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TAGESLICHTLER

 

Die Nacht war bereits angebrochen, als Simon und Alec das Haus der Familie Penhallow verließen und den Hügel hinauf zur Garnison liefen. Im kalten Mondlicht wirkten die engen, gewundenen Gassen der Stadt wie helle Steinbänder, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängelten, und die Luft war eisig - obwohl Simon dies nur am Rande wahrnahm.

Schweigend stapfte Alec ein paar Schritte vor Simon her, so als wäre er allein. In seinem früheren Leben hätte Simon sich beeilen und schnaufend hinter ihm herlaufen müssen, um mit ihm Schritt zu halten, doch nun stellte er fest, dass er zu Alec aufschließen konnte, indem er einfach ein wenig schneller ging. »Das muss dir ja echt stinken«, sagte er schließlich, während Alec missmutig geradeaus starrte. »Dass man es dir aufgebürdet hat, mich zu begleiten, meine ich.«

Alec zuckte die Achseln. »Ich bin achtzehn und damit erwachsen. Also muss ich mich auch entsprechend verantwortungsvoll verhalten. Ich bin der Einzige von uns, der während der Sitzung des Rats die Garnison betreten darf, und außerdem kennt mich der Konsul.«

»Was ist ein Konsul?«

»Eine Art hoher Ratsbeamter. Er zählt die abgegebenen Stimmen bei der Vollversammlung, interpretiert die Gesetze für die Mitglieder des Rats und fungiert als Berater für den Rat und den Inquisitor. Wenn ein Institutsleiter beispielsweise auf ein Problem stößt, von dem er nicht weiß, wie er damit umgehen soll, dann wendet er sich an den Konsul.« 

»Er berät den Inquisitor? Ich dachte … ist die Inquisitorin denn nicht tot?«

Alec schnaubte. »Genauso gut könntest du fragen: >Ist der Präsident denn nicht tot?< Doch, klar, die Inquisitorin ist gestorben, aber jetzt gibt es einen neuen Mann auf ihrem Posten - Inquisitor Aldertree.«

Simon schaute den Hügel hinunter, auf das düstere Wasser der Kanäle weit unter ihnen. Sie hatten die Stadt inzwischen hinter sich gelassen und folgten einer schmalen Straße, die sich zwischen hohen dunklen Bäumen hindurchwand. »Ich kann dir eines verraten: In der Vergangenheit haben Inquisitoren meinem Volk nicht viel Gutes gebracht«, sagte er beiläufig, woraufhin Alec ihn verständnislos ansah. »Ach, schon gut. War nur eine Anspielung auf die Geschichte der Irdischen. Es würde dich sowieso nicht interessieren.«

»Du bist kein Irdischer«, stellte Alec klar. »Deshalb waren Aline und Sebastian ja auch so begeistert, einen Blick auf dich werfen zu können. Auch wenn man das Sebastian nicht direkt anmerken konnte - er tut immer so, als hätte er schon alles und jeden gesehen.«

»Sind er und Isabelle … läuft zwischen den beiden was?«, platzte Simon, ohne nachzudenken, heraus.

Verblüfft lachte Alec auf: »Isabelle und Sebastian? Wohl kaum. Sebastian ist ein netter Junge - und Isabelle verabredet sich nur mit durch und durch unpassenden Typen, die unsere Eltern auf jeden Fall hassen werden: Irdische, Schattenweltler, Kleinkriminelle …« 

»Na vielen Dank«, schnaubte Simon. »Freut mich, dass ich in eine Schublade mit Verbrechern geworfen werde.«

»Ich glaube, sie tut das, um Aufmerksamkeit zu erregen«, redete Alec ungerührt weiter. »Außerdem ist sie das einzige Mädchen in der Familie und muss ständig beweisen, wie tough sie ist. Oder zumindest glaubt sie das.«

»Vielleicht versucht sie aber auch, die Aufmerksamkeit von dir abzulenken«, meinte Simon geistesabwesend. »Du weißt schon: Weil deine Eltern ja nicht wissen, dass du schwul bist …«

Alec blieb derart ruckartig stehen, dass Simon fast in ihn hineingelaufen wäre. »Nein, sie wissen es nicht, aber offensichtlich alle anderen«, stieß er hervor.

»Mit Ausnahme von Jace«, sagte Simon. »Er weiß es nicht, oder?«

Alec holte tief Luft. Er war blass im Gesicht, dachte Simon, aber vielleicht lag es auch nur am Mondlicht, das der kompletten Umgebung sämtliche Farbe zu entziehen schien. Alecs Augen wirkten fast schwarz. »Ich wüsste wirklich nicht, was dich das angeht. Es sei denn, du versuchst, mir zu drohen«, sagte er düster.

»Dir zu drohen?« Simon starrte ihn verblüfft an. »Nein, das hatte ich nicht vor…« 

»Und was soll das dann?«, fragte Alec und in seiner Stimme schwang eine plötzliche, offene Verletzlichkeit mit, die Simon bestürzte. »Warum hast du dann überhaupt davon angefangen?«

»Weil du mich die meiste Zeit zu hassen scheinst«, erwiderte Simon. »Keine Sorge, ich nehme das nicht persönlich, obwohl ich dir mal das Leben gerettet habe. Aber du scheinst die ganze Welt zu hassen. Im Grunde haben wir beide nichts gemein. Aber ich sehe, wie du Jace anschaust, und dann sehe ich mich, wie ich Clary anschaue, und dann wird mir klar, dass wir vielleicht doch etwas gemein haben. Und vielleicht trägt das ja dazu bei, dass du mich ein bisschen weniger hasst.«

»Dann wirst du es Jace also nicht erzählen?«, fragte Alec. »Ich meine … du hast Clary gesagt, was du für sie empfindest, und …«

»Und das war keine gute Idee«, erklärte Simon. »Inzwischen frage ich mich, wie man nach so einem Bekenntnis wieder zur Normalität zurückkehren soll. Und ob wir jemals wieder Freunde sein können oder ob unsere Freundschaft zerbrochen ist. Nicht ihretwegen, sondern meinetwegen. Vielleicht wäre es etwas anderes, wenn ich jemand Neues fände …«

»Jemand Neues«, wiederholte Alec. Er hatte sich hastig wieder in Bewegung gesetzt und starrte missmutig vor sich hin.

Simon schloss eilig zu ihm auf. »Du weißt schon, was ich meine. Ich glaube nämlich, dass Magnus Bane dich wirklich mag. Und er ist ziemlich cool. Jedenfalls veranstaltet er großartige Partys. Auch wenn ich beim letzten Mal in eine Ratte verwandelt wurde.«

»Danke für den Tipp«, erwiderte Alec trocken. »Aber ich glaube nicht, dass er mich wirklich so sehr mag. Als er zum Institut kam, um das Portal zu öffnen, hat er kaum ein Wort mit mir gewechselt.«

»Vielleicht solltest du ihn mal anrufen«, schlug Simon vor und versuchte, nicht allzu lange darüber nachzudenken, wie merkwürdig es war, einem Dämonenjäger Ratschläge für eine mögliche Beziehung mit einem Hexenmeister zu erteilen. 

»Geht nicht«, sagte Alec. »In Idris gibt’s kein Telefon. Ach, ist ja sowieso egal.« Abrupt blieb er stehen. »Wir sind da. Das hier ist die Garnison.«

Vor den beiden Jungen ragte eine hohe Mauer mit einem gewaltigen Doppeltor auf, dessen massives Holz mit verschlungenen, eckigen Runenmustern bedeckt war. Obwohl Simon die Runen nicht wie Clary lesen konnte, spürte er, wie verwirrend sie in ihrer Vielschichtigkeit waren und dass sie ein enormes Gefühl der Macht verströmten. Die beiden Flügel des Tors wurden von steinernen Engelsstatuen flankiert, in deren wunderschönen Gesichtern ein entschlossener, wilder Ausdruck lag. Jeder der Engel hielt ein Schwert in der Hand und zu seinen Füßen wand sich eine sterbende Kreatur - eine Mischung aus Ratte, Fledermaus und Echse, mit bösartig spitzen Zähnen. Simon betrachtete die Szenerie eine ganze Weile. Ihm war klar, dass es sich um Dämonen handelte - aber genauso gut hätten es auch Vampire sein können.

Alec stieß das schwere Holztor auf und bedeutete Simon, als Erster hindurchzugehen. Nachdem Simon das Tor passiert hatte, schaute er sich blinzelnd um. Seit seiner Verwandlung zum Vampir hatte sich seine Nachtsicht derart verbessert, dass er normalerweise jedes winzige Detail mit laserscharfer Genauigkeit erkennen konnte. Doch die Dutzenden von Fackeln, die den Weg zu den Türen des Garnisonsgebäudes säumten, waren aus Elbenlicht gefertigt und ihr grelles weißes Licht ließ sämtliche Konturen und Details der Umgebung verschwimmen. Simon spürte, dass Alec ihn am Arm nahm und einen schmalen Steinpfad entlangführte, der durch die Lichtreflexion hell schimmerte. Dann tauchte plötzlich jemand vor ihnen auf und versperrte ihnen mit hochgestrecktem Arm den Weg. 

»Das ist also der Vampir?« Die Stimme, die diese Frage stellte, klang tief, fast wie ein Knurren. Simon schaute auf, doch das Licht brannte ihm in den Pupillen - wenn er noch Tränen gehabt hätte, wären sie ihm nun bestimmt in die Augen geschossen. Elbenlicht, dachte er, Engelslicht verursacht bei mir Verätzungen. Ich hätte es wissen müssen. 

Der Mann vor ihnen war sehr groß. Die blassgelbe Haut seines Gesichts spannte sich über seinen vorspringenden Wangenknochen und über der spitzen römischen Nase und der hohen Stirn glänzten kurz geschnittene schwarze Haare. Er musterte Simon mit einem Ausdruck im Gesicht, der dem eines Berufspendlers ähnelte, wenn dieser eine fette Ratte auf den Gleisen laufen sieht - in der vagen Hoffnung, dass eine Bahn heranbraust und die Ratte zerquetscht.

»Das ist Simon«, erwiderte Alec, ein wenig verunsichert. »Simon, das ist Konsul Malachi Dieudonne. Ist das Portal bereit, Sir?«

»Ja«, sagte Malachi. Seine Stimme klang harsch und besaß einen leichten Akzent. »Alles ist vorbereitet. Komm, Schattenweltler.« Er winkte Simon zu sich heran. »Je eher wir es hinter uns bringen, desto besser.«

Simon setzte sich in Bewegung, um dem ranghohen Beamten zu folgen, doch Alec hielt ihn mit einer Hand am Arm fest. »Einen Moment noch«, sagte er und wandte sich an den Konsul. »Er wird doch direkt nach Manhattan zurückgebracht? Und auf der anderen Seite von jemandem in Empfang genommen, oder?«

»Allerdings«, bestätigte Malachi. »Vom Hexenmeister Magnus Bane. Da er es dem Vampir unklugerweise erlaubt hat, Idris überhaupt zu betreten, hat er auch die Verantwortung für seine Rückkehr übernommen.«

»Wenn Magnus Simon nicht durch das Portal geholfen hätte, wäre er gestorben«, bemerkte Alec mit einer gewissen Schärfe in der Stimme.

»Vielleicht«, entgegnete Malachi. »Das behaupten zumindest deine Eltern und der Rat hat beschlossen, ihnen Glauben zu schenken. Entgegen meinem ausdrücklichen Rat. Aber wie dem auch sei: Man bringt nicht leichtfertig Schattenweltler in die Gläserne Stadt.«

»Daran war überhaupt nichts leichtfertig.« Wut stieg in Simons Brust auf. »Wir sind angegriffen worden und …«

Sofort richtete Malachi seinen Blick auf Simon. »Du wirst nur reden, wenn du gefragt wirst, verstanden, Schattenweltler? Und keine Minute eher.«

Alecs Griff um Simons Arm verstärkte sich. Auf seinem Gesicht lag eine Mischung aus Zögern und Misstrauen, als wäre er sich nicht mehr sicher, ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, Simon in die Garnison zu bringen.

»Aber, aber, Konsul, ich muss doch sehr bitten!« Eine hohe, leicht atemlose Stimme klang über den Innenhof und mit Erstaunen stellte Simon fest, dass sie einem Mann gehörte - eine kleine, rundliche Gestalt eilte über den Steinpfad auf sie zu. Er trug einen weiten grauen Umhang über seiner Schattenjägermontur und sein kahler Schädel glänzte im Elbenlicht. »Es besteht nun wirklich kein Grund, unseren Gast zu beunruhigen.« 

»Gast?« Malachi warf ihm einen empörten Blick zu.

Der kleine Mann blieb vor AIec und Simon stehen und strahlte sie beide an. »Wir sind ja so froh, so überaus erfreut, dass du beschlossen hast, hinsichtlich deiner Rückkehr nach New York mit uns zu kooperieren. Das macht die Angelegenheit ja so viel einfacher.« Er zwinkerte Simon zu, der ihn verwirrt anstarrte. Er konnte sich nicht erinnern, dass er jemals einem Schattenjäger begegnet war, der sich über seine Anwesenheit zu freuen schien - nicht während seiner Zeit als Irdischer und ganz bestimmt nicht seit seiner Verwandlung zum Vampir. 

»Oh, das hätte ich ja fast vergessen!« Der kleine Mann schlug sich schuldbewusst gegen die Stirn. »Ich hätte mich zuerst vorstellen müssen. Ich bin der Inquisitor - der neue Inquisitor. Inquisitor Aldertree.« Er streckte Simon die Hand entgegen, der sie verwirrt schüttelte. »Und du? Bist du Simon?« 

»Ja«, sagte Simon und zog seine Hand zurück, sobald es die Höflichkeit gestattete. Aldertrees Handgriff war unangenehm feucht und schwitzig. »Sie brauchen mir nicht zu danken. Ich möchte nichts lieber, als nach Hause zurückzukehren.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ja, das kann ich mir gut vorstellen!« Trotz Aldertrees heiterem Ton blitzte irgendetwas in seinen Augen auf- ein Ausdruck, den Simon aber nicht genau deuten konnte. Und Sekundenbruchteile später war er auch wieder verschwunden, während Aldertree lächelnd auf einen schmalen Pfad zeigte, der sich um das Garnisonsgebäude herumwand. »Bitte hier entlang, Simon.«

Simon marschierte los und auch Alec setzte sich in Bewegung, um ihm zu folgen. Doch der Inquisitor hielt eine Hand hoch. »Das wäre dann alles, Alexander. Vielen Dank für deine Hilfe.«

»Aber Simon …«, setzte Alec an.

»… ist in besten Händen«, versicherte ihm der Inquisitor. »Malachi, bitte begleite Alexander zum Tor. Und gib ihm ein Elbenlicht, falls er selbst keines mitgebracht hat, damit er sicher nach Hause kommt. Der Weg kann bei Dunkelheit ziemlich tückisch sein.«

Und damit wandte er sich mit einem weiteren glückstrahlenden Lächeln Simon zu und führte ihn freundlich plaudernd davon, während Alec den beiden ratlos nachstarrte.

 

Als Amatis mit ihrem Elbenlicht vorauseilte und Luke Clary über die Türschwelle und durch einen langen Flur trug, war ihr, als würde die Welt durch die Nebelschwaden, die um sie herum herrschten, plötzlich aufleuchten. Im Fieberwahn sah Clary, wie sich der Gang vor ihnen scheinbar immer weiter ausdehnte und in die Länge zog, wie in einem schlimmen Albtraum.

Dann drehte sich das Bild - und plötzlich lag sie auf einer kühlen Oberfläche. Liebevoll strichen Hände eine Decke über ihr glatt und blaue Augen betrachteten sie besorgt. »Sie scheint wirklich sehr krank zu sein, Lucian«, sagte Amatis mit einer Stimme, die in Clarys Ohren verzerrt klang wie eine alte Plattenaufnahme. »Was ist mit ihr passiert?«

»Sie hat die Hälfte des Lyn-Sees geschluckt.« Der Klang von Lukes Stimme verhallte und einen Moment lang konnte Clary wieder klar sehen: Sie lag auf den kalten Fliesen eines Küchenbodens und irgendwo über ihr wühlte Luke in einem Schrank. An einer der Wände, von der die gelbe Farbe abblätterte, stand ein altmodischer schwarzer Gusseisenherd; Flammen schlugen aus dem Ofenrost und brannten ihr in den Augen. »Anis, Belladonna, Nieswurz …« Mit einem Arm voll dunkler Glasgefäße drehte Luke sich zu Amatis um. »Kannst du einen Sud aus diesen Krautern herstellen, Amatis? Ich werde Clary näher an den Herd rücken - sie hat Schüttelfrost.« 

Clary versuchte, etwas zu sagen … dass es nicht nötig wäre, sie noch mehr aufzuwärmen … dass sie innerlich bereits glühe … doch die Töne, die aus ihrem Mund kamen, hatten nichts mit dem zu tun, was sie eigentlich sagen wollte. Sie hörte sich selbst wimmern, als Luke sie hochhob, und dann spürte sie eine feurige Hitze, die ihre linke Körperhälfte aufzutauen schien. Clary hatte nicht einmal bemerkt, dass ihr Körper förmlich zu Eis gefroren war. Ihre Zähne begannen zu klappern und sie schmeckte Blut im Mund. Dann setzte ein Vibrieren ein und ließ die Welt erbeben wie Wasser in einem gerüttelten Glas.

»Sie hat aus dem See der Träume getrunken?«, fragte Amatis ungläubig. Clary konnte die Frau nicht deutlich erkennen, aber sie schien in der Nähe des Herds zu stehen, mit einem langstieligen Holzlöffel in der Hand. »Was hat sie denn dort gemacht? Weiß Jocelyn, wo sie …«

Im nächsten Moment schien die Welt um Clary herum in Dunkelheit zu versinken - oder zumindest die reale Welt der Küche mit den gelben Wänden und dem beruhigenden Feuer hinter dem Ofengitter. Stattdessen sah Clary die Fluten des Lyn-Sees, in denen sich Flammen spiegelten wie in einer polierten Glasfläche. Engel schritten über das Glas - Engel mit weißen Flügeln, die blutverschmiert und gebrochen von ihren Rücken herabhingen, und jeder der Engel besaß Jace’ Gesicht. Und dann tauchten weitere Engel auf, mit Flügeln wie schwarzen Schatten, und sie hielten ihre Hände in die Flammen und lachten … 

»Sie ruft ständig nach ihrem Bruder.« Amatis’ Stimme klang hohl, als dränge sie aus unglaublicher Höhe zu Clary durch. »Er ist doch bei den Lightwoods, oder? Und die wohnen zurzeit bei den Penhallows in der Princewater Street. Ich könnte schnell …«

»Nein«, unterbrach Luke sie scharf. »Nein. Es ist besser, wenn Jace nichts davon erfährt.«

Habe ich wirklich nach Jace gerufen? Warum sollte ich das tun?, fragte Clary sich, doch der Gedanke dauerte nur einen Sekundenbruchteil an. Sofort kehrte die Dunkelheit zurück und die Halluzinationen ergriffen wieder von ihr Besitz. Dieses Mal phantasierte sie von Alec und Isabelle: Beide sahen aus, als hätten sie eine erbitterte Schlacht hinter sich; Tränen hatten helle Spuren auf ihren rußverschmierten Gesichtern hinterlassen. Dann waren die beiden fort und Clary sah einen gesichtslosen Mann mit schwarzen Schwingen, die wie Fledermausflügel aus seinem Rücken herausragten. Blut rann aus seinem Mundwinkel, als er lächelte. Clary kniff die Augen fest zusammen und betete, dass die Visionen verschwinden würden … 

Erst eine ganze Weile später tauchte sie erneut aus dem Fieberwahn auf, als eine Stimme an ihr Ohr drang. »Trink das«, sagte Luke. »Clary, du musst das hier trinken!« Dann spürte sie eine stützende Hand im Rücken und jemand träufelte ihr mithilfe eines getränkten Tuchs eine Flüssigkeit in den Mund. Der Sud schmeckte bitter und eklig und sie begann, zu husten und zu würgen, doch die Hand in ihrem Rücken ließ nicht locker. Tapfer versuchte Clary zu schlucken, trotz der Schmerzen in ihrer geschwollenen Kehle. »So ist es gut«, sagte Luke. »Schon viel besser.« 

Langsam öffnete Clary die Augen. Neben ihr knieten Luke und Amatis, in deren fast identischen blauen Augen dieselbe Sorge geschrieben stand. Clary schaute an ihnen vorbei, konnte aber nichts entdecken - weder Engel noch Teufel mit Fledermausflügeln, lediglich gelbe Wände und eine hellrosa Teekanne, die gefährlich nah am Rand einer Fensterbank balancierte.

»Werde ich sterben?«, flüsterte Clary.

Luke lächelte gequält. »Nein. Es wird zwar eine Weile dauern, bis du wieder auf den Beinen bist, aber … du wirst es überleben.«

»Okay.« Clary war zu erschöpft, um irgendetwas zu empfinden, nicht einmal Erleichterung. Sie fühlte sich, als hätte man ihr die Knochen entfernt und sie mit einem Gummianzug aus schlaffer Haut zurückgelassen. Schläfrig blinzelte sie durch schwere Lider zu Luke hoch und meinte dann, ohne lange nachzudenken: »Du hast genau die gleichen Augen.«

Luke schaute sie verwundert an. »Die gleichen Augen wie wer?«

»Wie sie«, sagte Clary und richtete ihren müden Blick auf Amatis, die sie verdutzt ansah. »Der gleiche Blauton.«

Ein schwaches Lächeln huschte über Lukes Gesicht. »Na ja, das ist auch nicht weiter verwunderlich. Ich hatte schließlich noch keine Gelegenheit, euch miteinander bekannt zu machen. Clary, das ist Amatis Herondale. Meine Schwester.« 

 

In dem Moment, in dem Alec und der Konsul außer Hörweite waren, verstummte der Inquisitor. Simon folgte ihm den schmalen, beleuchteten Pfad entlang und versuchte, nicht direkt in das Elbenlicht zu schauen. Verschwommen nahm er wahr, wie um ihn herum die Mauern der Garnison anstiegen wie der Rumpfeines riesigen Ozeandampfers aus einem Wellental. Helles Licht ergoss sich aus den Fenstern und durchbohrte den Himmel mit silbernen Strahlen. Zu ebener Erde lagen weitere Fenster, von denen manche vergittert waren, doch aus ihnen drang nicht der geringste Lichtschein - nur unheilvolle Dunkelheit.

Schließlich erreichten Simon und der Inquisitor eine hölzerne Tür, die durch einen Torbogen in einen Seitenteil des Gebäudekomplexes führte. Als Aldertree sich daranmachte, das Schloss zu entriegeln, verkrampfte sich Simons Magen. Seit seiner Wandlung zum Vampir war ihm aufgefallen, dass die meisten Leute einen Geruch verströmten, der sich zusammen mit ihrer Stimmung veränderte. Und der Inquisitor roch nach irgendetwas, das bitter und intensiv wie Kaffee war, nur wesentlichen unangenehmer. Im nächsten Moment spürte Simon den typischen stechenden Schmerz in seinem Kiefer, der bedeutete, dass seine Fangzähne hervorzubrechen drohten, und er rückte ein kleines Stück von dem Inquisitor ab, während sie das Tor passierten.

Dahinter kam ein langer Korridor zum Vorschein, mit kahlen weißen, fast tunnelartigen Wänden, wie aus weißem Gestein gemeißelt. Als der Inquisitor vorauseilte, tanzte der Lichtschein seines Elbenlichts hell über die Mauern. Für einen kurzbeinigen Mann lief er erstaunlich schnell, dachte Simon und musste sich spurten, um mit Aldertree mitzuhalten, dessen Kopf sich ständig von links nach rechts und wieder zurück drehte und der schnüffelnd die Nase rümpfte, als würde er die Luft prüfen. Als sie an einer gewaltigen Doppeltür vorbeikamen, deren Flügel weit aufgerissen waren, konnte Simon einen Blick in den dahinterliegenden Saal werfen. Er erinnerte an ein Amphitheater, mit etlichen Stuhlreihen, in denen schwarz gekleidete Schattenjäger dicht an dicht saßen. Stimmen hallten von den Wänden, erhobene, zornerfüllte Stimmen, und Simon schnappte im Vorbeigehen ein paar Gesprächsfetzen auf. Allerdings verschmolzen die Sätze miteinander, da sich die Redner gegenseitig ins Wort fielen. 

»Aber wir haben keinen Beweis dafür, was Valentin wirklich will. Er hat seine Wünsche niemandem mitgeteilt…«

»Welche Rolle spielt es schon, was er will? Er ist ein Abtrünniger und ein Lügner. Glaubt ihr wirklich, jeder Versuch, ihn durch Zugeständnisse zu beschwichtigen, würde uns letztendlich nutzen?«

»Ihr wisst doch, dass eine Patrouille ein totes Werwolfkind in der Nähe des Brocelind-Waldes gefunden hat? In dem Leichnam war kein einziger Tropfen Blut mehr. Es sieht ganz danach aus, als hätte Valentin das Ritual hier in Idris endgültig vollzogen.«

»Da er zwei der Engelsinsignien in seinen Besitz gebracht hat, ist er jetzt mächtiger als ein Nephilim jemals sein sollte. Möglicherweise haben wir gar keine andere Wahl …«

»Mein Cousin hat auf diesem Schiff in New York sein Leben gelassen! Es kommt überhaupt nicht infrage, dass Valentin mit dem, was er bereits angerichtet hat, ungestraft davonkommt. Das schreit nach Vergeltung!«

Simon verlangsamte seine Schritte, um mehr zu erfahren, doch der Inquisitor umschwirrte ihn wie eine fette, gereizte Biene. »Komm weiter. Hier entlang«, sagte er und leuchtete mit seinem Elbenlicht in den Gang vor ihnen. »Wir dürfen nicht viel Zeit verlieren. Ich muss vor dem Ende der Versammlung wieder im Saal sein.«

Widerstrebend erlaubte Simon dem Inquisitor, ihn durch den Gang zu schieben. Das Wort »Vergeltung« klang ihm noch in den Ohren und die Erinnerung an jene Nacht auf dem Schiff erfüllte ihn mit einem kalten, unangenehmen Gefühl. Als sie endlich eine Tür mit einer grellen schwarzen Rune auf dem Türblatt erreichten, holte Aldertree einen Schlüssel hervor, entriegelte die Tür und forderte Simon mit einer ausladenden Willkommensgeste zum Eintreten auf.

Der Raum war kahl und nur mit einem einzelnen Wandteppich dekoriert, auf dem ein Engel mit einem Kelch und einem Schwert in der Hand aus einem See aufstieg. Die Tatsache, dass er beide Artefakte leibhaftig gesehen hatte, lenkte Simon einen Moment ab, und erst als er hörte, wie sich hinter ihm der Schlüssel im Schloss drehte, wurde ihm bewusst, dass der Inquisitor sie beide eingeschlossen hatte.

Langsam schaute Simon sich um. Der Raum war leer, bis auf eine Bank mit einem niedrigen Beistelltisch. Auf dem Tisch ruhte eine dekorative Silberglocke. »Das Portal …«, setzte Simon unsicher an. »Ist es hier drin?«

»Simon, Simon.« Aldertree rieb sich die Hände, als erwarte er eine Geburtstagsparty oder eine andere entzückende Überraschung. »Hast du es wirklich so eilig, von hier fortzukommen? Ich hatte so gehofft, du könntest mir zuerst ein paar Fragen beantworten …«

»Okay.« Unbehaglich zuckte Simon die Achseln. »Fragen Sie, was Sie wollen.«

»Wie außerordentlich kooperativ von dir! Wie wunderbar!« Aldertree strahlte. »Also, wie lange bist du jetzt schon ein Vampir?«

»Seit etwa zwei Wochen.«

»Und wie genau ist das passiert? Wurdest du auf der Straße angefallen oder vielleicht nachts in deinem Bett? Weißt du, wer dich verwandelt hat?«

»Also, äh, nicht direkt.«

»Aber, mein lieber Junge!«, quietschte Aldertree auf. »Wie kannst du etwas Derartiges denn nicht wissen?« Der Blick, mit dem er Simon betrachtete, war offen und neugierig. Der Inquisitor wirkte vollkommen harmlos, dachte Simon, wie ein freundlicher Großvater oder fideler alter Onkel. Er musste sich den bitteren Geruch eingebildet haben.

»So einfach war das nicht«, erklärte Simon und erzählte Aldertree von seinen beiden Besuchen im Hotel Dumort - zuerst in Gestalt einer Ratte und dann unter solch einem starken inneren Zwang, dass er das Gefühl gehabt hatte, eine riesige Zange hätte ihn in ihrem Griff und bewegte ihn genau dorthin, wo sie ihn hinhaben wollte. »Und so kam es, dass ich in dem Moment, in dem ich durch die Tür des Hotels marschierte, von allen Seiten angegriffen wurde«, beendete er seine Schilderung der Ereignisse. »Ich weiß wirklich nicht, wer von den Vampiren mich verwandelt hat oder ob es vielleicht alle zusammen waren.«

Der Inquisitor kicherte in sich hinein. »Oje, oje. Das ist aber gar nicht gut. Wie äußerst unangenehm.«

»Das habe ich genauso empfunden«, pflichtete Simon ihm bei.

»Da wird der Rat aber gar nicht erfreut sein.«

»Wieso?«, fragte Simon verblüfft. »Was geht es den Rat an, wie ich in einen Vampir verwandelt wurde?«

»Nun ja, es wäre eine Sache, wenn man dich angefallen hätte«, erläuterte Aldertree entschuldigend. »Aber du bist schließlich einfach dorthinein spaziert und hast dich … äh, den Vampiren überlassen, sozusagen. Es hat ein wenig den Anschein, als hättest du einer von ihnen werden wollen.« 

»Aber ich wollte kein Vampir werden! Deswegen bin ich nicht in das Hotel gegangen!«

»Sicher, sicher.« Aldertrees Stimme klang besänftigend. »Lass uns einfach das Thema wechseln, einverstanden?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr er einfach fort: »Wie kommt es, dass die Vampire dich haben leben lassen, sodass du zu einem neuen Nachtkind erwachen konntest, mein junger Freund? Wenn man bedenkt, dass du in ihr Territorium eingedrungen bist, sollte man meinen, sie hätten sich wie sonst üblich an dir satt getrunken und dann deinen Leichnam verbrannt, um deine Erweckung zu verhindern.«

Simon öffnete den Mund zu einer Antwort; er wollte dem Inquisitor erzählen, dass Raphael ihn zum Institut gebracht hatte und dass Clary, Jace und Isabelle ihn zum Friedhof transportiert und über ihn gewacht hatten, als er sich den Weg aus dem eigenen Grab herausgeschaufelt hatte. Doch dann zögerte er. Zwar hatte er nur eine vage Vorstellung von den Gesetzen des Rats, aber irgendwie kamen ihm Zweifel, dass es zur Standardvorgehensweise der Schattenjäger zählte, der Erweckung eines Vampirs beizuwohnen oder ihm gar Blut für seine erste Mahlzeit zur Verfügung zu stellen. »Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Ich habe keine Ahnung, warum sie mich verwandelt haben, statt mich zu töten.«

»Aber einer von ihnen muss doch zugelassen haben, dass du von seinem Blut getrunken hast, denn sonst wärst du schließlich nicht … nun ja, du wärst nicht der, der du heute bist. Willst du mir etwa sagen, dass du nicht weißt, wer dein Vampir-Ahnherr war?«

Mein Vampir-Ahnherr? Auf diese Weise hatte Simon es noch nie betrachtet - er hatte Raphaels Blut eher zufällig in den Mund bekommen. Außerdem fiel es ihm schwer, sich den Vampirjungen als irgendeinen Ahnherren vorzustellen: Raphael sah doch viel jünger aus als er selbst. »Ich fürchte, da haben Sie recht.« 

»Oje.« Der Inquisitor seufzte. »Höchst bedauerlich.«

»Was ist bedauerlich?«

»Nun ja, dass du mich anlügst, mein Junge. «Aldertree schüttelte den Kopf. »Und ich hatte so sehr gehofft, du würdest kooperieren. Das ist schrecklich, einfach schrecklich. Du würdest es nicht vielleicht doch in Erwähnung ziehen, mir die Wahrheit zu sagen? Nur als kleine Gefälligkeit?« 

»Aber ich sage doch die Wahrheit!«

Wie eine vertrocknende Blüte ließ der Inquisitor den Kopf hängen. »Ein Jammer.« Er seufzte erneut. »Wirklich ein Jammer.« Dann durchquerte er kopfschüttelnd den Raum und klopfte laut an eine Seitentür. 

»Was ist los?« In Simons Stimme schwang eine Mischung aus Sorge und Verwirrung mit. »Was ist mit dem Portal?«

»Das Portal?« Aldertree kicherte. »Du hast doch nicht ernsthaft geglaubt, ich würde dich gehen lassen, oder?«

Ehe Simon antworten konnte, flog die Tür auf und mehrere Schattenjäger in schwarzer Kampfmontur stürmten in den Raum und ergriffen ihn. Simon versuchte, sich zu wehren, doch kräftige Hände legten sich um seine Arme und hielten ihn eisern fest. Dann stülpte ihm jemand eine Kapuze über den Kopf, sodass er nichts mehr sehen konnte. Wütend trat er in der Dunkelheit um sich; sein Fuß traf auf einen Widerstand und er hörte, wie jemand fluchte.

Im nächsten Moment wurde er brutal zurückgerissen und eine heiße Stimme zischte ihm ins Ohr: »Mach das noch mal, Vampir, und ich gieß dir Weihwasser in die Kehle, bis du Blut spuckst und daran krepierst.«

»Genug!« Die dünne, kummervolle Stimme des Inquisitors nahm schlagartig an Volumen und Lautstärke zu. »Ich dulde keine weiteren Drohungen! Ich versuche lediglich, unserem jungen Gast eine Lektion zu erteilen.« Offenbar war er einen Schritt näher herangetreten, denn Simon nahm durch die Kapuze hindurch erneut den seltsamen, bitteren Geruch wahr. »Simon, Simon«, flötete Aldertree nun wieder. »Ich habe unser Gespräch wirklich genossen. Und ich hoffe, dass eine Nacht in den Zellen der Garnison den gewünschten Effekt hat und du morgen früh ein wenig kooperativer sein wirst. Denn ich sehe für uns noch immer eine strahlende Zukunft voraus … wenn wir erst einmal über dieses kleine Problem hinweggekommen sind.« Seine Hand legte sich schwer auf Simons Schulter. »Bringt ihn nach unten, Nephilim.« 

Empört schrie Simon auf, doch seine Proteste wurden von der Kapuze gedämpft. Die Schattenjäger schleiften ihn aus dem Raum und durch eine scheinbar endlose Folge von Gängen, die sich labyrinthartig durch das Gebäude zu erstrecken schienen. Schließlich erreichten sie eine Treppe und Simon spürte, wie er Stufe für Stufe nach unten gezwungen wurde, während seine Füße verzweifelt nach Halt suchten. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden; er nahm lediglich einen dumpfen, muffigen Geruch um sich herum wahr, wie von feuchtem Gemäuer, und merkte, dass die Luft mit jedem Schritt kälter und klammer wurde.

Endlich blieben sie stehen. Dann ertönte ein knirschendes Geräusch, wie von Eisen auf Stein, und einen Augenblick später erhielt Simon einen heftigen Stoß, sodass er nach vorne stürzte und auf Händen und Knien auf dem harten Boden landete. Gleichzeitig erklang ein lautes, metallisches Klirren, als fiele hinter ihm eine Tür ins Schloss, gefolgt vom hallenden Klacken schwerer Stiefel, die sich eilig entfernten. Wütend rappelte Simon sich auf, riss sich die Kapuze vom Kopf und warf sie zu Boden. Das Gefühl der heißen, erstickenden Enge ließ schlagartig nach und er unterdrückte den Drang, nach Luft zu schnappen -Luft, die er nicht mehr benötigte. Er wusste, dass es sich nur um einen Reflex handelte, aber seine Brust schmerzte, als hätte man ihm tatsächlich den Atem abgeschnürt.

Langsam sah er sich um: Er befand sich in einem quadratischen, kahlen Raum mit nackten Steinmauern und einem einzelnen vergitterten Fenster in der Wand über einer schmalen, unbequem aussehenden Pritsche. Hinter einem niedrigen Türdurchgang entdeckte er ein winziges Bad mit Waschbecken und Toilette. Auch die nach Westen ausgerichtete Wand der Zelle war vergittert - massive, eisenartige Stäbe erstreckten sich vom Boden bis zur Decke und die Gittertür war mit einem Messingknauf ausgestattet, auf dem eine tiefschwarze Rune prangte. Als Simon genauer hinsah, stellte er fest, dass sämtliche Gitterstäbe mit diesen geheimen Zeichen versehen waren; selbst die Fenstereisen trugen ein spinnwebartiges Runendekor.

Obwohl Simon wusste, dass die Zellentür verschlossen sein musste, konnte er nicht anders, als schnurstracks darauf zuzumarschieren und nach dem Türknauf zu greifen. Doch als er ihn berührte, schoss ein brennender Schmerz durch seine Hand. Er schrie auf und riss den Arm zurück. Dünne weiße Rauchfahnen stiegen von seiner versengten Handfläche auf-ein kompliziertes Muster hatte sich in seine Haut gebrannt. Es erinnerte an einen Davidstern in einem Kreis, mit feinen Runen in jeder freien Fläche zwischen den Linien.

Der sengende Schmerz kroch ihm fieberheiß den Arm hinauf und Simon krümmte die Finger und schnappte keuchend nach Luft. »Was zum Teufel ist das?«, flüsterte er, obwohl er wusste, dass ihn niemand hören konnte.

»Das ist das >Siegel des Salomo<«, sagte plötzlich eine Stimme. »Es soll einen der wahren Namen Gottes enthalten. Außerdem vertreibt es Dämonen - sowie deinesgleichen, da es sich um einen Artikel deines Glaubens handelt.«

Ruckartig richtete Simon sich auf und vergaß fast den Schmerz in seiner Hand. »Wer ist da? Wer spricht da?«

Es entstand eine lange Stille, doch schließlich fuhr die leicht heisere Stimme fort: »Ich bin in der Zelle neben dir, Tageslichtler.« Simon erkannte, dass es sich um einen Mann handeln musste. »Die Wachen haben den halben Tag hier unten verbracht und darüber diskutiert, wie man dich am besten einsperren könne. Also würde ich an deiner Stelle besser nicht versuchen, die Zellentür zu öffnen. Spar dir lieber deine Kräfte, bis du herausgefunden hast, was der Rat von dir will.«

»Die können mich doch nicht einfach hier festhalten«, protestierte Simon. »Ich gehöre nicht in diese Welt. Meine Familie wird mich vermissen, in der Schule wird mein Fehlen auffallen …«

»Darum hat man sich längst gekümmert. Die dafür erforderlichen Zaubersprüche sind denkbar einfach - jeder Hexenmeisterneuling könnte sie anwenden. Deine Eltern werden in der Illusion leben, dass es einen vollkommen plausiblen Grund für deine Abwesenheit gibt. Ein Schulausflug. Ein Besuch bei den Verwandten. Such dir was aus.« In der Stimme schwangen weder Bedrohung noch Bedauern mit - sie klang einfach nur nüchtern und sachlich. »Oder hast du geglaubt, es wäre das erste Mal, dass sie einen Schattenweltler unbemerkt von der Bildfläche verschwinden lassen?«

»Wer sind Sie?«, fragte Simon mit brechender Stimme. »Sind Sie auch ein Schattenweltler? Ist das der Ort, wo sie Wesen wie uns festhalten?«

Doch dieses Mal erhielt er keine Antwort. Er wiederholte seine Frage, aber sein Zellennachbar hatte offensichtlich beschlossen, nicht mehr zu reagieren. Simons Rufe verhallten in der Dunkelheit.

Inzwischen hatte der Schmerz in seiner Hand nachgelassen. Ein Blick auf seine Handinnenfläche verriet ihm, dass die Haut zwar nicht länger verbrannt war, das Mal des Siegels ihm aber entgegenleuchtete, als wäre es mit schwarzer Tinte aufgetragen worden. Erneut betrachtete er die Gitterstäbe und erkannte nun, dass es sich bei den Zeichen und Symbolen nicht ausschließlich um Runen handelte: Dazwischen hatte jemand Davidsterne und hebräische Schriftzeilen aus der Thora in das Metall geritzt, die ziemlich neu wirkten.

Die Wachen haben den halben Tag hier unten verbracht und darüber diskutiert, wie man dich am besten einsperren könne, hatte die Stimme gesagt. 

Aber das hatte nicht nur daran gelegen, dass er ein sogenannter Vampir war, sondern auch daran, dass er Jude war. Offenbar hatte es die Wachen den halben Tag gekostet, das Siegel des Salomo in den Türknauf zu treiben, damit es ihn versengte, sobald er es berührte. So lange hatten sie dafür gebraucht, die Artikel seines Glaubens gegen ihn zu kehren.

Diese Erkenntnis raubte Simon aus irgendeinem Grund den letzten Rest an Selbstbeherrschung. Mutlos ließ er sich auf die Pritsche sinken und stützte den Kopf in die Hände.

Die Princewater Street lag dunkel vor Alec, als er von der Garnison zurückkehrte. Sämtliche Fenster der umliegenden Häuser waren mit schweren Holzläden verschlossen und nur hin und wieder warf eine Straßenlaterne einen Lichtkegel weißen Elbenlichts auf das Kopfsteinpflaster. Lediglich das Haus der Familie Penhallow war hell erleuchtet: Kerzen brannten in den Fenstern und die Haustür stand einen Spalt offen, sodass ein gelber Lichtstrahl hinaus auf den Gehweg fiel. 

Jace saß auf der niedrigen Steinmauer, die den Vorgarten der Penhallows umzäumte; seine blonden Haare schimmerten hell im Schein der nahe gelegenen Straßenlaterne. Als Alec näher kam, schaute er auf und zitterte ein wenig. Alec sah, dass sein Freund nur eine dünne Jacke trug, obwohl es seit Sonnenuntergang ziemlich kalt geworden war. In der eisigen Luft hing wie ein hauchzartes Parfüm der Duft der letzten, verblühenden Rosen.

Alec ließ sich auf die Mauer neben Jace sinken. »Hast du die ganze Zeit hier draußen auf mich gewartet?«

»Wer sagt, dass ich auf dich gewartet habe?«

»Es ist alles reibungslos verlaufen, falls du dir deswegen Sorgen gemacht haben solltest. Ich habe Simon beim Inquisitor zurückgelassen.«

»Du hast ihn zurückgelassen? Du hast nicht gewartet, um sicherzugehen, dass alles glattgeht?« 

»Es ist alles reibungslos verlaufen«, wiederholte Alec. »Der Inquisitor meinte, er würde Simon persönlich in die Garnison bringen und zurückschicken nach …»

»Der Inquisitor meinte, der Inquisitor meinte«, unterbrach Jace. »Die letzte Person, die auf diesem Posten saß, hat ihre Kompetenzen bei Weitem überschritten. Wenn sie nicht gestorben wäre, hätte der Rat sie wahrscheinlich ihres Amtes enthoben und möglicherweise sogar mit einem Bann belegt. Wer sagt dir, dass dieser Inquisitor nicht ebenso durchgeknallt ist?«

»Er schien ganz in Ordnung zu sein«, erklärte Alec. »Eigentlich sogar ganz nett. Und Simon gegenüber war er total höflich. Hör zu, Jace - so funktioniert der Rat nun mal. Wir haben nicht die Möglichkeit, jedes Ereignis zu steuern. Du musst ihnen einfach vertrauen, denn sonst verwandelt sich alles in ein Chaos.«

»Und du musst zugeben, dass der Rat in letzter Zeit ziemlich viel verbockt hat.«

»Ja, vielleicht«, räumte Alec ein. »Aber wenn du glaubst, du wüsstest es besser als der Rat und besser als das Gesetz, was unterscheidet dich dann noch von der letzten Inquisitorin? Oder von Valentin?«

Jace zuckte zusammen. Er zog ein Gesicht, als hätte Alec ihn geschlagen.

Alecs Magen verkrampfte sich. »Tut mir leid.« Zögernd streckte er eine Hand nach Jace aus. »Das hab ich nicht so gemeint …«

Plötzlich fiel ein leuchtend gelber Lichtstrahl auf den Garten. Als Alec aufschaute, entdeckte er Isabelle, die in der Eingangstür stand. Obwohl sie in dem hellen Schein nur als Silhouette zu erkennen war, konnte er an ihren in die Hüfte gestemmten Händen ablesen, dass sie verärgert war. »Was zum Teufel macht ihr zwei hier draußen?«, rief sie. »Wir haben uns schon gefragt, wo ihr steckt.«

Alec wandte sich wieder seinem Freund zu: »Jace …«

Doch Jace ignorierte Alecs ausgestreckte Hand und stand auf. »Ich hoffe für dich, dass du mit dem Rat recht behältst«, sagte er nur.

Schweigend sah Alec Jace hinterher, der verdrossen ins Haus zurückstolzierte. Plötzlich musste er an Simons Worte denken: Inzwischen frage ich mich, wie man nach so einem Bekenntnis wieder zur Normalität zurückkehren soll. Und ob wir jemals wieder Freunde sein können oder ob unsere Freundschaft zerbrochen ist. Nicht ihretwegen, sondern meinetwegen. 

Als die Haustür ins Schloss fiel, blieb Alec allein im schwach beleuchteten Vorgarten zurück. Einen Moment lang schloss er die Augen und hinter seinen Lidern begann sich ein Bildnis abzuzeichnen - doch ausnahmsweise war es einmal nicht Jace’ Gesicht. Die Augen in dem Antlitz schimmerten grün, mit katzenartigen Pupillen.

Seufzend griff er in seine Tasche und holte einen Stift und ein Blatt Papier hervor, das er zuvor aus dem Spiralblock gerissen hatte, den er als Tagebuch nutzte. Entschlossen schrieb er ein paar Worte auf das Papier und zeichnete mit seiner Stele eine Feuerrune an den unteren Rand der Seite. Das Papier ging schneller in Flammen auf, als Alec erwartet hatte. Hastig ließ er es los, worauf es wie ein Glühwürmchen durch die Nachtluft segelte. Sekunden später blieb nur noch eine feine Aschewolke zurück, die sich wie weißes Pulver auf die Rosensträucher legte.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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