12

DE PROFUNDIS

 

Simons Hände waren schwarz vor Blut.

Er hatte versucht, zuerst die Gitterstäbe vor dem Fenster und dann die Zellentür aus ihrer Verankerung zu reißen, doch jede längere Berührung mit dem Metall brannte ihm blutige Blasen in die Handflächen. Nach vielen vergeblichen Bemühungen brach er keuchend auf dem Boden zusammen und starrte wie betäubt auf seine Finger, während die Blessuren wie in einem Video auf schnellem Vorlauf prompt verheilten und die verkohlte Haut sich in Fetzen löste und abfiel.

Auf der anderen Seite der Zellenwand hörte er Samuel, der laut betete: »Wenn Unglück, Schwert des Gerichts, Pestilenz oder Hungersnot über uns kommt und wir vor diesem Hause und vor dir stehen (da dein Name in diesem Hause wohnt) und wir in unsrer Not zu dir schreien, so wollest du hören und helfen!« 

Simon wusste, dass er nicht beten konnte; er hatte es mehrfach versucht, doch der Name Gottes hatte ihm den Mund versengt und ihm die Kehle zugeschnürt. Er fragte sich, warum er die Worte denken, aber nicht aussprechen konnte. Und warum er unbeschadet in der Mittagssonne stehen, aber nicht sein letztes Gebet sprechen konnte.

Inzwischen zog dichter Rauch wie ein zielstrebiges Gespenst durch den Korridor des Zellentrakts. Simon konnte den Brandgeruch wahrnehmen und das Prasseln und Knacken des Feuers, das sich immer weiter ausbreitete, doch er blieb seltsam unberührt davon, distanziert und losgelöst von seiner Umgebung. Irgendwie erschien es ihm merkwürdig, dass er einerseits zum Vampir geworden war und damit etwas erhalten hatte, das man nicht anders als das ewige Leben beschreiben konnte, andererseits aber jetzt trotzdem sterben sollte, im Alter von gerade mal sechzehn Jahren. 

»Simon!« Die Stimme klang weit entfernt, doch sein Vampirgehör hatte sie über das Tosen der wütenden Flammen aufgeschnappt. Der Rauch im Korridor war nur ein Vorbote der Hitzewelle gewesen, die ihm nun wie eine massive Wand entgegenschlug. »Simon!«

Das war Clarys Stimme - er würde sie unter Tausenden wiedererkennen. Allmählich fragte er sich, ob ihm sein Gehirn ihre Stimme vielleicht vorgaukelte, eine letzte Erinnerung an den Menschen, den er während seines kurzen Lebens am meisten geliebt hatte, um ihn durch sein Sterben zu begleiten.

»Simon, du Idiot! Ich bin hier drüben! Am Fenster!«

Ruckartig sprang Simon auf die Beine, denn er bezweifelte, dass sein Verstand ihm diese Worte vorgegaukelt hatte. Durch den immer dichter werdenden Qualm sah er, wie sich vor dem Zellenfenster etwas Weißes hin und her bewegte. Als er näher kam, entpuppten sich die weißen Objekte als zwei Hände, die die Gitterstäbe umklammerten. Mit einem Satz sprang er auf die Pritsche und schrie über das Tosen des Feuers: »Clary?« 

»Gott sei Dank!« Eine der Hände griff durch das Gitter und drückte seine Schulter. »Wir… wir holen dich hier raus.«

»Und wie?«, fragte Simon, nicht ungerechtfertigterweise, doch im nächsten Moment hörte er ein Rascheln, Clarys Hände verschwanden und an ihrer Stelle tauchten andere Hände auf - größere, zweifellos maskuline Hände, mit vernarbten Knöcheln und langen, dünnen Pianistenfingern. 

»Warte.« Jace’ Stimme klang ruhig und selbstsicher, als würden sie sich während einer Party unterhalten statt durch die Gitterstäbe eines lichterloh brennenden Verlieses. »Vielleicht solltest du besser einen Schritt zurücktreten.«

Widerspruchslos folgte Simon der Aufforderung und ging beiseite. Jace’ Hände schlossen sich so fest um die Eisenstäbe, dass seine Fingerknöchel beunruhigend weiß hervortraten. Dann ertönte ein ächzendes Krachen, das Gitter brach als Ganzes aus dem Mauerwerk heraus und stürzte neben der Pritsche auf den Zellenboden. Gesteinsstaub prasselte in einer dichten weißen Wolke auf Simon herab.

Sofort darauf erschien Jace’ Gesicht im leeren Fensterrahmen. »Simon. Komm schon!«, drängte er und hielt ihm die Hände entgegen.

Simon reckte die Arme und bekam Jace’ Finger zu fassen. Dann spürte er, wie er hinaufgehievt wurde, und als er die Fensterkante erreichte, stemmte er sich hoch und schlängelte sich durch die schmale Öffnung wie eine Schlange in einem Tunnel. Eine Sekunde später lag er lang ausgestreckt auf dem feuchten Gras und starrte in einen Kreis besorgter Gesichter, die auf ihn hinabblickten: Jace, Clary und Alec.

»Du siehst echt übel aus, Vampir«, bemerkte Jace. »Was ist mit deinen Händen passiert?«

Simon setzte sich auf. Die Verletzungen an seinen Fingern waren verheilt, aber die Haut war noch immer schwarz an den Stellen, wo er das Gitter umklammert hatte. Doch ehe er etwas erwidern konnte, zog Clary ihn plötzlich an sich und umarmte ihn fest. 

»Simon«, flüsterte sie. »Ich kann es noch immer nicht fassen. Ich wusste ja nicht einmal, dass du überhaupt hier bist. Bis letzte Nacht hab ich gedacht, du wärst noch in New York…«

»Na ja, ich wusste ja auch nicht, dass du hier bist«, erwiderte Simon und warf Jace einen Blick über die Schulter zu. »Genau genommen, hat man mir ausdrücklich gesagt, du wärst nicht in Idris.« 

»Das habe ich nie gesagt«, stellte Jace richtig. »Ich habe dich lediglich nicht korrigiert, als du eine … eine falsche Vermutung geäußert hast. Na, jedenfalls habe ich dich gerade davor bewahrt, bei lebendigem Leibe zu verbrennen, daher schätze ich mal, dass du nicht das Recht hast, sauer zu sein.«

Bei lebendigem Leibe zu verbrennen. Simon löste sich von Clary und schaute sich um. Sie befanden sich in einem quadratisch angelegten Garten, der auf zwei Seiten von Festungsmauern umgeben war und an den beiden anderen Seiten von dichten Baumreihen. Zwischen den Bäumen führte ein Kiesweg den Hügel hinunter in die Stadt; der Pfad war gesäumt von Elbenlichtfackeln, von denen jedoch nur wenige brannten und ein spärliches, gedämpftes Licht verströmten. Simon schaute zur Garnison hoch. Aus dieser Perspektive konnte man kaum erkennen, dass in ihrem Inneren ein Brand tobte - zwar verdunkelten schwarze Rauchwolken den Sternenhimmel über der Festung und das Licht, das aus manchen Fenstern fiel, schien unnatürlich hell, doch die Steinmauern hüteten ihr Geheimnis gut. 

»Samuel«, stieß Simon plötzlich hervor. »Wir müssen Samuel da rausholen.«

Clary musterte ihn verblüfft. »Wen?«

»Ich war nicht der einzige Gefangene. Samuel … er saß in der Nachbarzelle.«

»Der Haufen Lumpen, den ich durch das Fenster gesehen habe?«, fragte Jace ungläubig.

»Ja. Er ist irgendwie ein komischer Kauz, aber kein übler Kerl. Wir können ihn unmöglich dort unten lassen.« Simon rappelte sich auf. »Samuel? Samuel!«

Doch er erhielt keine Antwort. Sofort rannte Simon zu dem niedrigen, vergitterten Fenster neben der Maueröffnung, aus der er gerade herausgekrochen war. Durch die Gitterstäbe konnte er nur wogenden Qualm sehen. »Samuel! Bist du da drin?«

Irgendetwas bewegte sich innerhalb der Rauchschwaden - etwas Gekrümmtes, Dunkles. Dann ertönte Samuels vom Qualm heisere Stimme: »Lass mich in Ruhe! Verschwinde!«

»Samuel! Du wirst da unten sterben.« Simon riss an den Gitterstäben. Doch nichts geschah.

»Nein! Lass mich in Ruhe! Ich will hierbleiben!«

Verzweifelt sah Simon sich um und entdeckte Jace, der bereits neben ihm hockte. »Mach Platz!«, befahl Jace, und als Simon sich zur Seite lehnte, trat er mit Wucht gegen das Gitter. Mit einem lauten Krachen brachen die Stäbe aus dem Mauerwerk und stürzten in Samuels Zelle. Im nächsten Moment stieß Samuel ein heiseres Röcheln aus.

»Samuel! Alles in Ordnung?« Vor Simons innerem Auge zeichnete sich die Horrorvorstellung ab, dass Samuel von den fallenden Stäben erschlagen worden war.

Aber dann steigerte sich Samuels Stimme zu einem Kreischen: »VERSCHWINDE!«

Simon warf Jace einen Blick zu. »Ich glaube, er meint es ernst.«

Genervt schüttelte Jace den Kopf. »Du musstest dich ja unbedingt mit einem verrückten Knastbruder anfreunden, oder? Warum konntest du nicht einfach die Deckenfliesen zählen oder eine Maus zähmen, wie jeder andere normale Häftling?« Dann ließ er sich - ohne Simons Antwort abzuwarten - auf den Boden und kroch durch das Fenster.

»Jace!«, quietschte Clary und rannte zusammen mit Alec zu ihm, doch Jace war bereits durch die Maueröffnung verschwunden. Clary warf Simon einen wütenden Blick zu. »Wie konntest du das zulassen?«

»Na ja, Jace kann den Kerl da unten ja nicht einfach krepieren lassen«, kam Alec Simon unerwarteterweise zu Hilfe, obwohl er selbst auch wenig beunruhigt wirkte. »Wir reden hier schließlich von Jace …«

Er verstummte, als zwei Hände aus dem Rauch auftauchten. Alec packte die eine Hand, Simon die andere und gemeinsam hievten sie Samuel wie einen schlaffen Sack Kartoffeln aus der Zelle und legten ihn auf den Rasen. Einen Moment später griffen Simon und Clary nach Jace’ Händen und zogen ihn nach oben, obwohl er deutlich weniger schlaff war und wütend fluchte, als sie ihn beim Rausziehen versehentlich mit dem Kopf gegen den oberen Fensterrahmen stoßen ließen. Er schüttelte sie ab, kraxelte das letzte Stück selbst hinaus und ließ sich rückwärts ins Gras fallen. »Au«, stieß er hervor, während er in den Himmel hinaufsah. »Ich glaub, ich hab mir was gezerrt.« Dann setzte er sich auf und schaute zu Samuel. »Alles in Ordnung mit ihm?« 

Samuel kauerte zusammengekrümmt auf dem Boden, die Hände vors Gesicht geschlagen, und schaukelte lautlos vor und zurück.

»Ich glaube, irgendetwas stimmt nicht mit ihm«, sagte Alec, beugte sich vor und berührte Samuel an der Schulter. Augenblicklich zuckte Samuel so heftig zurück, dass er fast hintenüberfiel.

»Lass mich in Ruhe«, stammelte er mit brechender Stimme. »Bitte. Bitte, lass mich in Ruhe, Alec.«

Alec erstarrte. »Was hast du gerade gesagt?«

»Er hat gesagt, du sollst ihn in Ruhe lassen«, mischte Simon sich ein, doch Alec schenkte ihm keine Beachtung - er schien nicht einmal wahrzunehmen, dass Simon etwas gesagt hatte. Stattdessen schaute er zu Jace hinüber, der plötzlich bleich geworden war und sich bereits aufrappelte.

»Samuel«, sagte Alec, in seltsam harschen Ton. »Nimm die Hände vom Gesicht.«

»Nein.« Samuel drückte das Kinn noch fester auf die Brust; seine Schultern bebten. »Nein, bitte. Nein.«

»Alec!«, protestierte Simon. »Siehst du denn nicht, dass es ihm nicht gut geht?«

Clary packte Simon am Ärmel. »Simon, irgendetwas stimmt hier nicht.«

Ihre Augen waren auf Jace geheftet - waren sie das nicht immer? -, während er sich zu der gekrümmten Gestalt hinabbeugte. Jace’ Fingerspitzen schimmerten blutig, da er sich an den scharfen Metallresten des Fensterrahmens geschnitten hatte, und als er sich nun die Haare aus den Augen strich, hinterließen sie blutige Streifen auf seinen Wangen. Doch das schien er gar nicht zu bemerken. Seine Lippen waren zu einem dünnen, harten Strich zusammengepresst. »Schattenjäger«, sagte er mit unerbittlicher klarer Stimme, »zeig uns dein Gesicht.« 

Samuel zögerte noch einen Moment und ließ dann langsam die Hände sinken. Simon hatte die Züge seines Zellennachbarn nie gesehen und es war ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Samuel verhärmt oder alt aussehen könnte. Aber sein Gesicht war zur Hälfte mit einem struppigen grauen Bart bedeckt; seine Augen lagen tief in den Höhlen und seine Wangen wirkten stark gefurcht. Trotz allem erschien er Simon seltsam vertraut.

Alecs Lippen bewegten sich, doch er brachte keinen Ton hervor. Es war Jace, der als Erster seine Stimme wiederfand.

»Hodge«, sagte er nur. 

 

»Hodge?«, wiederholte Simon verwirrt. »Aber das kann nicht sein. Hodge war doch … Nein, Samuel kann unmöglich …«

»Das ist genau das, was Hodge anscheinend immer macht«, erwiderte Alec bitter. »Er lässt dich glauben, er wäre jemand anderes.«

»Aber er hat doch gesagt…«, setzte Simon an, doch Clary verstärkte ihren Griff um seinen Arm und die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Der Ausdruck auf Hodges Gesicht verriet alles: zwar kein Schuldgefühl und auch kein Entsetzen darüber, dass seine Tarnung aufgeflogen war, aber ein abgrundtiefer Kummer, der sich nur schwer mit ansehen ließ.

»Jace«, sagte Hodge sehr leise. »Alec … es tut mir so leid.«

Im nächsten Moment bewegte Jace sich so geschmeidig wie im Kampf, wie Sonnenlicht auf einer Wasseroberfläche: Im Bruchteil einer Sekunde stand er vor Hodge, mit gezücktem Messer, dessen scharfe Spitze auf die Kehle seines alten Lehrers zielte. Der Widerschein des Feuers tanzte über die Klinge. »Spar dir deine Entschuldigungen. Ich will einen vernünftigen Grund hören, warum ich dich nicht töten sollte, jetzt und hier, an Ort und Stelle.«

»Jace.« Alec musterte ihn beunruhigt. »Jace, warte.«

Plötzlich ertönte ein lautes Grollen, als Teile des Garnisonsdaches in Flammen aufgingen. Die Hitze ließ die Luft schimmern und den Nachthimmel orange aufleuchten. Clary konnte jeden einzelnen Grashalm auf dem Rasen und jede Falte in Hodges hagerem, schmutzigem Gesicht erkennen.

»Nein«, erwiderte Jace. Die ausdruckslose Miene, mit der er auf Hodge hinabblickte, erinnerte Clary an ein anderes, maskenhaftes Gesicht - an das von Valentin. »Du hast gewusst, was mein Vater mit mir gemacht hat, stimmt’s? Du hast all seine schmutzigen Geheimnisse gekannt!«, herrschte Jace Hodge an.

Alec schaute verständnislos von Jace zu seinem alten Lehrer und wieder zurück. »Wovon redest du? Was ist hier los?«

Hodge verzog das Gesicht. »Jonathan …«

»Du hast es die ganze Zeit gewusst und nie auch nur einen Ton gesagt. Während all dieser Jahre im Institut hast du geschwiegen.«

Hodge ließ das Kinn sinken. »Ich … ich war mir nicht sicher«, flüsterte er. »Wenn man ein Kind seit dem Säuglingsalter nicht mehr gesehen hat… ich war mir nicht sicher, wer du warst, und schon gar nicht, was du warst.«

»Jace?« Alecs bestürzter Blick wanderte noch immer zwischen seinem besten Freund und seinem Lehrer hin und her, aber keiner der beiden schenkte ihm auch nur einen Funken Beachtung.

Hodge wirkte wie ein Mann in einem Schraubstock, der immer fester zugedreht wurde: Seine Hände zitterten wie vor Schmerzen und seine Augen zuckten hin und her. Clary dachte an den gepflegt gekleideten Mann in seiner mit hohen Bücherregalen gesäumten Bibliothek, der Mann, der ihr Tee und freundliche Ratschläge angeboten hatte… Das Ganze schien Tausende von Jahren zurückzuliegen.

»Ich glaube dir nicht«, stieß Jace hervor. »Du hast gewusst, dass Valentin nicht tot war. Er muss es dir doch erzählt haben …«

»Valentin hat mir gar nichts erzählt«, keuchte Hodge. »Als die Lightwoods mir mitteilten, dass sie Michael Waylands Sohn aufnehmen würden, hatte ich seit dem Aufstand nichts mehr von Valentin gehört. Ich dachte, er hätte mich vergessen. Und ich betete sogar, dass er tot sei, aber ich war mir eben nie sicher. Und dann, in der Nacht vor deiner Ankunft in New York, tauchte plötzlich Hugo mit einer Nachricht von Valentin auf. >Der Junge ist mein Sohn.< Das war alles, was auf dem Zettel stand.« Hodge holte kurzatmig Luft. »Ich wusste nicht, ob ich ihm glauben sollte. Und ich dachte, ich würde es wissen … ich würde es in dem Moment wissen, in dem ich dich zu Gesicht bekäme. Aber da war nichts, absolut nichts, was mir Gewissheit verschafft hätte. Daraufhin nahm ich an, dass es sich vielleicht um einen von Valentins Tricks handelte. Doch was sollte dieser Trick bewirken? Was versuchte er damit zu erreichen? Du hattest nicht den blassesten Schimmer, das war mir sofort klar, aber worauf zielte Valentin ab …« 

»Du hättest mir sagen müssen, was ich bin«, stieß Jace in einem Atemzug hervor, als hätte man die Worte aus ihm herausgeprügelt. »Damals hätte ich noch etwas dagegen unternehmen können. Mich vielleicht umbringen.« 

Hodge hob den Kopf und schaute durch seine verfilzten Haare zu Jace hoch. »Ich war mir nicht sicher«, wiederholte er leise, fast wie zu sich selbst. »Und jedes Mal, wenn ich Zweifel hatte, ob es nicht vielleicht doch stimmte, hab ich mir überlegt … da habe ich überlegt, ob die Erziehung nicht vielleicht eine größere Rolle spielen könnte als die Abstammung … dass man dir vielleicht beibringen könnte …«

»Was beibringen? Kein Monster zu sein?« Jace’ Stimme zitterte, aber die Hand mit dem Messer war vollkommen ruhig. »Du hättest es besser wissen müssen. Doch er hat einen unterwürfigen Feigling aus dir gemacht, stimmt’s? Dabei warst du kein hilfloses kleines Kind mehr. Du hättest dich widersetzen können.«

Hodge senkte den Blick. »Ich habe mir alle Mühe mit dir gegeben«, murmelte er. Doch selbst in Clarys Ohren klangen seine Worte jämmerlich.

»Bis zu Valentins Rückkehr«, erwiderte Jace, »und dann hast du alles getan, was er verlangt hat: Du hast mich ihm übergeben, als wäre ich ein Hund, der ihm einst gehört hatte und den du ein paar Jahre für ihn gehütet hattest…«

»Und dann bist du verschwunden«, wandte Alec sich an Hodge. »Hast uns alle einfach zurückgelassen. Hast du wirklich geglaubt, dass du dich hier verstecken könntest, hier in Alicante?« 

»Ich bin nicht hierhergekommen, um mich zu verstecken«, sagte Hodge mit tonloser Stimme. »Ich bin gekommen, um Valentin aufzuhalten.«

»Du kannst doch nicht ernsthaft erwarten, dass wir das glauben.« Alec klang nun wütend. »Du hast immer auf Valentins Seite gestanden. Dabei hättest du die Wahl gehabt… du hättest dich gegen ihn entscheiden können …«

»Diese Wahl hatte ich nie!«, fauchte Hodge. »Deine Eltern haben die Chance bekommen, ein neues Leben anzufangen - diese Möglichkeit hat man mir verwehrt! Ich saß fünfzehn Jahre lang im Institut gefangen …«

»Das Institut war unser Zuhause!«, protestierte Alec. »War es wirklich so schlimm, mit uns zu leben - Teil unserer Familie zu sein?«

»Nein, nicht euretwegen.« Hodges Stimme klang rau. »Euch Kinder habe ich geliebt. Aber ihr wart nun mal Kinder. Und ein Ort, den man nie verlassen darf, kann kein echtes Zuhause sein … kein Ort auf der Welt kann das. Manchmal habe ich wochenlang kein einziges Wort mit einem Erwachsenen gewechselt. Keiner der anderen Schattenjäger vertraute mir. Nicht einmal deine Eltern haben mich wirklich gemocht; sie haben mich toleriert, weil ihnen keine andere Wahl blieb. Ich konnte weder heiraten noch jemals eigene Kinder haben … kein eigenes Leben führen. Und irgendwann wärt ihr Kinder erwachsen geworden und aus dem Haus gegangen und dann hätte ich nicht einmal mehr euch gehabt. Ich habe in ständiger Angst gelebt, wenn man das überhaupt als Leben bezeichnen will.« 

»Spar dir deine Versuche, an unser Mitleid zu appellieren - das funktioniert nicht«, sagte Jace. »Nicht nach dem, was du getan hast. Und wovor, zum Teufel, hast du dich denn gefürchtet während all der Jahre in der Bibliothek? Vielleicht vor Hausstaubmilben? Wir waren doch diejenigen, die hinausgegangen sind und gegen Dämonen gekämpft haben!«

»Er hat sich vor Valentin gefürchtet«, wandte Simon ein. »Kapierst du das denn nicht…«

Jace warf ihm einen bösen Blick zu. »Halt die Klappe, Vampir! Das hier geht dich überhaupt nichts an.«

»Nicht direkt vor Valentin«, sagte Hodge und sah Simon zum ersten Mal richtig an. In seinem erschöpften Blick lag etwas, das Clary überraschte - fast so etwas wie Zuneigung. »Ich habe mich vor meiner eigenen Schwäche gefürchtet. Denn ich wusste, Valentin würde eines Tages zurückkehren. Ich wusste, er würde versuchen, die Macht an sich zu reißen und den Rat zu beherrschen. Und ich wusste auch, was er mir bieten konnte. Die Aufhebung meines Fluchs. Freiheit. Ein eigenes Leben. Einen Platz in der Welt. Ich hätte wieder ein Schattenjäger werden können, in Valentins Welt. In dieser Welt hier wäre mir das niemals mehr möglich gewesen.« Eine tiefe Sehnsucht schwang in seiner Stimme mit. »Und ich wusste, dass ich zu schwach sein würde, ihm zu widerstehen, falls er mir ein solches Angebot machen sollte.«

»Und jetzt sieh dir an, was für ein Leben du nun fuhrst«, fauchte Jace. »Gefangen und vergessen in einer Zelle der Garnison. War es das wert? War es das wert, uns zu betrügen?«

»Die Antwort darauf kennst du selbst.« Hodge klang erschöpft. »Valentin hat den Fluch von mir genommen. Er hatte es versprochen und hat sich daran gehalten. Ich dachte, er würde mich wieder im Kreis aufnehmen - oder zumindest in dem, was noch davon übrig war. Aber das hat er nicht getan. Nicht einmal er wollte mich. Und da wusste ich, dass in seiner neuen Welt kein Platz für mich war… und dass ich alles, was ich besessen hatte, für eine Lüge aufgegeben hatte.« Er schaute auf seine zusammengeballten, schmutzigen Hände. »Mir war nur noch eines geblieben - eine einzige Chance, aus meinem Leben etwas anderes zu machen als eine totale Zeitverschwendung. Als ich hörte, dass Valentin die Stillen Brüder getötet hatte … dass er das Schwert der Engel hatte, da wurde mir klar, dass er als Nächstes versuchen würde, den Engelsspiegel an sich zu bringen. Ich wusste, dass er alle drei Insignien der Engel benötigte. Und ich wusste auch, dass sich der Spiegel hier in Idris befindet.«

»Moment mal.« Alec hielt eine Hand hoch. »Der Spiegel der Engel? Du meinst, du weißt, wo er ist? Wer ihn in seinem Besitz hat?«

»Niemand hat ihn in seinem Besitz«, sagte Hodge. »Niemand könnte den Engelsspiegel in seinen Besitz bringen. Kein Nephilim und auch kein Schattenweltler.«

»Du bist da unten wirklich komplett verrückt geworden, stimmt’s?«, warf Jace ein und deutete mit dem Kinn auf die ausgebrannten Fenster des Verlieses.

»Jace.« Clary schaute besorgt zur Garnison hinauf, deren Dach mit einem Netz rotgoldener Flammen überzogen war. »Das Feuer breitet sich immer weiter aus. Wir sollten hier schleunigst verschwinden. Wir können doch auf dem Weg in die Stadt weiterreden…« 

»Fünfzehnjahre war ich im Institut eingesperrt«, fuhr Hodge fort, als hätte Clary überhaupt nichts gesagt. »Nicht einmal einen Fuß konnte ich vor die Tür setzen. Ich habe den ganzen Tag in der Bibliothek verbracht, auf der Suche nach einer Möglichkeit, den Fluch aufzuheben, den der Rat mir auferlegt hatte. Dabei erfuhr ich, dass nur eine der Engelsinsignien den Fluch rückgängig machen konnte. Buch für Buch las ich … alles über die Geschichte und die Legenden, die sich um den Erzengel ranken: wie er aus dem See aufstieg, die Engelsinsignien in den Händen, und wie er sie Jonathan Shadowhunter, dem ersten Nephilim, überreichte und dass es drei Insignien waren: Kelch, Schwert und Spiegel…«

»Das wissen wir alles«, unterbrach Jace ihn verärgert. »Schließlich hast du uns das alles beigebracht.«

»Du glaubst, alles über diese Sagengeschichten zu wissen, aber da irrst du dich. Als ich die verschiedenen Varianten der Überlieferungen studierte, stieß ich immer wieder auf dieselbe Illustration, dieselbe Abbildung … wir kennen sie alle: der Erzengel Raziel, der mit dem Schwert in der einen Hand und dem Kelch in der anderen aus dem See aufsteigt. Und jedes Mal habe ich mich gefragt, warum der Spiegel nicht abgebildet war. Aber dann wurde es mir schlagartig bewusst: Der Spiegel ist der See. Der See ist der Spiegel. Sie sind ein und dasselbe.«

Langsam ließ Jace das Messer sinken. »Der Lyn-See?«, fragte er.

Sofort musste Clary an ihre Begegnung mit dem See denken - die Wasseroberfläche, die sich ihr wie ein Spiegel entgegengehoben hatte und bei ihrem Aufprall in Tausende Stücke zu zerbrechen schien. »Als ich hierhergekommen bin, bin ich in den See gefallen. An diesem See ist tatsächlich irgendetwas merkwürdig. Luke meinte, dass er seltsame Eigenschaften habe und dass die Feenwesen ihn den Spiegel der Träume nennen würden.« 

»Stimmt genau«, bestätigte Hodge eifrig und fuhr dann fort: »Als Nächstes erkannte ich, dass der Rat sich dieser Tatsache nicht bewusst war, dass das Wissen um den See im Laufe der Jahrhunderte verschollen war. Nicht einmal Valentin wusste es …»

Im nächsten Moment wurde er von einem dröhnenden Krachen unterbrochen - der Turm am anderen Ende der Garnison stürzte mit einem ohrenbetäubenden Poltern in sich zusammen und sandte ein Feuerwerk aus roten, glitzernden Funken in den Nachthimmel.

»Jace«, stieß Alec hervor und hob beunruhigt den Kopf. »Jace, wir müssen hier weg. Hoch mit dir«, wandte er sich an Hodge, packte ihn am Arm und zog ihn auf die Beine. »Du kannst das, was du uns gerade gesagt hast, dem Rat erzählen.«

Hodge richtete sich schwankend auf. Wie schrecklich musste es sein, mit dem Wissen zu leben, dass man sich nicht nur für seine vergangenen Taten schämen musste, sondern auch dafür, was man in diesem Moment tat und was man immer wieder tun würde, dachte Clary in einem plötzlichen Anfall von eigentlich unerwünschtem Mitleid. Hodge hatte schon vor langer Zeit jeden Versuch aufgegeben, ein besseres oder anderes Leben zu führen, und war nur von einem Wunsch beseelt gewesen - keine Angst mehr zu haben. Doch das hatte dazu geführt, dass er ständig in Angst gelebt hatte.

»Komm schon.« Alec hielt Hodge noch immer am Arm und stieß ihn vorwärts. Doch Jace war schneller und versperrte ihnen beiden den Weg.

»Wenn Valentin den Engelsspiegel in die Finger bekommt, was passiert dann?«, fragte er.

»Jace«, protestierte Alec, »nicht jetzt…«

»Wenn er es dem Rat erzählt, werden wir es nie erfahren«, entgegnete Jace. »Für die sind wir doch nur Kinder. Aber Hodge schuldet uns die Wahrheit.« Erneut wandte er sich an seinen alten Lehrer. »Du hast gesagt, dir wäre bewusst geworden, dass du Valentin aufhalten müsstest. Wobei aufhalten? Welche Macht verleiht ihm der Spiegel? Was könnte er damit tun?«

Hodge schüttelte den Kopf »Ich kann nicht…«

»Und keine Märchen.« Das Messer an Jace’ Seite glitzerte gefährlich; seine Hand umklammerte das Heft. »Denn für jede Lüge, die du uns auftischst, schneide ich dir einen Finger ab. Oder zwei.«

Hodge wich zurück, echte Angst in den Augen. Bestürzt musterte Alec seinen Freund. »Jace. Nicht. So was wäre typisch für deinen Vater. Aber so bist du nicht.«

»Alec«, setzte Jace an, ohne Alec anzusehen; aber der Ton in seiner Stimme war wie die sanfte Berührung einer Hand, eine Geste des Bedauerns. »Du hast keine Ahnung, wie ich wirklich bin.«

Alecs Blick traf sich mit dem von Clary. Er kann nicht begreifen, warum Jace sich so verhält, dachte sie. Er weiß es nicht. Zögernd ging sie einen Schritt vor. »Jace, Alec hat recht - wir sollten Hodge in die Stadt bringen und dann kann er dem Rat erzählen, was er uns gerade gesagt hat…« 

»Wenn er bereit wäre, mit dem Rat zu reden, hätte er das längst getan«, fauchte Jace, die Augen fest auf Hodge geheftet. »Und die Tatsache, dass er das nicht getan hat, beweist, dass er lügt.«

»Dem Rat ist nicht zu trauen!«, protestierte Hodge verzweifelt. »In seinen Reihen befinden sich Spione … Valentins Männer … Ich konnte den Ratsmitgliedern unmöglich sagen, wo sich der Spiegel befindet. Wenn Valentin den Spiegel fände, dann würde er…«

Doch Hodge sollte seinen Satz nicht mehr beenden: Etwas leuchtend Silbernes blitzte im Mondlicht auf, ein glitzernder Lichtschein in der Dunkelheit. Alec schrie auf, dann riss Hodge die Augen weit auf und taumelte ein paar Schritte zurück, die Hände auf die Brust gedrückt. Als er nach hinten sank, erkannte Clary den Grund: Aus seinem Brustkorb ragte das Heft eines langen Dolches, wie der Schaft eines Pfeils, der sein Ziel getroffen hat.

Alec machte einen Satz nach vorn und fing Hodge auf, als dieser stürzte. Behutsam legte er ihn auf dem Boden ab und schaute hilflos auf. Blutspritzer seines alten Lehrers schimmerten feucht auf seinem Gesicht. »Jace, warum …«

»Das war ich nicht …«Jace’ Gesicht war kreidebleich und Clary sah, dass er das Messer noch immer fest in der Hand hielt. »Ich …«

Sofort wirbelte Simon herum. Clary folgte seinem Beispiel und starrte ebenfalls in die Dunkelheit. Die Feuersbrunst beleuchtete das Gras mit einem infernalischen orangeroten Schein, aber der Bereich zwischen den Bäumen war pechschwarz. Plötzlich tauchte etwas aus der Finsternis hervor, eine schemenhafte männliche Gestalt, mit dunklen, wirren Haaren. Der Junge bewegte sich auf sie zu - der Feuerschein erhellte sein Gesicht und reflektierte sich in den schwarzen Augen, die dadurch aussahen, als würden sie selbst in Flammen stehen.

»Sebastian?«, fragte Clary ungläubig. 

Jace’ Blick wanderte rasch von Hodge zu Sebastian, der unsicher am Rand des Gartens verharrte. »Du …«, setzte er fast benommen an. »Du hast das getan?« 

»Mir blieb keine andere Wahl«, entgegnete Sebastian. »Er hätte dich sonst getötet.«

»Womit denn?« Jace’ Stimme schwoll an. »Er hatte doch noch nicht mal eine Waffe …« 

»Jace!«, unterbrach Alec seinen Freund. »Komm her und hilf mir mit Hodge.«

»Er hätte dich getötet«, wiederholte Sebastian. »Ganz ohne Zweifel hätte er das getan …«

Doch Jace hatte sich bereits neben Alec gekniet und steckte sein Messer in seinen Gürtel. Alec hielt Hodge in den Armen, dessen Blut nun auch das Hemd des jungen Schattenjägers tränkte. »Hol die Stele aus meiner Tasche«, wandte er sich an Jace. »Versuch’s mit einer Heilrune …«

Vor Entsetzen wie gelähmt sah Clary zu, bis sie merkte, dass Simon sich neben ihr bewegte. Als sie sich ihm zudrehte, stellte sie bestürzt fest, dass er weiß wie eine Wand war, bis auf zwei fiebrige rote Flecken auf seinen Wangen. Dünne Adern schimmerten unter seiner Haut hindurch, wie die Zweige einer fein verästelten Koralle. 

»Das Blut«, wisperte er, ohne Clary anzusehen. »Ich muss hier weg.«

Clary streckte die Hand aus, um ihm am Ärmel festzuhalten, aber er wich ruckartig zurück und riss sich von ihr los.

»Nein, lass mich, Clary, bitte. Ich … ich komme gleich zurück … keine Sorge … ich muss nur…«, stammelte Simon und lief los.

Clary versuchte, ihm hinterherzulaufen, doch er war zu schnell für sie und verschwand in der Dunkelheit zwischen den Bäumen.

»Hodge …« Alecs Stimme klang panisch. »Hodge, halt still …«

Doch sein Lehrer zappelte und strampelte und versuchte, sich aus Alecs Griff zu befreien, fort von der Stele in Jace’ Hand. »Nein …«, stieß er mühsam hervor. Sein Gesicht wirkte wächsern und seine Augen zuckten unruhig von Jace zu Sebastian, der noch immer im Halbschatten stand. »Jonathan …«

»Jace«, erwiderte Jace, fast im Flüsterton. »Nenn mich Jace.«

Hodges Blick ruhte nun wieder auf ihm, doch den Ausdruck darin konnte Clary nicht richtig entziffern: Flehentlich, aber vermischt mit etwas anderem… Furcht… und einer Art Bedürfnis. Dann hob er abwehrend die Hand. »Nicht du«, flüsterte er, begleitet von einem Blutschwall, der sich aus seinem Mund ergoss.

Ein gekränkter Ausdruck huschte über Jace’ Gesicht. »Alec, zeichne du die Heilrune - ich glaube, er will nicht, dass ich ihn berühre.«

Hodges Hand krümmte sich klauenartig und er packte Jace am Ärmel. Mit rasselndem Atem brachte er noch ein paar Worte hervor: »Du warst… nie…«

Und dann starb er. Clary konnte genau sagen, wann der letzte Lebenshauch ihn verließ - kein stilles, sofortiges Ableben wie im Film, sondern ein krampfhaftes Ringen: Seine Stimme versagte mit einem Röcheln, dann verdrehte er die Augen und im nächsten Moment erschlafften seine Muskeln, bis sein Arm in einem schiefen Winkel unter seinem kraftlosen, schweren Körper eingeklemmt war.

Behutsam schloss Alec Hodge die Augen. »Vale, Hodge Starkweather.« 

»Das hat er sich nicht verdient.« Sebastians Stimme klang scharf. »Er war kein Schattenjäger, sondern ein Verräter. Den traditionellen Abschiedsgruß verdient er nicht.«

Ruckartig hob Alec den Kopf. Dann legte er Hodge auf dem Boden ab und richtete sich auf. Seine blauen Augen funkelten wie klirrendes Eis. »Du weißt überhaupt nicht, wovon du redest. Du hast gerade einen unbewaffneten Mann getötet, einen Nephilim. Du bist ein Mörder.«

Sebastian verzog spöttisch die Lippen. »Du denkst, ich wüsste nicht, wer das war?«, erwiderte er und deutete auf Hodge. »Starkweather war ein Mitglied des Kreises. Er hat den Rat betrogen und wurde zur Strafe mit einem Fluch belegt. Für das, was er getan hat, hätte er eigentlich sterben müssen, doch die Ratsmitglieder ließen Milde walten. Und was hat es ihnen gebracht? Der Verräter hat uns alle ein weiteres Mal betrogen, als er den Kelch der Engel an Valentin verscherbelte, damit dieser den Fluch von ihm nahm - einen Fluch, mit dem er zu Recht belegt war.« Schwer atmend hielt Sebastian einen Moment inne und fuhr dann fort: »Das, was ich getan habe, hätte ich vielleicht nicht tun sollen, aber ihr könnt nicht behaupten, dass er es nicht verdient hätte.« 

»Woher weißt du so viel über Hodge?«, fragte Clary fordernd. »Und was tust du überhaupt hier? Ich dachte, wir hätten vereinbart, dass du in der Abkommenshalle bleibst.«

Sebastian zögerte. »Ihr habt so lange gebraucht«, sagte er schließlich. »Da habe ich mir Sorgen gemacht. Ich dachte, ihr würdet vielleicht meine Hilfe benötigen.«

»Du hast also beschlossen, uns zu helfen, indem du einen Mann tötest, mit dem wir uns gerade unterhalten haben?«, herrschte Clary ihn an. »Weil du dachtest, er hätte eine dunkle Vergangenheit? Wer … wer tut denn so etwas? Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn.« 

»Das liegt daran, dass er lügt«, bemerkte Jace und warf Sebastian einen kalten, abwägenden Blick zu. »Und das noch nicht mal besonders gut. Ich hätte gedacht, du wärst in der Hinsicht ein wenig cleverer, Verlac.«

Sebastian begegnete seinem Blick mit Gleichmut. »Ich weiß nicht, was du meinst, Morgenstern.«

»Er meint damit…«, setzte Alec an und trat einen Schritt vor, »wenn du das, was du getan hast, wirklich für gerechtfertigt hältst, dann dürfte es dir ja nichts ausmachen, uns zur Abkommenshalle zu begleiten und dich gegenüber der Schattenjägerkongregation zu verantworten. Also, wie sieht’s aus?«

Ein winziger Moment verstrich, ehe Sebastian mit einem Lächeln reagierte - dasselbe Lächeln, das Clary anfangs so bezaubernd gefunden hatte. Doch nun hatte es etwas Schiefes an sich, wie ein Bild, das leicht schräg an der Wand hing.

»Natürlich macht es mir nichts aus«, sagte Sebastian und bewegte sich langsam, fast schlendernd, auf die anderen zu, als hätte er nicht die geringsten Sorgen - als hätte er nicht gerade einen Mord begangen. »Allerdings ist es schon ein wenig merkwürdig, dass ihr so aufgebracht seid, weil ich einen Mann getötet habe, während Jace ihm eben noch jeden Finger einzeln abschneiden wollte«, fügte er hinzu.

Alecs Kiefermuskulatur spannte sich an. »Das hätte er nicht getan.«

»Du . . .«Jace musterte Sebastian voller Abscheu. »Du hast keine Ahnung, wovon du redest.« 

»Oder du bist vielleicht nur sauer, weil ich deine Schwester geküsst habe. Weil sie mich wollte«, erwiderte Sebastian. 

»Das hab ich nicht«, protestierte Clary, doch keiner der beiden schaute sie an. »Gewollt, meine ich.« 

»Sie hat diese kleine Angewohnheit - die Art und Weise, wie sie leicht nach Luft schnappt, wenn man sie küsst, als wäre sie überrascht.« Sebastian stand nun unmittelbar vor Jace, ein engelsgleiches Lächeln im Gesicht. »Eine wirklich entzückende Eigenschaft. Aber das musst du doch bemerkt haben.«

Jace sah aus, als würde er sich gleich übergeben. »Meine Schwester…«

»Deine Schwester«, unterbrach Sebastian ihn. »Ist sie das tatsächlich? Denn ihr zwei verhaltet euch nicht gerade wie Geschwister. Glaubst du ernsthaft, andere Leute würden nicht mitbekommen, wie ihr euch anseht? Oder du würdest deine Gefühle vor anderen verbergen können? Und denkst du tatsächlich, dass alle anderen das nicht für krank und widernatürlich halten? Denn genau das ist es.« 

»Das reicht jetzt.« Jace musterte den dunkelhaarigen Schattenjäger mit einem mörderischen Blick.

»Warum tust du das, Sebastian?«, fragte Clary. »Warum sagst du all diese schrecklichen Dinge?«

»Weil ich endlich die Gelegenheit dazu habe«, erwiderte Sebastian. »Du hast ja keine Ahnung, wie es für mich gewesen ist, die vergangenen Tage mit euch verbringen zu müssen, ständig so tun zu müssen, als könnte ich euch leiden. Als würde mich euer Anblick nicht krank machen …«, stieß er angewidert hervor und wandte sich an Jace: »Da wärst zunächst einmal du: Jede Sekunde, in der du nicht hinter deiner eigenen Schwester herhechelst, bist du nur am Jammern, dass dein Daddy dich nicht geliebt hat. Aber wer wollte es ihm verdenken? Und dann du, du dämliche Schlampe …«Sebastian drehte sich zu Clary um. »Du gibst dieses unbezahlbare Buch einfach einem Halbblut, einem Hexenmeister! Hast du in deinem winzigen Spatzenhirn auch nur eine einzige funktionierende Gehirnzelle? Und damit zu dir…« Nun wandte er sich Alec zu. »Ich denke, wir alle wissen, was mit dir nicht stimmt. Deinesgleichen dürfte gar nicht als Schattenjäger zugelassen werden. Du bist einfach widerlich.« 

Alec wurde blass, obwohl er eher verblüfft wirkte. Clary konnte ihm deswegen keine Vorwürfe machen - auch ihr fiel es schwer, Sebastian anzusehen, sein engelsgleiches Lächeln zu sehen und sich dann vorzustellen, dass er solche Dinge sagen konnte.

»Du hast so getan, als könntest du uns leiden?«, wiederholte sie. »Aber warum musstest du das denn vorgeben … es sei denn … es sei denn, du wolltest uns ausspionieren«, beendete sie ihre Überlegung und erkannte deren Wahrheitsgehalt in dem Moment, in dem sie den Gedanken aussprach. »Es sei denn, du bist einer von Valentins Spionen.« 

Sebastians attraktives Gesicht verzog sich; er presste die vollen Lippen fest aufeinander und kniff die länglichen, eleganten Augen zu Schlitzen zusammen. »Na, endlich habt ihr’s kapiert«, sagte er. »Glaubt mir: Da draußen gibt es vollkommen lichtlose Dämonendimensionen, die nicht annähernd so unterbelichtet sind wie ihr drei.«

»Wir mögen ja nicht sehr helle sein«, warf Jace ein, »aber dafür sind wir wenigstens noch am Leben.«

Sebastian musterte ihn angewidert. »Ich bin auch noch ziemlich lebendig«, stellte er klar.

»Aber nicht mehr lange«, entgegnete Jace. Funkelndes Mondlicht blitzte auf der Klinge seines Messers auf, als er sich auf Sebastian stürzte - in einer solch schnellen, fließenden Bewegung, dass seine Konturen zu verschwimmen schienen. Schneller als jede menschliche Bewegung, die Clary je gesehen hatte.

Bis zu diesem Moment.

Sebastian hechtete zur Seite, wich dem Messerstoß aus und erwischte Jace’ Arm. Das Messer fiel klirrend auf die Steinplatten und dann packte Sebastian Jace am Rücken seiner Jacke, hob ihn hoch und schleuderte ihn mit ungeheurer Kraft von sich. Jace flog durch die Luft, prallte mit knochenbrecherischer Wucht gegen die Garnisonsmauer und sank auf dem Boden zusammen.

»Jace!« Clary sah rot. Rasend vor Wut ging sie auf Sebastian los, bereit, ihn zu töten. Doch er trat geschickt einen Schritt zur Seite und wischte sie mit einer Handbewegung von sich, als würde er ein lästiges Insekt vertreiben. Der Schlag traf sie so hart an der Schläfe, dass sie zu Boden ging. Clary rollte sich ab und blinzelte mehrfach, um den roten Nebel zu beseitigen, mit dem der Schmerz ihr die Sicht nahm.

In der Zwischenzeit hatte Alec den Bogen von der Schulter gerissen und einen Pfeil auf die Sehne gelegt. Mit vollkommen ruhigen Händen zielte er nun auf Sebastian. »Bleib, wo du bist«, befahl er, »und nimm die Hände auf den Rücken.«

Sebastian lachte. »Du würdest doch nicht ernsthaft auf mich schießen, oder?«, spottete er und ging so leichtfüßig und sorglos auf Alec zu, als stiege er die Stufen zu seiner eigenen Haustür hinauf.

Alec kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. Mit einer gekonnten, fließenden Bewegung spannte er den Bogen und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Der Pfeil flog auf Sebastian zu …

Und verfehlte sein Ziel. Sebastian hatte sich geduckt oder sonst wie bewegt - Clary vermochte es nicht zu sagen -, sodass das tödliche Geschoss an ihm vorbeigeflogen war und sich in den Stamm eines Baums gebohrt hatte. Alec blieb gerade noch Zeit für einen überraschten Blick, ehe Sebastian auch schon bei ihm war und ihm den Bogen aus den Händen wand. Dann zerbrach er ihn wie einen dünnen Zweig und das Splittern des Holzes ließ Clary zusammenzucken, als hörte sie das Bersten von Knochen. Mühsam versuchte sie, sich aufzusetzen, und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in ihrem Kopf. Nur wenige Meter von ihr entfernt lag Jace, vollkommen reglos. Clary wollte sich aufrappeln, um zu ihm zu gelangen, aber ihre Beine versagten ihr den Dienst. 

Im nächsten Moment warf Sebastian die zerbrochenen Hälften des Bogens achtlos beiseite und näherte sich Alec, der inzwischen eine Seraphklinge gezückt hatte, die in seiner Hand funkelte. Als er sich jedoch auf Sebastian stürzte, fegte dieser die Waffe mühelos beiseite, packte Alec an der Kehle und hob ihn fast aus den Schuhen. Und dann drückte er zu, gnadenlos, brutal und mit einem boshaften Grinsen, während Alec strampelte und verzweifelt nach Luft schnappte. »Lightwood«, zischte Sebastian. »Ich habe mich heute schon mal um einen deiner Leute gekümmert. Aber ich hätte nicht gedacht, dass ich so viel Glück habe und an einem Tag gleich zwei von euch erledigen kann.«

Doch im nächsten Moment zuckte er zurück, wie eine Marionette, an deren Drähten gerissen wurde. Aus dem eisernen Griff befreit, sank Alec zu Boden, die Hände an der Kehle. Clary konnte seine rasselnde, stoßweise Atmung hören, aber ihr Blick blieb auf Sebastian geheftet. Ein dunkler Schatten hatte sich auf seinen Rücken geworfen und krallte sich daran fest wie ein Blutegel. Sebastian griff sich an den Hals, spuckte und keuchte, während er sich auf der Stelle drehte und nach dem Wesen zu schlagen versuchte, das ihm die Kehle zudrückte. Als er herumwirbelte, fiel Mondlicht auf das Gesicht des Angreifers, und Clary erkannte, um wen es sich handelte.

Es war Simon. Er hatte die Arme um Sebastians Hals geklammert und seine weißen Schneidezähne glitzerten wie Knochennadeln. Seit seiner Erweckung in jener Nacht auf dem kalten New Yorker Friedhof war es für Clary das erste Mal, dass sie ihn als voll entwickelten Vampir zu sehen bekam, und sie starrte ihn entsetzt an, unfähig, den Blick abzuwenden. Er bleckte die Zähne, bis seine Lippen zurückwichen und seine messerscharfen Fangzähne zum Vorschein kamen. Und dann grub er sie tief in Sebastians Oberarm und schlug ihm eine lange, blutspritzende Wunde.

Sebastian schrie gellend auf, ließ sich nach hinten fallen und landete hart auf dem Boden. Als er sich hin und her wälzte, Simon halb auf ihm, begannen die beiden, aufeinander einzuschlagen, mit ausgefahrenen Krallen und fauchendem Knurren wie Kampfhunde in einer Arena. Sebastian blutete aus mehreren Wunden, als er schließlich auf die Beine kam und zwei gezielte Tritte gegen Simons Brustkorb landete. Simon krümmte sich zusammen, die Arme um den Rumpf geklammert.

»Du miese kleine Zecke«, knurrte Sebastian und holte zu einem weiteren Fußtritt aus.

»Das würde ich lassen«, sagte in dem Moment eine ruhige Stimme. .

Ruckartig riss Clary den Kopf hoch, woraufhin hinter ihren Augen eine weitere Schmerzwoge feuerrot explodierte. Jace stand nur wenige Schritte von Sebastian entfernt. Sein Gesicht war blutüberströmt und ein Auge fast völlig zugeschwollen, aber er hatte eine flammende Seraphklinge gezückt, die vollkommen ruhig in seiner Hand lag. »Ich habe noch nie einen Menschen mit einer dieser Waffen getötet«, sagte Jace. »Aber für dich mach ich gern eine Ausnahme.«

Sebastian verzog das Gesicht. Er schaute auf Simon hinab, hob den Kopf und spuckte auf den Boden. Die Worte, die er anschließend hervorstieß, entstammten einer Sprache, die Clary nicht kannte - und dann wirbelte er mit derselben beängstigenden Schnelligkeit herum, mit der er Jace angegriffen hatte, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand in der Dunkelheit. 

»Nein!«, schluchzte Clary und versuchte erneut, sich aufzurappeln, doch der sengende Schmerz schoss ihr wie ein brennender Pfeil durch den Kopf und sie brach auf dem feuchten Gras zusammen. Eine Sekunde später beugte Jace sich bereits über sie und musterte sie mit bleichem, besorgtem Gesicht. Clary schaute zu ihm auf, wobei ihre Sicht verschwamm - sie musste unscharf sein, sonst hätte sie den weißen Schein, dieses Licht, das ihn umgab, doch nicht gesehen …

Als Nächstes hörte sie Simons Stimme und dann Alecs und einer der beiden drückte Jace irgendetwas in die Hand - eine Stele. Ihr Arm begann zu brennen, doch schließlich ließ der Schmerz langsam nach und auch ihr Kopf wurde wieder klarer. Blinzelnd schaute sie zu den drei Gesichtern hoch, die über ihr schwebten. »Mein Kopf…«

»Du hast eine Gehirnerschütterung«, sagte Jace. »Die Heilrune sollte dir vorerst helfen, aber wir müssen dich schleunigst hinunter in die Stadt zu einem Arzt bringen. Kopfverletzungen können ziemlich gefährlich sein.« Er gab Alec die Stele zurück und fragte Clary besorgt: »Glaubst du, dass du aufstehen kannst?«

Clary nickte. Doch das war ein Fehler. Erneut zuckte ein heißer Schmerz durch ihren Kopf, während zwei Hände ihr unter die Arme griffen und ihr auf die Beine halfen. Simon. Dankbar lehnte sie sich an ihn und wartete darauf, dass sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Sie hatte noch immer das Gefühl, als würde sie jeden Moment umfallen. 

Jace musterte sie nun mit finsterem Blick. »Du hättest Sebastian nicht einfach so angreifen dürfen. Du warst ja noch nicht mal bewaffnet. Was hast du dir nur dabei gedacht?«

»Was haben wir uns alle nur dabei gedacht?«, kam Alec Clary unerwarteterweise zu Hilfe. »Ich kann es noch immer nicht fassen, dass er dich einfach wie einen Softball durch die Luft geschleudert hat, Jace. So was hab ich noch nie gesehen … dass jemand auf diese Weise die Oberhand über dich gewinnen konnte.«

»Ich … er hat mich überrascht«, räumte Jace widerstrebend ein. »Er muss eine Art Spezialtraining absolviert haben. Damit habe ich einfach nicht gerechnet.«

»Gut möglich.« Simon tastete vorsichtig seinen Brustkorb ab und zuckte zusammen. »Ich glaube, er hat mir ein paar Rippen gebrochen. Ist schon okay«, fügte er hinzu, als er Clarys besorgten Blick sah. »Die Brüche verheilen bereits. Aber Sebastian ist definitiv stark. Sehr stark.« Dann wandte er sich an Jace. »Wie lange hatte er wohl schon im Schatten gestanden und uns belauscht?« ; 

Jace zog eine finstere Miene und warf dann einen Blick in die Richtung, in der Sebastian zwischen den Bäumen verschwunden war. »Egal, der Rat wird ihn auf jeden Fall schnappen - und wahrscheinlich einen Fluch gegen ihn aussprechen. Ich hätte nichts dagegen, wenn sie ihn mit demselben Fluch belegen, mit dem sie auch Hodge bestraft haben. Das wäre dann ausgleichende Gerechtigkeit.«

Simon drehte sich etwas zur Seite und spuckte ins Gebüsch. Anschließend wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und zog eine Grimasse. »Sein Blut schmeckt widerlich - wie Gift.«

»Vermutlich können wir das der Liste seiner charmanten Eigenschaften hinzufügen«, bemerkte Jace. »Ich frage mich, was er heute Nacht noch vorhatte.«

»Wir müssen unbedingt zur Abkommenshalle zurück.« Alec sah ziemlich angespannt aus und Clary erinnerte sich, dass Sebastian ihm irgendetwas zugezischt hatte, irgendetwas über die anderen Lightwoods… »Kannst du laufen, Clary?«, fragte er sie nun.

Clary löste sich von Simon. »Ja, es geht schon wieder. Aber was ist mit Hodge? Wir können ihn doch nicht einfach hierlassen.«

»Uns bleibt keine andere Wahl«, erklärte Alec. »Wenn wir diese Nacht alle lebend überstehen, wird noch genügend Zeit sein, zurückzukommen und ihn zu holen.«

Bevor sie aufbrachen, hielt Jace einen Moment inne, zog seine Jacke aus und legte sie über Hodges erschlaffte Gesichtszüge. Am liebsten wäre Clary sofort zu Jace gegangen und hätte ihm vielleicht sogar eine Hand auf die Schulter gelegt, doch irgendetwas an seiner Haltung ließ sie zögern. Nicht einmal Alec wagte es, sich ihm zu nähern oder ihm eine Heilrune anzubieten, obwohl Jace auf dem Weg in die Stadt hinunter stark humpelte.

Während die lichterloh brennende Garnison hinter ihnen den Himmel rot beleuchtete, stiegen sie langsam den gewundenen Hügelpfad hinab, mit gezückten Waffen und auf einen Angriff vorbereitet. Doch ihnen begegneten keine Dämonen. Die Stille und das unheimliche Licht verursachten Clary rasende Kopfschmerzen. Sie fühlte sich wie in einem Traum. Die Erschöpfung hielt sie in einem eisernen Griff und jeder einzelne Schritt erschien ihr, als würde sie einen Betonblock anheben und dröhnend wieder absetzen. Wenige Meter vor sich hörte sie Jace und Alec, deren Stimmen trotz der Nähe irgendwie verzerrt klangen. 

Alec sprach leise, fast flehentlich: »Jace, die Art und Weise, wie du da oben geredet hast… mit Hodge… das kannst du doch nicht ernsthaft glauben. Nur weil du Valentins Sohn bist, macht dich das noch lange nicht zu einem Monster. Was auch immer er dir während deiner Kindheit angetan hat oder dich gelehrt hat, du musst einsehen, dass das nicht deine Schuld ist …«

»Ich will nicht darüber reden, Alec. Weder jetzt noch irgendwann. Sprich mich nie wieder darauf an.« Jace’ Ton klang brutal und schonungslos und Alec verstummte. Clary konnte fast spüren, wie sehr er gekränkt war. Was für eine Nacht, dachte Clary - eine Nacht, die allen so viel Schmerz und Kummer bereitet hatte.

Sie versuchte, nicht an Hodge zu denken, an den flehentlichen, kläglichen Ausdruck auf seinem Gesicht, ehe er starb. Sie hatte Hodge nie sehr gemocht, doch das, was Sebastian ihm angetan hatte, hatte er nicht verdient. Niemand verdiente so etwas. Ihre Gedanken wanderten zu Sebastian und zu der Tatsache, dass er sich bewegt hatte wie stiebende Funken. Außer Jace hatte sie noch nie jemanden gesehen, der so schnell war. Und sie wollte das Rätsel unbedingt lösen: Was war mitSebastian passiert? Wie konnte es sein, dass ein Cousin der Penhallows so aus dem Ruder hatte laufen können und diese es nicht bemerkt hatten? Sie hatte gedacht, er wollte ihr dabei helfen, ihre Mutter zu retten, doch tatsächlich war er nur hinter dem Weißen Buch her gewesen, um es Valentin zu geben. Magnus hatte sich geirrt - Valentin hatte nicht durch die Lightwoods von Ragnor Fell Kenntnis bekommen. Er hatte von dem Hexenmeister erfahren, weil sie Sebastian davon erzählt hatte. Wie hatte sie nur so dumm sein können? 

Zutiefst bestürzt nahm Clary kaum wahr, wie sich der Weg zu einer Straße verbreiterte, die sie nach Alicante hineinführte. Die Stadt wirkte wie ausgestorben. Die Häuser lagen dunkel da, viele Elbenlichtlaternen waren zertrümmert, ihre Glasscherben über das Kopfsteinpflaster verstreut. Zwar hörte Clary Stimmen wie aus großer Ferne und zwischen den Gebäuden entdeckte sie den Leuchtschein einzelner Fackeln, doch sonst herrschte Grabesstille …

»Es ist so furchtbar still hier«, bestätigte Alec in diesem Moment Clarys Überlegungen und schaute sich überrascht um. »Und …»

»Und es riecht überhaupt nicht mehr nach Dämonen.« Jace runzelte die Stirn. »Seltsam. Los, kommt weiter. Wir müssen zur Abkommenshalle.«

Obwohl Clary auf dem Weg dorthin ständig mit einem Angriff rechnete, begegnete ihnen kein einziger Dämon. Zumindest kein lebender. Allerdings sah sie, als sie an einer schmalen Gasse vorbeikamen, wie eine Gruppe von drei oder vier Schattenjägern eine Kreatur umzingelt hatte, die sich krampfhaft zuckend auf dem Boden wand, während die Männer abwechselnd mit langen, spitzen Stäben auf sie einstachen. Schaudernd wandte Clary sich ab.

Die Halle des Abkommens war hell erleuchtet - Elbenlicht strömte aus ihren Türen und Fenstern. Hastig stürmten die Freunde die Stufen zum Eingang hinauf, wobei Clary strauchelte und sich gerade noch fangen konnte. Das Schwindelgefühl wurde wieder schlimmer und die Welt schien sich um sie herum zu drehen, als befände sie sich im Inneren einer kreiselnden Kugel. Über ihr zogen die Sterne weiße, verschwommene Streifen am Firmament.

»Du solltest dich hinlegen«, sagte Simon, und als sie nicht reagierte, fragte er: »Clary?«

Unter größter Mühe zwang sie sich zu einem Lächeln. »Mir geht’s gut.«

Jace stand bereits in der Eingangstür der Halle und schaute sich schweigend nach ihr um. Im harschen Licht der Elbenlichtfackeln wirkte sein blutverschmiertes Gesicht mit dem geschwollenen Auge übel zugerichtet.

Aus dem Inneren der Halle drang ein dumpfes Dröhnen, das tiefe Murmeln Hunderter von Stimmen. In Clarys Ohren klang es wie das Pulsieren eines gewaltigen Herzens. Das Licht der Wandfackeln und der zahllosen Elbensteine brannte ihr in den Augen und ließ sie nur noch vage Schatten erkennen, verschwommene Formen und Farben - Weiß, Gold und die Schattierung des Nachthimmels, dessen dunkles Blau sich zu einem helleren Ton lichtete. Wie spät war es eigentlich?, fragte Clary sich.

»Ich kann sie nirgends sehen«, sagte Alec im nächsten Moment und schaute sich suchend nach seiner Familie um. Er klang, als wäre er Hunderte Meilen entfernt oder tief unter Wasser. »Sie müssten doch längst hier sein …« 

Seine Stimme verhallte, während Clarys Schwindelgefühl zunahm. Sie stützte sich an einer Säule ab, um nicht umzufallen. Eine Hand strich ihr über den Rücken - Simon. Er sprach mit Jace und klang irgendwie besorgt. Dann vermischte sich seine Stimme mit dem Murmeln Dutzender anderer, die wie schäumende, sich brechende Wogen an ihr Ohr drangen.

»So was hab ich noch nicht erlebt. Die Dämonen haben sich einfach umgedreht und sind verschwunden, einfach so.«

»Liegt vermutlich an der Morgendämmerung. Sie fürchten sich davor und es dauert nicht mehr lange, bis die Sonne aufgeht.«

»Nein, da war noch irgendetwas anderes im Spiel.«

»Ich möchte mir gar nicht ausmalen, dass sie bei Anbruch der Dunkelheit wieder zurückkehren könnten.«

»Sag doch nicht so was; dafür besteht überhaupt kein Grund. Die Schutzschilde werden mit Sicherheit wieder aktiviert.«

»Und Valentin wird sie wieder zusammenbrechen lassen.«

»Vielleicht haben wir es nicht anders verdient. Vielleicht hatte Valentin ja recht - und wir haben durch die Allianz mit den Schattenweltlern den Segen des Erzengels tatsächlich verwirkt.«

»Seid doch mal still. Und zeigt etwas Respekt. Sie zählen die Toten.«

»Da sind sie ja!«, stieß Alec erleichtert hervor. »Da drüben, beim Podium. Es sieht so aus, als ob …« Seine Stimme verstummte und dann stürmte er los, bahnte sich einen Weg durch die Menge.

Clary blinzelte und versuchte, wieder klar zu sehen. Aber sie konnte nur verschwommene Umrisse erkennen …

Im nächsten Moment hörte sie, wie Jace scharf die Luft einzog und sich dann ohne ein weiteres Wort hinter Alec durch die Menschenmenge drängte. Clary stieß sich von der Säule ab, um ihm zu folgen, strauchelte aber. Simon fing sie auf.

»Du musst dich unbedingt hinlegen, Clary«, sagte er.

»Nein«, flüsterte sie. »Ich will sehen, was passiert ist…«

Dann verstummte sie. Simon schaute an ihr vorbei zu Jace; er wirkte bestürzt. Erneut stützte Clary sich gegen die Säule, stellte sich vorsichtig auf die Zehenspitzen und versuchte angestrengt, über die Menge hinweg etwas zu erkennen …

Da waren sie, die Lightwoods: Maryse hatte ihre Arme um Isabelle geschlungen, die hemmungslos schluchzte, und Robert Lightwood hockte auf dem Boden und hielt irgendetwas - nein, irgendjemanden. Unwillkürlich musste Clary an eine der ersten Begegnungen mit Max denken, im New Yorker Institut. Er hatte auf dem roten Sofa in der Eingangshalle gelegen, die Brille leicht verrutscht auf der Nase und eine Hand schlaff über dem Boden. Max ist wie eine Katze - er kann überall schlafen, hatte Jace damals gesagt und der kleine Junge sah auch jetzt fast so aus, als würde er schlafen, auf dem Schoß seines Vaters. Doch Clary wusste, dass er nicht schlief… 

Alec kniete vor Max und hielt eine seiner Hände, aber Jace stand wie angewurzelt da, vollkommen reglos. Mehr denn je wirkte er verloren, als hätte er keine Ahnung, wo er sich befand oder was er hier tat.

Clary wünschte sich nichts sehnlicher, als zu ihm zu laufen und ihn in den Arm zu nehmen, doch der Ausdruck auf Simons Gesicht warnte sie davor - genau wie die Erinnerung an das Landhaus und Jace’ Arme um ihren Körper. Sie war der letzte Mensch auf Erden, der ihm jemals Trost spenden konnte. 

»Clary«, murmelte Simon, aber sie riss sich bereits von ihm los, trotz ihres Schwindelgefühls und der Schmerzen im Kopf. Sie stürmte zur Tür und stieß sie auf, rannte hinaus zu den Stufen und blieb abrupt stehen, während sie verzweifelt die kalte Luft einatmete. In der Ferne schimmerte der Horizont in einem rötlichen Schein; die Sterne waren verblasst und verschmolzen mit dem sich lichtenden Himmel. Die Nacht war vorüber. Die Morgendämmerung hatte begonnen.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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