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GLAUBENSARTIKEL

 

Seitdem Abend, an dem ihre Mutter verschwunden war, hatte Clary sie sich immer wieder vorgestellt - wohlauf und gesund. Sie hatte diese Bilder so oft vor ihrem inneren Auge abgerufen, dass sie fast schon ein wenig abgenutzt wirkten, wie ein Foto, das man zu oft hervorgeholt und betrachtet hatte. Und genau diese Wunschvorstellungen stiegen nun wieder in ihr auf, noch während sie Jocelyn ungläubig anstarrte - Bilder, in denen ihre gesunde, glückliche Mutter sie in den Arm nahm und ihr erzählte, wie sehr sie ihr gefehlt habe, aber dass jetzt alles wieder gut werden würde.

Doch die Mutter in Clarys Wunschvorstellungen besaß nur wenig Ähnlichkeit mit der Frau, die nun direkt vor ihr stand. Clary hatte Jocelyn als sanfte, künstlerisch veranlagte Person in Erinnerung, als ein wenig unkonventionell mit ihren farbbekleckerten Overalls und den roten Haaren, die sie immer zu Zöpfen geflochten oder mit einem Bleistift zu einem wirren Knoten hochgesteckt hatte. Aber diese Jocelyn hier in Amatis’ Küche wirkte so hart und scharf wie ein Messer: Ihre Haare waren straff nach hinten gekämmt und das tiefe Schwarz ihrer Schattenjägermontur ließ ihr Gesicht bleich und kantig erscheinen. Und auch ihr Gesichtsausdruck war vollkommen anders, als Clary ihn sich vorgestellt hatte: Statt Freude zeichnete sich eine Art Entsetzen auf ihren Zügen ab, als sie Clary aus großen grünen Augen musterte. »Clary«, stieß sie atemlos hervor. »Deine Kleidung!« 

Clary schaute an sich hinab. Sie trug Amatis’ alte Schattenjägermontur - genau die Sorte von Kleidung, die Jocelyn während Clarys gesamtem Leben von ihr fernzuhalten versucht hatte, damit ihre Tochter sie niemals würde tragen müssen. Clary schluckte heftig und stand auf, wobei sie sich mit den Händen an der Tischkante festklammerte. Sie konnte zwar sehen, dass ihre Fingerknöchel weiß hervorstachen, aber ihre Hände fühlten sich irgendwie losgelöst von ihrem Körper an, als gehörten sie jemand anderem.

Jocelyn ging einen Schritt auf sie zu und streckte die Arme aus. »Clary …«

Doch Clary musste feststellen, dass sie vor ihr zurückwich - so hastig, dass sie mit dem Kreuz schmerzhaft gegen die Küchentheke stieß. Aber der Schmerz drang kaum zu ihr durch. Stumm starrte sie ihre Mutter an - genau wie Simon, der Jocelyn mit offenem Mund anglotzte, und Amatis, die ein bestürztes Gesicht zog.

Sofort stand Isabelle auf und schob sich zwischen Clary und ihre Mutter. Ihre Hand glitt unter ihre Schürze und Clary hatte das Gefühl, dass Isabelles dünne Elektrumpeitsche darunter zum Vorschein kommen würde. »Was geht hier vor?«, fragte die junge Schattenjägerin energisch. »Wer sind Sie?«

Ihre kräftige Stimme zitterte ein wenig, als sie den Ausdruck auf Jocelyns Gesicht sah.

Jocelyn starrte sie sprachlos an, eine Hand auf ihr Herz gedrückt. »Maryse«, wisperte sie kaum hörbar. 

Verblüfft musterte Isabelle die fremde Frau. »Woher kennen Sie den Namen meiner Mutter?«

Schlagartig kehrte das Blut in Jocelyns Wangen zurück. »Natürlich! Du bist Maryses Tochter. Du … du siehst ihr unglaublich ähnlich.« Langsam ließ sie ihre Hand sinken. »Ich bin Jocelyn Fr… Fairchild. Ich bin Clarys Mutter.«

Isabelle zog die Hand unter der Schürze hervor und warf Clary einen verwirrten Blick zu. »Aber Sie waren doch im Krankenhaus … in New York …»

»Ja, das stimmt«, bestätigte Jocelyn mit fester werdender Stimme. »Aber dank meiner Tochter geht es mir jetzt wieder gut. Und ich würde mich gern einen Moment mit ihr allein unterhalten.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie das umgekehrt auch will«, warf Amatis ein und legte Jocelyn beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Das muss ein ziemlicher Schock für sie sein …«

Jocelyn schüttelte Amatis ab und ging mit ausgestreckten Armen auf Clary zu. »Clary …«

In dem Moment fand Clary endlich ihre Stimme wieder - eine kalte, eisige Stimme, die so wütend war, dass es sie selbst überraschte. »Wie bist du hierhergekommen, Jocelyn?«

Abrupt blieb Jocelyn stehen und ein Ausdruck von Unsicherheit huschte über ihr Gesicht. »Ich habe ein Portal benutzt und mich vor die Tore der Stadt bringen lassen, zusammen mit Magnus Bane. Er ist gestern zu mir ins Krankenhaus gekommen und hat mir das Gegengift gebracht. Danach hat er mir alles erzählt, was du für mich getan hast. Und seit dem Moment, in dem ich aufgewacht bin, habe ich mir nichts anderes gewünscht, als dich zu sehen …«Ihre Stimme verstummte einen Augenblick. »Clary, stimmt irgendetwas nicht?«, fragte sie schließlich. 

»Warum hast du mir nie erzählt, dass ich einen Bruder habe?«, stieß Clary hervor. Eigentlich waren das nicht die Worte, die sie von sich selbst erwartet hätte - nicht einmal die, die sie geplant hatte. Aber nun waren sie ausgesprochen. 

Jocelyn ließ die Hände sinken. »Ich dachte, er wäre tot. Ich dachte, es würde dir nur Kummer bereiten, wenn du davon wüsstest.« 

»Dann will ich dir mal eines sagen, Mom«, entgegnete Clary. »Es ist immer besser, etwas zu wissen, als ahnungslos zu bleiben. Und das gilt für jede Situation. Ohne Ausnahme.« 

»Es tut mir leid…«, setzte Jocelyn. 

»Es tut dir leid?«, wiederholte Clary mit lauter werdender Stimme; sie hatte das Gefühl, als wäre tief in ihrem Inneren etwas aufgerissen worden, als würden sich all die angestauten Gefühle der vergangenen Wochen einen Weg nach draußen bahnen, ihre Verbitterung, ihre unterdrückte Wut. »Kannst du mir vielleicht mal erklären, warum du mir nie gesagt hast, dass ich eine Schattenjägerin bin? Oder dass mein Vater gar nicht tot ist, sondern noch lebt? Und, ach ja, wie steht es damit: Warum du Magnus dafür bezahlt hast, mir meine Erinnerungen zu nehmen?« 

»Ich habe nur versucht, dich zu beschützen …« 

»Na, das ist dir ja großartig gelungen!«, konterte Clary aufgebracht. »Was hast du eigentlich gedacht, was mit mir nach deinem Verschwinden passieren würde? Wenn Jace und die anderen nicht gewesen wären, wäre ich jetzt tot. Du hast mir nie gezeigt, wie ich mich selbst schützen kann. Mir nie gesagt, wie gefährlich die Welt für mich tatsächlich ist. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Wenn ich das Böse nicht sehen könnte, dass es mich dann auch nicht sieht?« Clarys Augen brannten. »Du hast gewusst, dass Valentin nicht tot war. Du hast Luke erzählt, dass du glaubst, er wäre noch am Leben.« 

»Genau deswegen habe ich dich ja verstecken müssen«, erwiderte Jocelyn. »Ich konnte das Risiko nicht eingehen, dass Valentin von deinem Aufenthaltsort erfuhr. Ich durfte nicht zulassen, dass er dich in seine Finger bekommen würde …« 

»Weil er nämlich schon dein erstes Kind in ein Monster verwandelt hatte«, schnaubte Clary, »und du wolltest nicht, dass er mit mir dasselbe macht.« 

Sprachlos vor Entsetzen starrte Jocelyn Clary an. »Ja«, sagte sie schließlich, »ja, das stimmt, aber das war nicht der einzige Grund, Clary …« 

»Du hast mir meine Erinnerungen gestohlen«, fuhr Clary unbeirrt fort. »Du hast sie mir einfach genommen. Du hast mir genommen, wer ich tatsächlich bin.« 

»Aber das bist du nicht!«, protestierte Jocelyn. »Ich habe nie gewollt, dass du so bist…« 

»Es spielt keine Rolle, was du willst!«, stieß Clary wütend hervor. »Es geht darum, wer ich bin! All das hast du mir einfach genommen, aber dazu hattest du nicht das geringste Recht!« 

Jocelyn war aschfahl geworden. Tränen stiegen Clary in die Augen - sie konnte es nicht ertragen, ihre Mutter so zu sehen, so verletzt, und dennoch war sie diejenige, die Jocelyn diese Verletzungen zufügte. Außerdem wusste Clary instinktiv: Wenn sie den Mund wieder öffnete, würden nur noch mehr schreckliche Worte daraus hervorsprudeln, noch mehr hässliche, wütende Dinge. Bestürzt schlug sie die Hand vor den Mund und stürmte in Richtung Flur, vorbei an ihrer Mutter und vorbei an Simons ausgestreckter Hand. Sie wollte weg, einfach nur weg. Tränenblind riss sie die Haustür auf und stolperte die Stufen hinunter auf die Straße. Hinter ihr rief jemand ihren Namen, doch Clary reagierte nicht darauf. Sie rannte los und drehte sich nicht mehr um. 

Zu seiner Überraschung stellte Jace fest, dass Sebastian das Pferd der Familie Verlac im Stall zurückgelassen hatte, statt mit ihm in der Nacht seiner Flucht davonzugaloppieren. Vielleicht hatte er befürchtet, dass man Wayfarer und damit ihn auf irgendeine Weise orten konnte. 

Es verschaffte Jace eine gewisse Befriedigung, den Hengst zu satteln und auf ihm aus der Stadt zu reiten. Sicher, wenn Sebastian Wayfarer wirklich gewollt hätte, hätte er ihn nicht zurückgelassen - außerdem hatte ihm das Pferd ja eigentlich gar nicht gehört. Aber Jace liebte Pferde nun mal. Sein letzter Reitausflug lag zwar schon sieben Jahre zurück, aber zu seiner großen Freude stellten sich die Erinnerungen rasch wieder ein. 

Der Fußmarsch vom Landsitz der Waylands zurück nach Alicante hatte Clary und ihn sechs Stunden gekostet, doch jetzt, im strammen Galopp, brauchte er nur zwei Stunden, um an den Ort zurückzukehren. Bei seiner Ankunft auf dem Hügel, von dem sich ein Blick auf das Haus und die Ländereien bot, waren er und das Pferd mit leichtem Schweiß bedeckt. 

Die Irrleitungs-Schutzschilde, die das Anwesen kaschiert hatten, waren zusammen mit den Grundmauern des Hauses zerstört worden. Von dem einst eleganten Gebäude schien nur noch ein Haufen rußgeschwärzter Balken und Steine zurückgeblieben zu sein. Nur der Garten, der an den Rändern angesengt war, erinnerte Jace noch an die Kindheit, die er hier verbracht hatte. Er entdeckte die alten Rosensträucher, inzwischen ohne Blüten und von Unkraut überwuchert, die Steinbank am Teich, aber auch die Senke, in der er mit Clary in der Nacht des Hauseinsturzes gelegen hatte. Und zwischen den Bäumen konnte er das blaue Glitzern des nahe gelegenen Sees erkennen. 

Ein bitteres Gefühl überkam ihn. Mit finsterer Miene griff er in seine Tasche und zog zuerst eine Stele hervor - er hatte sie sich aus Alecs Zimmer »geborgt«, als Ersatz für seine eigene, die Clary verloren hatte. Schließlich konnte Alec sich jederzeit eine neue besorgen. Und dann holte Jace den Faden hervor, den er von Clarys Ärmel genommen hatte, legte ihn in seine Handfläche und schloss die Finger fest um das an einem Ende rötlich braun verfärbte Stück Garn, bis seine Knöchel weiß hervorstachen. Mit der Stele zeichnete er anschließend eine Rune auf seinen Handrücken. Sofort verspürte er das vertraute Sengen der Stelenspitze und beobachtete, wie das Runenmal wie ein Stein im Wasser in seiner Hautoberfläche versank. Dann schloss er die Augen. 

Auf der Innenseite seiner Lider tauchte ein Tal auf. Er selbst stand auf einem Felsvorsprung, schaute auf die Landschaft hinab und wusste instinktiv, wo er sich befand - so als läge eine Karte vor ihm, die ihm seinen aktuellen Standort zeigte. Auf diese Weise hatte die Inquisitorin also gewusst, wo sie Valentins Schiff auf dem East River finden würde, begriff er schlagartig. Jedes kleinste Detail war glasklar zu erkennen - jeder Grashalm, die verstreuten braunen Blätter zu seinen Füßen -, nur kein einziges Geräusch. Über der Szenerie lag eine unheimliche Stille. 

Das Tal erstreckte sich hufeisenförmig zwischen zwei Hügeln und spitzte sich an einem Ende zu. Ein silbern schimmernder Wasserlauf - ein Bach oder ein flacher Fluss - verlief durch die Talmitte und verschwand hinter Felsen am schmalen Ende. Direkt am Wasser erkannte Jace ein graues Steinhaus, aus dessen quadratischem Schornstein weiße Rauchwolken aufstiegen. Das Ganze wirkte seltsam idyllisch, fast ruhig und heiter unter dem strahlend blauen Himmel. Während Jace in die Ferne schaute, kam eine schlanke Gestalt in Sicht. Sebastian. Nun, da er niemandem mehr etwas vorspielen musste, trat seine arrogante Haltung deutlich zutage - die Art und Weise, wie er ging und seine Schultern hielt. Mit einem spöttischen Lächeln um die Lippen kniete er sich an das Ufer, tauchte die Hände in den Bach und spritzte sich Wasser ins Gesicht und über die Haare. 

Jace öffnete die Augen. Unter ihm knabberte Wayfarer zufrieden an ein paar Grashalmen. Jace schob die Stele und den Faden wieder in seine Tasche und mit einem letzten Blick auf die Ruinen des Hauses, in dem er aufgewachsen war, packte er die Zügel und gab dem Pferd die Sporen. 

 

Clary lag im Gras und starrte verdrossen über den Rand des Garnisonhügels hinunter auf Alicante. Der Blick von hier oben war wirklich sensationell, das musste sie zugeben. Sie konnte die Dächer der Stadt sehen, mit ihren eleganten Steinmetzarbeiten und den runenbedeckten Wetterfahnen; dahinter erkannte sie die Türme der Abkommenshalle und in der Ferne schimmerte etwas wie der Rand einer Silbermünze - der Lyn-See? Hinter ihr ragten die schwarzen Ruinen der Garnison auf und die Dämonentürme funkelten wie Kristall. Clary glaubte fast, die Schutzschilde wahrnehmen zu können, die wie ein unsichtbares Netz um die Stadtmauern herumflimmerten. 

Missmutig schaute Clary auf ihre Hand; in ihrer Wut hatte sie mehrere Grasbüschel ausgerupft und an ihren Fingern klebten Dreck und Blut, da sie sich einen Nagel eingerissen hatte. Nach einer Weile war die Wut abgeebbt und hatte ein Gefühl der Leere hinterlassen. Clary war gar nicht bewusst gewesen, wie groß die Wut auf ihre Mutter war - jedenfalls nicht bis zu dem Moment, in dem Jocelyn durch die Küchentür spaziert kam und Clary ihre schrecklichen Sorgen um ihre Mutter beiseiteschieben und erkennen konnte, was unter dieser Angst geschlummert hatte. Jetzt, da sie sich ein wenig beruhigt hatte, fragte sie sich, ob ein Teil von ihr Jocelyn vielleicht für das bestrafen wollte, was mit Jace geschehen war. Wenn man ihn nicht belogen hätte - wenn man sie beide nicht belogen hätte -, dann hätte der Schock angesichts der Erkenntnis, was Valentin ihm in seiner Kindheit angetan hatte, ihn bestimmt nicht zu diesem Alleingang getrieben, der in Clarys Augen einem Selbstmord gleichkam. »Was dagegen, wenn ich mich zu dir setze?« Erschrocken zuckte Clary zusammen und drehte sich auf die Seite, um zu der Stimme hochzuschauen. Über ihr stand Simon, die Hände in den Taschen. Irgendjemand - vermutlich Isabelle - hatte ihm eine dunkle Jacke aus dem strapazierfähigen schwarzen Material gegeben, das die Nephilim für ihre Kampfmontur verwendeten. Ein Vampir in Schattenjägerkleidung, dachte Clary und fragte sich, ob das wohl eine Premiere war. 

»Du hast dich an mich herangeschlichen«, sagte sie. »Ich schätze, dann kann ich keine allzu gute Schattenjägerin sein, oder?« 

Simon zuckte die Achseln. »Na ja, zu deiner Verteidigung muss man wohl anfuhren, dass ich mich inzwischen mit lautloser, raubkatzenartiger Anmut bewege.« 

Unwillkürlich musste Clary lächeln. Sie richtete sich auf und wischte sich den Dreck von den Händen. »Komm, setz dich. Hier darf jeder Trübsal blasen, wer will.« 

Simon ließ sich neben ihr nieder, schaute über die Stadt und pfiff anerkennend. »Keine üble Aussicht.« 

»Stimmt.« Clary warf ihm einen Seitenblick zu. »Wie hast du mich gefunden?« 

»Na ja, das hat mich einige Stunden gekostet.« Er schenkte ihr ein leicht schiefes Lächeln. »Aber dann hab ich mich daran erinnert, wie wir früher immer gestritten haben, in der ersten Klasse, und dass du dann jedes Mal eingeschnappt auf unser Dach geklettert bist und meine Mom dich wieder runterholen musste …« 

»Ja, und?« 

»Ich kenne dich«, erklärte Simon. »Wenn dich irgendetwas betrübt, suchst du dir ein hoch gelegenes Fleckchen.« Und dann hielt er ihr wortlos etwas entgegen - ihren grünen, sorgfältig zusammengefalteten Umhang. 

Clary nahm das Stoffbündel und schüttelte es aus. Das arme Kleidungsstück trug schon sichtliche Gebrauchsspuren und am Ellbogen prangte sogar ein Loch, durch das man einen ganzen Finger schieben konnte. 

»Danke, Simon.« Sie schlang die Arme um die Knie und starrte hinab auf die Stadt. Die Sonne stand bereits tief am Horizont und die Türme begannen, in einem schwachen rosaroten Schein zu glühen. »Hat meine Mutter dich hierhergeschickt, um mich zu holen?« 

Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das war Luke. Er hat mich gebeten, dir auszurichten, dass du vielleicht vor Sonnenuntergang zurückkommen solltest. Da unten passieren dann nämlich ein paar ziemlich wichtige Dinge.« 

»Was für Dinge?« 

»Luke hat den Ratsmitgliedern bis Sonnenuntergang Zeit gegeben, um sich zu entscheiden, ob sie den Schattenweltlern mehrere Sitze in der Kongregation einräumen wollen. Bei Anbruch der Dämmerung werden sich alle Schattenwesen vor dem Nordtor versammeln. Falls der Rat zustimmt, werden sie Alicante betreten. Und falls nicht…« 

»Werden sie wieder verschwinden«, beendete Clary Simons Satz. »Und der Rat wird sich Valentin ergeben.« 

»Ja.« 

»Die Ratsmitglieder werden bestimmt zustimmen«, sagte Clary und umklammerte ihre Knie noch fester. »Sie müssen einfach. Sie können sich unmöglich für Valentin entscheiden. Das würde doch niemand tun.« 

»Freut mich, dass du deinen Idealismus noch nicht verloren hast«, erwiderte Simon, aber obwohl sein Ton unbekümmert klang, hörte Clary noch eine andere Stimme daraus - Jace, der ihr gesagt hatte, er sei kein Idealist. Bei dem Gedanken daran erschauderte Clary, trotz des warmen Umhangs. 

»Simon?«, setzte sie an. »Ich muss dich mal was Blödes fragen.« 

»Schieß los!« 

»Hast du mit Isabelle geschlafen?« 

Simon stieß ein ersticktes Geräusch hervor. Clary wandte sich ihm langsam zu, um sein Gesicht sehen zu können. 

»Alles in Ordnung?«, fragte sie. 

»Glaub schon«, erwiderte er und versuchte mit sichtlicher Mühe, seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Ist das dein Ernst?«, fragte er. 

»Na ja, du warst doch die ganze Nacht weg.« 

Simon schwieg eine Weile, doch schließlich meinte er: »Ich bin mir zwar nicht sicher, ob dich das überhaupt etwas angeht, aber die Antwort lautet Nein.« 

»Okay«, sagte Clary und fügte nach einer kleinen Pause besonnen hinzu: »Ich hätte mir denken können, dass du niemand bist, der die Situation ausnutzt und Isabelle zu irgendetwas nötigt - jetzt, wo sie wegen Max so tieftraurig ist.« 

Simon schnaubte verächtlich. »Wenn du jemals auf einen Mann triffst, der Isabelle zu irgendetwas nötigen könnte, dann sag mir Bescheid. Ich würde ihm gern die Hand schütteln. Oder ziemlich schnell vor ihm wegrennen. Ich bin mir nicht ganz sicher, was angebrachter wäre.« 

»Dann verabredest du dich also nicht mehr mit ihr?« 

»Clary«, sagte Simon, »warum fragst du mich all diese Dinge über Isabelle? Willst du denn nicht über deine Mutter reden? Oder über Jace? Izzy hat mir erzählt, dass er fort ist. Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst.« 

»Nein«, widersprach Clary. »Nein, ich glaube nicht, dass du das weißt.« 

»Du bist nicht die Einzige, die sich jemals einsam und allein gefühlt hat.« Ein ungeduldiger Unterton schwang in Simons Stimme mit. »Ich hab nur gedacht… ich meine, ich hab dich noch nie so wütend gesehen. Und dann auch noch gegenüber deiner Mutter. Ich dachte eigentlich, sie hätte dir gefehlt.« 

»Natürlich hat sie mir gefehlt!«, schnaubte Clary, doch im selben Moment wurde ihr bewusst, wie die Szene in der Küche gewirkt haben musste - vor allem auf ihre Mutter. Beschämt schob sie den Gedanken beiseite. »Es ist nur so: Während der ganzen Zeit habe ich mich so darauf konzentriert, sie zu retten - sie vor Valentin zu bewahren und dann einen Weg zu finden, sie wieder zu heilen -, dass ich keine Sekunde daran dachte, wie wütend ich war, dass sie mich all die Jahre belogen hat. Dass sie das alles vor mir geheim gehalten hat, die Wahrheit vor mir versteckt hat. Ich habe nie erfahren, wer ich wirklich bin.« 

»Das ist aber nicht das, was du zu ihr gesagt hast, als sie in die Küche kam«, erwiderte Simon leise. »Du hast gerufen: Warum hast du mir nie erzählt, >dass ich einen Bruder habe?<« 

»Ich weiß.« Clary riss einen Grashalm aus und drehte ihn unruhig zwischen den Fingern. »Ich komme einfach nicht über den Gedanken hinweg, dass ich Jace nicht auf diese Weise kennengelernt hätte, wenn ich die Wahrheit gewusst hätte. Ich hätte mich nicht in ihn verliebt.« 

Simon schwieg einen Moment. »Ich glaub nicht, dass du das jemals zuvor laut geäußert hast.« 

»Dass ich ihn liebe?« Clary lachte, doch es klang freudlos, selbst in ihren eigenen Ohren. »Ist doch sinnlos, jetzt noch so zu tun, als wäre es nicht so. Das spielt doch gar keine Rolle mehr. Wahrscheinlich werde ich ihn sowieso nie Wiedersehen.« 

»Er wird zurückkommen.« 

»Vielleicht.« 

»Doch, ganz bestimmt. Er wird zurückkommen«, wiederholte Simon. »Deinetwegen.« 

»Ach, ich weiß nicht.« Clary schüttelte den Kopf. Allmählich wurde es kühler; inzwischen hatte die Sonne fast schon den Horizont erreicht. Clary kniff die Augen leicht zusammen, beugte sich vor und starrte auf die Stadt. »Da, sieh mal, Simon.« 

Er folgte ihrem Blick. Jenseits der Schutzschilde versammelten sich Hunderte dunkler Gestalten vor dem Nordtor; einige standen dicht zusammen, während andere sich weiter verstreut aufhielten: Die Schattenweltler, die Luke zur Verteidigung der Stadt herbeigerufen hatte, warteten geduldig auf ein Wort des Rats, um Alicante betreten zu können. Ein Schauer jagte Clary über den Rücken. Von ihrem erhöhten Platz auf der Hügelkuppe hatte sie nicht nur einen Blick über den steilen Abhang hinunter auf die Stadt, sondern auch auf den Beginn einer drohenden Krise, auf ein Ereignis, das die Grundfesten der gesamten Schattenjägerwelt für immer erschüttern würde. 

»Sie kommen«, murmelte Simon, fast zu sich selbst. »Ich frage mich, ob das bedeutet, dass der Rat eine Entscheidung getroffen hat.« 

»Das hoffe ich zumindest.« Der Grashalm, mit dem Clary nervös herumgespielt hatte, war inzwischen nur noch grüner Matsch; ungeduldig warf sie ihn weg und riss einen weiteren Halm aus. »Ich weiß nicht, was ich tun werde, wenn sie beschließen, sich Valentin zu ergeben. Vielleicht kann ich ein Portal erschaffen, das uns alle an einen Ort bringt, wo Valentin uns niemals finden wird. Eine verlassene Insel oder so was.« 

»Okay, jetzt muss ich dich auch mal was Blödes fragen«, sagte Simon. »Du kannst doch neue Runen erfinden, oder? Warum kreierst du nicht einfach eine, die jeden Dämon in dieser Welt vernichtet? Oder Valentin tötet?« 

»So funktioniert das leider nicht«, erklärte Clary. »Ich kann nur Runen erschaffen, die ich mir auch bildlich vorstellen kann. Ich muss das gesamte Bild vor meinem inneren Auge sehen, wie ein Gemälde. Aber wenn ich versuche, >Töte Valentin< oder beherrsche die Welt< zu visualisieren, dann erhalte ich keine Bilder, sondern nur eine Art statisches Rauschen.« 

»Und woher kommen diese Runenabbildungen? Was glaubst du?« 

»Ich weiß es nicht«, sagte Clary. »Alle Runen, die die Schattenjäger kennen, stammen aus dem Grauen Buch; deshalb können sie auch nur von Nephilim verwendet werden - dafür sind sie gemacht. Aber es gibt noch andere, ältere Runen und Male. Magnus hat mir davon erzählt. Wie etwa das Kainsmal. Es war ein Schutzzeichen, allerdings keines aus dem Grauen Buch, sondern viel, viel älter. Wenn ich also eine dieser Runen vor mir sehe, wie etwa die Rune der Furchtlosigkeit, dann weiß ich nicht, ob ich gerade etwas Neues erfunden habe oder mich einfach nur an etwas erinnere - an Runen und Male, die älter sind als die Nephilim. Runen so alt wie die Engel selbst.« Unwillkürlich musste Clary an die Rune denken, die Ithuriel ihr gezeigt hatte - eine Rune, so schlicht wie ein geknüpfter Knoten. War diese Rune ihrem eigenen Geist entsprungen oder dem des Engels? Oder handelte es sich vielleicht um ein Symbol, das schon immer existiert hatte, so wie das Meer und der Himmel? Der Gedanke daran ließ Clary erschaudern. 

»Ist dir kalt?«, fragte Simon. 

»Ja. Dir nicht?« 

»Mir wird heutzutage nicht mehr kalt.« Schützend legte er einen Arm um ihre Schultern, rieb mit dem Daumen über Clarys Handrücken und lachte wehmütig in sich hinein. »Vermutlich hilft das nicht sonderlich, jetzt, da ich keine Körperwärme mehr abstrahle.« 

»Nein«, sagte Clary. »Ich meine, doch. Doch, das hilft tatsächlich. Bleib einfach so.« Vorsichtig schaute sie zu ihm hoch. Simon starrte den Hügel hinunter zum Nordtor, vor dem sich weitere Schattenweltler versammelt hatten und reglos warteten. Das rötliche Licht der Dämonentürme spiegelte sich in seinen Augen; er sah aus wie jemand auf einem Foto, das mit Blitzlicht geschossen worden war. Clary konnte an den Stellen, wo Simons Haut am dünnsten war, das hellblaue Adergeflecht unter der Oberfläche erkennen - an den Schläfen, am Ansatz des Schlüsselbeins. Inzwischen wusste sie genug über Vampire, um zu wissen, was dies bedeutete: Seine letzte Mahlzeit musste schon eine Weile zurückliegen. »Bist du hungrig?«, fragte sie leise. 

Simon schaute zu ihr hinunter. »Hast du Angst, ich könnte dich beißen?« 

»Du weißt, dass du dich jederzeit an meinem Blut bedienen kannst.« 

Ein Schauer - allerdings nicht von der Kälte - jagte durch Simons Körper und er zog Clary noch fester an sich. »Das würde ich niemals tun«, sagte er ernst und fügte dann etwas leichtherziger hinzu: »Außerdem habe ich schon von Jace’ Blut getrunken. Ich will mich nicht bei noch mehr Freunden durchfuttern.« 

Clary musste an die silberne Narbe an Jace’ Kehle denken. »Glaubst du, das ist der Grund, warum …«, setzte sie langsam an, in Gedanken immer noch bei Jace. 

»Der Grund wofür?« 

»Der Grund, warum Sonnenlicht dir keinen Schaden zufügt. Ich meine, vorher hat die Sonne dich doch versengt, oder? Vor jener Nacht auf Valentins Schiff?« 

Simon nickte zögernd. 

»Also, was hat sich verändert? Oder liegt es nur daran, dass du von Jace’ Blut getrunken hast?« 

»Du meinst, weil er ein Nephilim ist? Nein. Nein, das hat irgendwelche anderen Gründe. Du und Jace - ihr beide seid nicht ganz normal, stimmt’s? Ich meine, ihr seid keine normalen Schattenjäger. An euch ist irgendetwas Besonderes, an euch beiden. Genau wie die Feenkönigin es gesagt hat. Ihr seid Experimente.« Simon lächelte, als er Clarys bestürzten Blick sah. »Ich bin doch nicht blöd. Ich kann eins und eins zusammenzählen. Du mit deinen Runenfähigkeiten und Jace… na ja, niemand könnte so nervtötend sein wie er, wenn er nicht irgendwelche übernatürlichen Kräften besäße.« 

»Verabscheust du ihn wirklich so sehr?« 

»Ich verabscheue Jace überhaupt nicht«, protestierte Simon. »Okay, anfangs hab ich ihn gehasst. Er schien wahnsinnig arrogant und sich seiner selbst so sicher und du hast so getan, als hätte er das Rad erfunden …« 

»Das hab ich nicht!« 

»Lass mich ausreden, Clary.« In Simons Stimme schwang eine gewisse Atemlosigkeit mit - falls jemand, der nicht mehr atmete, als atemlos bezeichnet werden kann. Er klang, als wollte er unbedingt auf etwas hinaus. »Ich habe gesehen, wie sehr du ihn mochtest, aber ich dachte, er würde dich nur benutzen … dass er dich nur für eine dumme Irdische halten würde, die er mit seinen Schattenjägertricks beeindrucken konnte. Anfangs hab ich mir immer wieder gesagt, dass du niemals auf ihn hereinfallen würdest, und falls doch, dass er nach einer Weile genug von dir hätte und du zu mir zurückkommen würdest. Daraufhin ich nicht besonders stolz, aber wenn man verzweifelt ist, klammert man sich vermutlich an jeden Strohhalm. Und als sich dann herausstellte, dass er dein Bruder ist, erschien mir das wie eine Begnadigung in allerletzter Minute und ich war nur noch froh. Ich war sogar froh darüber, dass er unter der Situation schrecklich zu leiden schien - bis zu jener Nacht am Lichten Hof, als du ihn geküsst hast. Da konnte ich sehen …« Simon verstummte einen Moment. 

»Da konntest du was sehen?«, drängte Clary, unfähig, die Pause länger zu ertragen. 

»Die Art und Weise, wie er dich angesehen hat. In dem Augenblick wurde es mir klar. Er hatte dich zu keiner Zeit benutzt. Er liebte dich und das Ganze brach ihm das Herz.« 

»Ist das der Grund, weshalb du anschließend zum Hotel Dumort gelaufen bist?«, flüsterte Clary. Das hatte sie schon immer wissen wollen, sich aber nie zu fragen getraut. 

»Wegen dir und Jace? Nein, im Grunde nicht. Seit jener ersten Nacht in dem Hotel hatte ich immer an diesen Ort zurückkehren wollen. Ich habe davon geträumt. Manchmal bin ich aufgewacht und stand bereits angezogen auf der Straße, mit dem brennenden Wunsch, dorthin zurückzulaufen. Nachts war dieser Drang besonders schlimm oder wenn ich mich dem Hotel näherte. Dabei ist es mir nie in den Sinn gekommen, dass es sich um irgendeine übernatürliche Sache handeln könnte - ich hab immer gedacht, es wäre eine Art posttraumatische Reaktion oder so was. Nach jenem Besuch am Lichten Hof, als ich so erschöpft und wütend war und wir uns gar nicht weit vom Dumort aufhielten… und es außerdem tiefe Nacht war … Ich kann mich kaum erinnern, was dann passiert ist. Ich weiß nur noch, dass ich aus dem Park gelaufen bin. Doch was danach geschah …« 

»Aber wenn du nicht so wütend auf mich gewesen wärst, wenn wir dich nicht so verärgert hätten …« 

»Nein, es ist ja nicht so, als ob du eine Wahl gehabt hättest«, erwiderte Simon. »Und das war mir irgendwie auch bewusst. Man kann die Wahrheit nur eine bestimmte Zeit lang unterdrücken, aber dann bahnt sie sich mit aller Macht einen Weg. Der Fehler, den ich begangen habe, bestand darin, dass ich dir nicht erzählt habe, was in mir vorging, dass ich dir nichts von meinen Albträumen erzählt habe. Aber ich bereue nicht, dass wir eine Weile zusammen waren. Ich bin froh, dass wir es versucht haben. Und dafür allein liebe ich dich, auch wenn es nie funktioniert hätte.« 

»Ich habe mir so sehr gewünscht, dass es funktioniert«, sagte Clary leise. »Ich wollte dir ganz bestimmt nicht wehtun.« 

»Ich würde es nicht anders wollen, als es jetzt ist«, erwiderte Simon. »Für nichts in der Welt würde ich aufhören, dich zu lieben. Weißt du, was Raphael mir gesagt hat? Er meinte, ich wüsste nicht, wie ein anständiger Vampir sich zu verhalten hätte … und dass anständige Vampire akzeptieren würden, dass sie tot sind. Aber solange ich mich noch daran erinnern kann, wie es sich angefühlt hat, dich zu lieben, werde ich mich immer lebendig fühlen.« 

»Simon …« 

»Sieh mal, da unten!« Mit einer ungeduldigen Geste schnitt er ihr das Wort ab und zeigte mit weit aufgerissenen Augen nach unten auf die Stadt. 

Die Sonne war nur noch ein roter Schimmer am Horizont; als Clary hinüberschaute, flimmerte sie kurz und verschwand dann hinter dem dunklen Rand der Erde. 

Im nächsten Moment flammten die Dämonentürme von Alicante plötzlich weiß glühend auf. In ihrem Schein konnte Clary die dunkle Menge, die sich nun unruhig vor dem Nordtor hin und her bewegte, deutlich erkennen. »Was passiert da unten?«, flüsterte sie. »Die Sonne ist untergegangen, aber warum werden die Tore nicht geöffnet?« 

Simon saß reglos da. »Die Ratsmitglieder müssen Lukes Angebot abgelehnt haben«, sagte er leise. 

»Aber das können sie doch nicht machen!«, protestierte Clary mit zunehmend schriller Stimme. »Das würde bedeuten…« 

»… dass sie sich Valentin ergeben wollen.« 

»Das können sie nicht tun!«, rief Clary erneut empört, doch noch während sie auf Alicante hinunterblickte, sah sie, wie die Gruppen dunkler Gestalten vor dem Tor auf dem Absatz kehrtmachten und sich von der Stadt abwandten, wie Ameisen, die aus einem zerstörten Ameisenhügel herausströmten. 

Im schwindenden Licht der Abenddämmerung wirkte Simons Gesicht wächsern und bleich. »Offensichtlich hasst der Rat uns so sehr, dass er sich lieber für Valentin entscheidet.« 

»Hier geht’s nicht um Hass«, widersprach Clary, »sondern um Furcht. Sogar Valentin hat sich vor den Schattenweltlern gefürchtet«, fügte sie, ohne nachzudenken, hinzu und erkannte im selben Moment, dass es der Wahrheit entsprach. »Hier geht es um Furcht und Neid.« 

Überrascht schaute Simon zu Clary hinunter. »Neid?« 

Doch Clary war in Gedanken bereits bei dem Traum, den Ithuriel ihr gezeigt hatte, und Valentins Stimme erklang wieder in ihren Ohren. Ich wollte von ihm den Grund erfahren, das Warum. Warum Raziel uns geschaffen hat, das Geschlecht der Schattenjäger, uns aber nicht die Kräfte verliehen hat, die Schattenweltler besitzen: die Schnelligkeit der Werwölfe, die Unsterblichkeit der Feenwesen, die Zauberkräfte der Hexenmeister oder die Ausdauer der Vampire. Er ließ uns nackt im Angesicht der Höllengeburten zurück, nackt bis auf diese schwarzen Linien auf unserer Haut. Aber warum sollen ihre Kräfte unsere übersteigen? Warum können wir nicht auch das haben, was sie besitzen? 

Blind und mit leicht geöffneten Lippen starrte Clary auf die Stadt unter ihr. Wie aus großer Ferne nahm sie wahr, dass Simon ihren Namen rief, aber ihre Gedanken waren weit weg und überschlugen sich förmlich. Der Engel hätte ihr alles Mögliche zeigen können, überlegte Clary, aber aus irgendeinem Grund hatte er beschlossen, ihr genau diese Szenen zu zeigen, diese Erinnerungen. Sie dachte wieder an Valentin, der wütend hervorgestoßen hatte: Allein die Vorstellung, dass wir an alle Schattenwesen gebunden, an diese Kreaturen gefesselt sein sollten…! 

Und dann sah sie wieder die Rune vor sich, die Rune aus ihrem Traum, so schlicht wie ein geknüpfter Knoten. 

Warum können wir nicht auch das haben, was sie besitzen? 

»Gebunden«, murmelte sie vor sich. »Es ist eine Vereinigungsrune! Sie verbindet Gleich und Ungleich.« 

»Was?« Simon starrte sie verwirrt an. 

Doch Clary rappelte sich bereits auf und klopfte den Dreck von ihrem Umhang. »Ich muss sofort in die Stadt. Wo sind sie?« ‘ 

»Wo ist wer? Clary …« 

»Die Ratsmitglieder. Wo findet ihre Versammlung statt? Wo ist Luke?« 

Auch Simon stand nun auf. »In der Halle des Abkommens. Clary …« 

Aber Clary hatte sich schon in Bewegung gesetzt und stürmte den gewundenen Weg zur Stadt hinunter. Leise fluchend machte Simon sich daran, ihr zu folgen. 

 

Es heißt, alle Straßen führen zu dieser Halle. Sebastians Worte gingen Clary unaufhörlich durch den Kopf, während sie durch die schmalen Gassen Alicantes rannte. Sie konnte nur hoffen, dass diese Behauptung stimmte, denn sonst würde sie sich in der Stadt rettungslos verirren. Die Gassen wanden sich unüberschaubar durch das Häusermeer und ließen sich in nichts mit dem übersichtlichen, geraden, gitterartigen Straßennetz Manhattans vergleichen. In Manhattan wusste man immer, wo man sich befand, und alles war ordentlich angelegt und klar nummeriert. Aber das hier war ein Labyrinth! 

Hastig durchquerte Clary einen winzigen Innenhof und stürmte dann am Kanal entlang - sie wusste, wenn sie dem Wasserverlauf folgte, würde sie letztendlich zum Platz des Erzengels gelangen. Zu ihrer Überraschung führte der Weg an Amatis’ Haus vorbei und Sekunden später bog Clary keuchend in eine breitere, geschwungene Straße ein, die sie inzwischen gut kannte. Nach hundert Metern öffnete sich die Straße zu dem weiten Platz mit der Engelsstatue, an dessen hinterem Ende sich die weiße Abkommenshalle erhob. Neben der hell schimmernden Statue stand Simon mit verschränkten Armen und musterte sie finster. 

»Du hättest auf mich warten können«, stieß er hervor. 

Clary beugte sich vor und stützte sich schnaufend auf ihre Knie. »Das … meinst du … nicht ernst«, keuchte sie, »zumal du … noch vor mir… hier angekommen bist.« 

»Vampirgeschwindigkeit«, erklärte Simon mit einer gewissen Befriedigung in der Stimme. »Wenn wir wieder in New York sind, sollte ich mich zum Marathon anmelden.« 

»Das wäre … Betrug.« Mit einem letzten tiefen Atemzug richtete Clary sich auf und schob sich die verschwitzten Haare aus den Augen. »Komm. Wir müssen in die Halle.« 

Im Saal wimmelte es vor Schattenjägern - es waren deutlich mehr Nephilim, als Clary jemals auf einem Fleck gesehen hatte. Ihre erhobenen Stimmen erzeugten ein lautes Dröhnen, wie eine herabstürzende Lawine. Die meisten standen in streitlustigen Gruppen zusammen und diskutierten hitzig, während das Podium verlassen dalag und die Karte von Idris verloren von der Wand dahinter herabbaumelte. 

Fieberhaft schaute Clary sich nach Luke um. Es dauerte einen Moment, bis sie ihn entdeckte: Er lehnte mit halb geschlossenen Augen an einer Säule und sah schrecklich aus - halb tot und mit hängenden Schultern. Hinter ihm stand Amatis und klopfte ihm besorgt auf den Rücken. Erneut blickte Clary sich im Saal um, aber Jocelyn war nirgends zu sehen. 

Einen Moment lang zögerte Clary, doch dann dachte sie an Jace, der Valentins Verfolgung aufgenommen hatte, mutterseelenallein und in dem Wissen, dass er dabei möglicherweise ums Leben kam. Denn er wusste, dass er ein Teil dieser Ereignisse war, ein Teil dieser ganzen Geschichte - und das war sie auch. Sie war nie etwas anderes gewesen, selbst zu der Zeit, als sie von alldem hier noch nicht einmal das Geringste geahnt hatte. Das Adrenalin rauschte durch ihre Adern und schärfte ihre Sinne, sodass alles plötzlich viel klarer erschien. Fast schon zu klar. Rasch drückte Clary Simons Hand. »Wünsch mir Glück«, sagte sie; dann trugen ihre Füße sie fast ohne ihr Zutun zu den Podiumsstufen und einen Moment später stand sie auf dem Podium und wandte sich der Menge zu. 

Clary war sich nicht sicher, was sie erwartet hatte. Überraschte Ausrufe? Ein Meer schweigender, erwartungsvoller Gesichter? Doch die Menge beachtete sie kaum; nur Luke schaute auf, als hätte er ihre Gegenwart gespürt, und erstarrte mit einem erstaunten Ausdruck in den Augen. Aber dann tat sich doch etwas: Ein großer Mann mit hageren Zügen bahnte sich einen Weg durch die Menge, direkt auf Clary zu. Konsul Malachi. Er gestikulierte und bedeutete ihr, das Podium zu verlassen; dabei schüttelte er heftig den Kopf und rief etwas, das Clary aber nicht verstehen konnte. Während Malachi nach vorne stürmte, drehten sich immer mehr Schattenjäger zu ihr um, bis schließlich alle Anwesenden verstummten und sich ihr zuwandten. 

Clary hatte nun das erreicht, was sie wollte - sämtliche Augen waren auf sie gerichtet. Im nächsten Moment hörte sie ein Raunen durch die Menge gehen: Das ist sie. Das ist Valentins Tochter. 

»Ihr habt recht«, sagte sie mit lauter, klarer Stimme, »ich bin tatsächlich Valentins Tochter. Noch bis vor wenigen Wochen wusste ich nicht, dass er mein Vater ist - ich wusste noch nicht einmal von seiner Existenz. Mir ist klar, dass viele von euch das jetzt nicht glauben werden, aber das macht nichts. Glaubt, was ihr wollt. Solange ihr auch glaubt, dass ich Dinge über Valentin weiß, von denen ihr nichts ahnt … Dinge, die euch helfen könnten, diese Schlacht gegen ihn zu gewinnen - wenn ihr mir nur einen Moment zuhört.« 

»Lachhaft.« Malachi stand am Fuß der Podiumstreppe. »Das ist einfach lachhaft. Du bist doch nur ein kleines Mädchen …« 

»Sie ist Jocelyn Fairchilds Tochter«, hielt Patrick Penhallow entgegen. Er hatte sich durch die Menge bis zum Rand des Podiums geschoben und hob eine Hand. »Lass das Mädchen sagen, was sie zu sagen hat, Malachi.« 

Die Menge tuschelte aufgeregt.

»Sie«, wandte Clary sich laut an den Konsul. »Sie und der Inquisitor, Sie haben meinen Freund Simon ins Gefängnis geworfen …» 

Malachi schnaubte verächtlich. »Deinen Freund, den Vampir?« 

»Er hat mir erzählt, dass Sie von ihm wissen wollten, was in jener Nacht auf dem East River mit Valentins Schiff passiert ist. Sie waren davon überzeugt, dass Valentin irgendetwas unternommen haben musste, irgendeine Art schwarzer Magie. Aber das hat er nicht. Wenn Sie wissen wollen, wer oder was sein Schiff zerstört hat, dann steht die Antwort hier direkt vor Ihnen: Ich. Ich war diejenige.« 

Malachis ungläubiges Gelächter wurde aus verschiedenen Ecken im Saal erwidert. Luke schaute zu Clary hoch und schüttelte den Kopf, aber Clary ließ sich nicht beirren. 

»Ich habe sein Schiff mit einer Rune zerstört«, fuhr sie fort. »Einer Rune, die so mächtig war, dass sie das Schiff in tausend Stücke hat zerbersten lassen. Denn ich bin in der Lage, neue Runen zu erschaffen. Nicht nur diejenigen aus dem Grauen Buch, sondern Runen, die noch niemand zuvor je gesehen hat - mächtige Runen …« 

»Das reicht jetzt!«, donnerte Malachi. »So etwas ist doch lächerlich. Niemand kann neue Runen erschaffen. Das ist vollkommen unmöglich.« Mit einem höhnischen Grinsen wandte er sich an die Menge: »Genau wie der Vater - eine geborene Lügnerin!« 

»Nein, sie lügt nicht.« Die Stimme kam aus dem hinteren Teil der Menge; sie klang klar, laut und resolut. Sämtliche Köpfe drehten sich nach hinten und Clary sah, wer da gesprochen hatte: Alec. Er stand am Rand des Saals, flankiert von Isabelle und Magnus. Simon war bei ihnen und auch Maryse Lightwood. Die fünf bildeten eine kleine, entschlossen wirkende Gruppe in der Nähe der Eingangstür. »Ich habe gesehen, wie sie eine Rune erschaffen hat. Sie hat sie sogar an mir ausprobiert. Und es hat funktioniert.« 

»Du lügst doch«, schnaubte der Konsul, in dessen Augen sich allerdings erste Zweifel geschlichen hatten. »Du willst doch nur deine kleine Freundin beschützen …« 

»Also wirklich, Malachi«, sagte Maryse mit schneidender Stimme. »Warum sollte mein Sohn lügen, wenn die Wahrheit sich so einfach herausfinden lässt? Gib dem Mädchen eine Stele und lass sie eine Rune erschaffen.« 

Im Saal erhob sich beifälliges Gemurmel. Patrick Penhallow trat einen Schritt vor und hielt Clary eine Stele entgegen. Dankbar nahm sie sie und wandte sich wieder der Menge zu. 

Ihr Mund fühlte sich wie ausgetrocknet an, und obwohl noch immer Adrenalin durch ihre Adern rauschte, reichte es nicht, um ihr Lampenfieber vollständig zu unterdrücken. Was sollte sie nur tun? Welche Art von Rune sollte sie erschaffen, um diese Menge davon zu überzeugen, dass sie die Wahrheit sagte? Was würde diesen Menschen die Wahrheit vor Augen führen? 

Langsam hob sie den Blick und schaute über die Menge, bis sie Simon bei den Lightwoods sah, der gebannt in ihre Richtung blickte. Er schaute sie auf die gleiche Weise an wie Jace im Landhaus der Waylands. Es war das Einzige, was diese beiden Jungen, die sie so sehr liebte, miteinander verband, überlegte Clary, ihre einzige Gemeinsamkeit: Beide glaubten fest an sie, auch wenn Clary nicht einmal selbst an sich glaubte. 

Den Blick auf Simon geheftet und in Gedanken bei Jace, nahm sie die Stele und führte deren sengende Spitze an die Innenseite ihres Handgelenks, auf Höhe ihrer Pulsader. Dann schloss sie die Augen und zeichnete die geschwungenen Linien blind, im festen Vertrauen darauf, dass sie genau die Rune erschuf, die sie benötigte. Als Clary fertig war, hob sie den Kopf und öffnete die Augen. 

Ihr Blick fiel als Erstes auf Malachi. Sein Gesicht war kreidebleich und er wich entsetzt vor ihr zurück, während er etwas in einer Sprache murmelte, die Clary nicht verstand. Hinter ihm stand Luke und starrte sie mit leicht geöffnetem Mund an. »Jocelyn?«, fragte er ungläubig. 

Clary schüttelte leise den Kopf und schaute dann auf das Meer von Gesichtern vor ihr - manche lächelten, andere sahen sich überrascht um oder wandten sich an die Person, die neben ihnen stand. Während Clary ihren Blick über die Menge schweifen ließ, entdeckte sie weitere bestürzte und verblüffte Mienen, während andere Schattenjäger erstaunt die Hand vor den Mund geschlagen hatten. Clary sah Alec, der rasch zu Magnus hinüberschaute und dann wieder zu ihr, vollkommen ungläubig; sie sah Simon, der ziemlich verwirrt schien, und dann steuerte Amatis auf sie zu, schob sich an Patrick Penhallows massiger Gestalt vorbei und rannte zum Rand des Podiums. »Stephen!«, stieß sie hervor und betrachtete Clary mit einem Ausdruck völliger Verwunderung. »Stephen!« 

»Nein, Amatis«, sagte Clary, »leider nein.« Sekunden später spürte sie, wie die Kraft der Rune von ihr abfiel wie ein dünnes Tuch - sie hatte sie nur leicht gezeichnet, weil sie ihre Wirkung nur für einen kurzen Moment benötigte. Der sehnliche Ausdruck auf Amatis’ Gesicht verebbte und sie wich vom Podium zurück, eine Mischung aus Trauer und Verwunderung in den Augen. 

Clary schaute auf die Menge herab, die sie nun in sprachlosem Erstaunen anstarrte. »Ich weiß, was ihr alle gerade gesehen habt«, erklärte Clary. »Und ich weiß auch, dass ihr wisst, dass diese Art von Magie jeden Zauberglanz und jede Illusion bei Weitem übersteigt. Diesen Effekt habe ich mit einer Rune erzielt, einer einzigen Rune, die ich gerade erschaffen habe. Es gibt einen Grund, warum ich diese Fähigkeit besitze, und mir ist bewusst, dass er euch vielleicht nicht gefallen wird oder ihr ihn gar nicht glauben wollt. Aber das spielt jetzt keine Rolle. Das Einzige, was zählt, ist die Tatsache, dass ich euch helfen kann, diese Schlacht gegen Valentin zu gewinnen - wenn ihr mich nur lasst.« 

»Es wird keine Schlacht gegen Valentin geben«, sagte Malachi, wobei er jeden Augenkontakt mit Clary vermied. »Der Rat hat einen Entschluss gefasst: Wir werden Valentins Bedingungen akzeptieren und morgen früh unsere Waffen niederlegen.« 

»Das könnt ihr nicht tun«, widersprach Clary, in deren Stimme sich Verzweiflung schlich. »Glaubt ihr ernsthaft, alles wäre wieder wie früher, wenn ihr euch ergebt? Glaubt ihr, Valentin lässt euch einfach so weitermachen wie bisher? Und wird sich nur auf die Vernichtung von Dämonen und Schattenwesen beschränken?« Clary ließ ihren Blick über den Saal schweifen. »Die meisten von euch haben Valentin in den vergangenen fünfzehn Jahren nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht habt ihr ja vergessen, wie er wirklich ist. Aber ich weiß genau, wovon ich rede. Ich habe ihn von seinen Plänen erzählen hören. Ihr denkt, ihr könntet unter Valentins Herrschaft euer altes Leben einfach weiterführen, aber da irrt ihr euch. Er wird euch bis ins kleinste Detail kontrollieren und beherrschen, denn er kann euch jederzeit mit eurer Vernichtung drohen - mithilfe der Engelsinsignien. Natürlich wird er bei den Schattenweltlern anfangen, aber danach wird er sich den Rat vornehmen und dessen Mitglieder töten, weil er sie für schwach und korrupt hält. Anschließend wird er sich jedem widmen, der mit einem Schattenweltler auch nur entfernt verwandt ist… sei es ein Werwolf-Bruder…« - Clarys Blick streifte über Amatis -»… oder eine rebellische Teenagertochter, die sich gelegentlich mit Elbenrittern verabredet…» - ihre Augen wanderten zu den Lightwoods - »und jedem anderen, der mit einem Schattenweltler befreundet ist. Und dann wird er sich all diejenigen vorknöpfen, die je die Dienste eines Hexenmeisters in Anspruch genommen haben. Wie viele von euch mögen das wohl sein?« 

»Das ist völliger Unsinn«, widersprach Malachi scharf. »Valentin hat kein Interesse daran, die Nephilim zu zerstören.« 

»Aber er ist der Überzeugung, dass niemand, der sich mit Schattenwesen >abgibt<, es verdient, diesen Namen zu tragen«, beharrte Clary. »Begreift es doch: Eure Aufgabe besteht nicht darin, gegen Valentin zu kämpfen. Euer Kampf gilt den Dämonen … sie aus dieser Welt fernzuhalten. Das ist euer Auftrag, euer himmlischer Auftrag. Und einen vom Himmel erteilten Auftrag kann man nicht einfach ignorieren. Auch die Schattenweltler hassen Dämonen. Und sie vernichten sie ebenfalls, wo sie können. Aber wenn Valentin seinen Willen bekommt, wird er so viel Zeit mit der Ermordung aller Schattenwesen und jedes mit ihnen verbündeten Schattenjägers verbringen, dass er die Dämonen vollkommen aus den Augen verlieren wird. Und euch wird es nicht anders ergehen, denn ihr werdet in ständiger Furcht vor Valentin leben. Und dann werden die Dämonen diese Welt überrollen - und das war’s dann endgültig.« 

»Ich verstehe, worauf das hier hinauslaufen soll«, stieß Malachi zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Aber wir werden nicht an der Seite von Schattenwesen in eine Schlacht ziehen, die wir nicht gewinnen können …« 

»Aber genau darum geht es doch: Ihr könnt sie gewinnen«, protestierte Clary. »Ihr könnt diese Schlacht gewinnen!« Ihre Kehle war wie ausgetrocknet, ihr Kopf pochte vor Schmerz und die Gesichter in der Menge vor ihr schienen zu einer nichtssagenden Masse zu verschwimmen, nur hin und wieder von weißen Lichtblitzen durchbrochen. Nein, du darfst jetzt nicht aufgeben, ermahnte sie sich, du musst weitermachen. Du musst es wenigstens versuchen. »Mein Vater hasst die Schattenweltler so sehr, weil er neidisch auf sie ist«, fuhr sie hastig fort, wobei sich ihre Worte fast überschlugen. »Neidisch und von Furcht erfüllt… wegen all der Eigenschaften, die Schattenwesen besitzen, er aber nicht. Er hasst den Gedanken, dass sie in mancher Hinsicht mächtiger als die Nephilim sind, und ich wette, mit diesem Hass steht er nicht alleine da. Denn es ist leicht, sich vor etwas zu fürchten, das man selbst nicht besitzt.« Clary holte tief Luft. »Aber was wäre, wenn ihr diese Eigenschaft teilen könntet? Was, wenn ich eine Rune erschaffen könnte, die euch - jeden einzelnen Schattenjäger - mit einem Schattenwesen vereinigen würde, der an eurer Seite kämpfen würde … dessen Kräfte ihr teilen könntet: Ihr würdet so schnell verheilen wie Vampire, wärt so zäh wie Werwölfe oder so geschickt wie ein Elbenritter. Und die Schattenweltler könnten umgekehrt von eurem Training profitieren, von euren Kampffähigkeiten. Ihr könntet eine unschlagbare Truppe sein - wenn ihr euch von mir mit dem entsprechenden Runenmal versehen lasst und gemeinsam mit den Schattenweltlern in die Schlacht zieht. Denn wenn ihr nicht Seite an Seite mit ihnen kämpft, werden die Runenmale nicht wirken.« Clary schwieg einen Moment. »Bitte!«, sagte sie, aber ihre Stimme war durch ihre ausgetrocknete Kehle kaum zu hören. »Bitte, lasst mich euch mit dem Runenmal versehen.« 

Ihre Worte fielen in eine sirrende Stille. Die Welt verschwamm in wogenden Farben und Clary erkannte, dass sie während der letzten Minuten ihrer Ansprache zur Hallendecke geschaut hatte und dass es sich bei den weißen Lichtblitzen, die sie gesehen hatte, um die Sterne handelte, die nach und nach am nächtlichen Firmament erschienen waren. Die Stille dauerte an und Clarys Hände, die locker herabgehangen hatten, ballten sich wie in Zeitlupe zu Fäusten. Und dann senkte sie langsam, sehr langsam den Blick und schaute in die Gesichter der Menge, die sie mit großen Augen anstarrte. 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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