch nur mal daran, wie viel schlimmer es wäre, in Gegenwart aller anderen vorgeben zu müssen, dass wir einander nichts bedeuten, wo wir doch die Nacht zusammen verbracht hätten - selbst wenn wir nur nebeneinander geschlafen hätten. Das wäre, als würde man eine kleine Menge Drogen einnehmen - es führt nur dazu, dass man immer mehr will, überlegte Clary. 

Doch plötzlich erkannte sie, dass er ihr das alles genau aus diesem Grund erzählt hatte. Weil es nicht zutraf, jedenfalls nicht für ihn. Es gab nichts, was die Situation noch schlimmer machen würde - genauso wenig wie es etwas gab, das sie verbessern konnte. Seine Gefühle waren so endgültig wie eine lebenslange Haftstrafe. Und konnte sie wirklich behaupten, dass es ihr tatsächlich so viel anders erging? Selbst wenn sie das erhoffte … wenn sie hoffte, eines Tages, nach langen Jahren, vernunftbedingt oder aufgrund allmählicher Gewöhnung, nicht mehr so zu empfinden, spielte es in diesem Moment doch überhaupt keine Rolle. In ihrem ganzen Leben hatte sie sich nichts so sehr gewünscht, wie diese Nacht mit Jace zu verbringen. 

»Dann zieh bitte den Vorhang zu, ehe du ins Bett kommst«, sagte sie. »Ich kann nicht schlafen, wenn so viel Licht ins Zimmer fällt.« 

Ein Ausdruck absoluter Ungläubigkeit breitete sich auf Jace’ Gesicht aus; überrascht erkannte Clary, dass er wirklich nicht damit gerechnet hatte, dass sie zustimmen würde. Eine Sekunde später schlang er die Arme um sie und zog sie an sich, das Gesicht in ihre zerzausten Haare gedrückt. »Clary …«

»Komm ins Bett«, sagte sie leise. »Es ist schon spät.« Behutsam löste sie sich aus seiner Umarmung, kehrte ins Bett zurück und zog die Bettdecke bis zur Taille. Als sie ihm einen Blick zuwarf und ihn dastehen sah, konnte sie sich fast vorstellen, wie es in ein paar Jahren - und unter anderen Umständen - wohl gewesen wäre. In einigen Jahren, wenn sie schon so lange zusammen wären, dass sie dies schon Hunderte Male getan hätten … dass jede Nacht ihnen gehören würde und nicht nur diese eine. Clary stützte das Kinn auf die Hände und sah zu, wie er den Vorhang schloss, dann seine weiße Jacke auszog und sie über die Rückenlehne des Stuhls hängte. Darunter trug er ein hellgraues T-Shirt, und als er den Waffengürtel löste und auf den Boden legte, schimmerten die dunklen Runenmale auf seinen nackten Oberarmen. Dann bückte er sich, um seine Stiefel aufzuschnüren, streifte sie ab, kam zum Bett und legte sich äußerst vorsichtig neben Clary. Flach auf dem Rücken liegend, wandte er ihr den Kopf zu. Das wenige Licht, das entlang des Vorhangs in den Raum fiel, reichte ihr, um die Konturen seines Gesichts und das helle Strahlen seiner Augen erkennen zu können.

»Gute Nacht, Clary«, sagte er leise.

Seine Arme lagen dicht neben ihm und er schien kaum zu atmen - Clary war sich nicht einmal sicher, ob sie selbst noch atmete. Behutsam schob sie ihre eigene Hand über die Bettdecke, gerade so weit, dass ihre Fingerspitzen einander berührten - so leicht, dass Clary es wahrscheinlich nicht einmal gespürt hätte, wenn sie jemanden anderen als Jace berührt hätte. Doch die Nervenden an ihren Fingerspitzen prickelten leicht, als hielte sie sie über eine schwache Flamme. Sie spürte, wie sein Körper sich neben ihr kurz anspannte und dann wieder lockerte. Er hielt die Augen geschlossen und seine Wimpern warfen zarte Schatten auf die Rundungen seiner Wangenknochen. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, als würde er spüren, dass sie ihn beobachtete, und Clary fragte sich, wie er wohl am Morgen aussehen würde, mit zerzausten Haaren und Schlafspuren im Gesicht. Der Gedanke daran schenkte ihr trotz allem ein intensives Glücksgefühl.

Vorsichtig verschränkte sie ihre Finger mit den seinen. »Gute Nacht«, flüsterte sie und dann - wie zwei Kinder in einem Märchen, die sich an den Händen hielten - fiel sie neben Jace in einen tiefen Schlaf.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
titlepage.xhtml
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_000.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_001.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_002.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_003.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_004.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_005.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_006.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_007.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_008.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_009.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_010.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_011.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_012.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_013.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_014.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_015.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_016.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_017.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_018.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_019.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_020.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_021.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_022.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_023.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_024.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_025.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_026.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_027.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_028.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_029.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_030.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_031.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_032.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_033.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_034.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_035.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_036.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_037.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_038.html