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WO LEID IST … 

 

Schwer atmend erwachte Clary aus einem Traum mit blutenden Engeln, das Bettlaken in einer engen Spirale um ihre Beine gewickelt. In Amatis’ Gästezimmer war es stockdunkel und stickig, fast wie in einem Sarg. Clary streckte einen Arm aus und riss die Vorhänge auf. Tageslicht strömte in den Raum. Doch dann warf sie einen Blick aus dem Fenster, runzelte die Stirn und zog die Vorhänge wieder zu.

Die Nephilim verbrannten ihre Toten und seit dem Angriff der Dämonen war der Himmel im Westen der Stadt ständig von Rauchwolken verhangen. Der Anblick bereitete Clary Übelkeit, daher ließ sie die Vorhänge weitgehend geschlossen. In der Dunkelheit des Gästezimmers schloss sie die Augen und versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern. Darin waren Engel vorgekommen und das Bild der Rune, die Ithuriel ihr gezeigt hatte - wieder und wieder hatte sie sich hinter Clarys geschlossenen Lidern abgezeichnet, wie ein blinkendes grünes Ampelmännchen. Es handelte sich um eine einfache Rune, so schlicht wie ein geknüpfter Knoten; aber sosehr Clary sich auch konzentrierte, es gelang ihr nicht, sie zu entziffern, ihre Bedeutung zu erkennen. Sie wusste nur eines: Die Rune erschien ihr irgendwie unvollständig, als hätte ihr Schöpfer das Ornament nicht vollendet.

Dies sind nicht die ersten Träume, die ich dir geschickt habe, hatte Ithuriel gesagt. Unwillkürlich musste Clary an ihre anderen Träume denken: Simon mit eingebrannten Kruzifixen in den Handflächen, Jace mit weißen Schwingen, Seen mit gefährlich knackenden Eisflächen, die glitzerten wie Spiegelglas. Hatte der Erzengel ihr diese Träume ebenfalls gesandt? 

Seufzend setzte Clary sich auf. Die Träume mochten nicht schön sein, aber die Wachbilder, die ihr durch den Kopf spukten, waren auch nicht viel besser: Isabelle, die schluchzend auf dem Boden der Abkommenshalle kauerte und sich mit solcher Vehemenz die schwarzen Haare raufte, dass Clary schon fürchtete, sie würde sich alle ausreißen. Maryse, die Jia Penhallow anschrie und ihr mit überschlagender Stimme vorwarf, der Junge, den sie in ihr Haus geholt hatten, habe dieses abscheuliche Verbrechen begangen … ihr Cousin … und wenn er ein solch enger Verbündeter Valentins sei, was sage das dann über die Penhallows aus? Alec, der versuchte, seine Mutter zu beruhigen, und Jace vergebens bat, ihm dabei zu helfen. Jace, der einfach nur dastand, während über Alicante die Sonne aufging und durch das Glasdach der Halle strahlte. »Der Morgen ist angebrochen«, hatte Luke gesagt und dabei erschöpfter gewirkt, als Clary ihn jemals gesehen hatte. »Zeit, die Toten zusammenzuholen.« Und dann hatte er Patrouillen losgeschickt, um die toten Schattenjäger und Lykanthropen, die noch in den Straßen lagen, einzusammeln und zum Platz vor der Abkommenshalle zu bringen - derselbe Platz, den Clary mit Sebastian überquert hatte und wo sie gemeint hatte, das Gebäude erinnere ein wenig an eine Kirche. Damals war ihr der Platz sehr hübsch vorgekommen, mit seinen Blumenkästen und den leuchtend bunten Ladenfronten. Doch nun stapelten sich hier die Leichen.

Dazu gehörte auch Max. Beim Gedanken an den kleinen Jungen, der sich mit ihr so ernsthaft über Mangas unterhalten hatte, krampfte sich Clarys Magen zusammen. Sie hatte ihm versprochen, ihn einmal zu Forbidden Planet mitzunehmen, doch daraus würde nun nichts mehr werden. Ich hätte ihm Bücher gekauft, dachte sie, alle Bücher, die er sich gewünscht hätte. Aber das spielte jetzt keine Rolle mehr. 

Nur nicht darüber nachdenken, ermahnte sie sich, schlug die Decke zurück und stand auf. Nach einer schnellen Dusche zog sie die Jeans und die anderen Kleidungsstücke an, die sie am Tag ihrer Ankunft in Idris getragen hatte. Ehe sie ihren Pullover überstreifte, drückte sie sehnsüchtig das Gesicht in das Material, in der Hoffnung, einen Hauch von Brooklyn riechen zu können oder den Duft des heimischen Waschmittels - irgendetwas, das sie an zu Hause erinnerte. Doch die Sachen waren gewaschen worden und rochen nach Zitronenseife. Clary stieß einen weiteren Seufzer aus und lief die Treppe hinunter. 

Das Haus war leer - bis auf Simon, der auf dem Sofa im Wohnzimmer saß. Durch die geöffneten Fenster hinter ihm strömte Tageslicht. Simon war inzwischen wie eine Katze, überlegte Clary, immer auf der Suche nach einem Fleckchen Sonnenschein, in dem er sich dann genüsslich zusammenrollen konnte. Aber ganz gleich, wie viel Sonne er auch abbekam, seine Haut blieb immer makellos weiß.

Clary nahm einen Apfel aus der Obstschale auf dem Tisch, ließ sich neben Simon auf dem Sofa nieder und zog die Beine unter den Po. »Hast du schlafen können?«

»Ein wenig.« Simon musterte sie eingehend. »Eigentlich sollte ich dich das fragen. Du bist diejenige mit den dunklen Ringen unter den Augen. Noch mehr Albträume?« 

Clary zuckte die Achseln. »Immer das Gleiche: Tod, Zerstörung, böse Engel.«

»Also fast wie im richtigen Leben.«

»Ja, aber wenigstens ist der Spuk vorbei, wenn ich aufwache.« Sie biss herzhaft in ihren Apfel. »Lass mich raten: Luke und Amatis sind in der Abkommenshalle, bei noch einer Besprechung.«

»Ja. Ich glaube, das ist die Besprechung, in der sie besprechen, welche weiteren Besprechungen sie anberaumen müssen.« Gedankenverloren zupfte Simon an der Fransenkante eines Sofakissens. »Hast du irgendetwas von Magnus gehört?«

»Nein.« Clary versuchte, nicht über die Tatsache nachzudenken, dass sie Magnus zum letzten Mal vor drei Tagen gesehen und er sich seitdem nicht mehr gemeldet hatte. Oder über die Tatsache, dass ihn im Grunde nichts daran hinderte, sich das Weiße Buch zu schnappen und damit auf Nimmerwiedersehen in den Tiefen des Äthers zu verschwinden. Sie fragte sich, wie sie jemals hatte auf die Idee kommen können, jemandem zu vertrauen, der so viel Eyeliner trug.

Vorsichtig berührte sie Simon am Handgelenk. »Und du? Was ist mit dir? Fühlst du dich immer noch wohl hier?« Eigentlich hatte Clary Simon unmittelbar nach Beendigung der Schlacht mit den Dämonen nach New York schicken wollen - nach Hause, wo er in Sicherheit wäre. Doch seltsamerweise hatte er sich gegen ihren Vorschlag gesträubt; aus irgendeinem Grund schien er bleiben zu wollen. Sie konnte nur hoffen, dass er das nicht ihretwegen beschlossen hatte, nur weil er glaubte, er müsse sich um sie kümmern. Fast wäre ihr die Bemerkung herausgerutscht, dass sie seinen Schutz nicht brauchte, doch dann hatte sie geschwiegen - unter anderem auch deshalb, weil ein Teil von ihr es nicht ertragen konnte, ihn gehen zu sehen. Also war Simon geblieben, worüber Clary insgeheim - und mit einem leicht schlechten Gewissen - froh war. »Bekommst du auch alles… du weißt schon … alles, was du brauchst?«, fragte sie nun. 

»Du meinst Blut? Ja, Maia bringt mir weiterhin täglich ein paar Flaschen. Aber frag mich nicht, woher sie es hat.« Am ersten Morgen, den Simon in Amatis’ Haus verbrachte, war ein grinsender Lykanthrop an der Haustür erschienen, mit einer lebenden Katze in der Hand. »Blut«, hatte er in einem starken Akzent gesagt und ihm das Tier entgegengehalten. »Für dich. Frisches Blut!« Simon hatte dem Werwolf gedankt, dann gewartet, bis dieser wieder verschwunden war, und die Katze anschließend freigelassen, mit einer leicht grünlichen Gesichtsfarbe.

»Na ja, irgendwoher wirst du dein Blut schließlich bekommen müssen«, hatte Luke mit einem amüsierten Ausdruck in den Augen bemerkt.

»Ich habe zu Hause einen Kater«, hatte Simon erwidert. »Kommt nicht infrage.«

»Okay, ich werde Maia Bescheid geben«, hatte Luke versprochen und von da an war das Blut jeden Morgen in diskreten Glasflaschen angeliefert worden. Clary hatte keine Ahnung, wie Maia das hinbekam, und genau wie Simon wollte sie es eigentlich auch gar nicht wissen. Seit der Nacht der Dämonenschlacht hatte sie das Werwolfmädchen nicht mehr gesehen - die Lykanthropen kampierten irgendwo im nahe gelegenen Wald und nur Luke war in der Stadt geblieben.

»Was ist los?« Simon lehnte den Kopf zurück und betrachtete Clary durch halb geschlossene Lider. »Du siehst aus, als wolltest du mich irgendetwas fragen.«

Es gab eine ganze Reihe von Dingen, die Clary ihn gern gefragt hätte, doch sie entschied sich für ein eher unverfängliches Thema. »Hodge …«, setzte sie an und zögerte dann einen Moment. »Als du mit ihm in dem Verlies warst, hast du da wirklich nicht gewusst, wer er war?«

»Ich hab ihn doch nicht sehen können … und seine Stimme nur ganz schwach durch die Wand gehört. Wir haben geredet - viel geredet.«

»Und, hast du ihn gemocht? Ich meine, war er nett?«

»Nett? Ich weiß nicht recht. Eher gequält, traurig, intelligent und in manchen Momenten auch mitfühlend. Ja, ich hab ihn gemocht. Ich glaube, ich habe ihn irgendwie an sich selbst erinnert …«

»Sag doch nicht so was!«, protestierte Clary, setzte sich kerzengerade auf und ließ ihren Apfel fast fallen. »Du bist überhaupt nicht wie Hodge.« 

»Du meinst also nicht, ich wäre gequält und intelligent?«

»Hodge war böse. Das bist du nicht«, erwiderte Clary mit Nachdruck. »Und mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« 

Simon seufzte. »Die Menschen kommen nicht gut oder böse auf die Welt. Möglicherweise werden sie mit der einen oder anderen Neigung geboren, aber es kommt darauf an, wie man sein Leben führt. Und mit welchen Leuten man umgeht. Valentin war Hodges Freund und ich glaube nicht, dass Hodge irgendjemand anderes in seinem Umfeld hatte, der ihn zur Rede stellen oder zu einem besseren Menschen hätte machen können. Wenn ich so ein Leben führen würde - ich weiß nicht, was dann aus mir werden würde. Aber glücklicherweise muss ich das nicht. Denn ich habe meine Familie. Und ich habe dich.«

Clary schenkte ihm ein Lächeln, aber seine Worte hallten schmerzhaft in ihren Ohren nach. Die Menschen kommen nicht gut oder böse auf die Welt. Das hatte sie auch immer geglaubt, doch in den Bildern, die der Engel ihr gezeigt hatte, war zu sehen gewesen, wie ihre Mutter ihr eigenes Kind als böse bezeichnet hatte, als Monster. Clary wünschte, sie könnte Simon davon erzählen, ihm alles berichten, was der Engel ihr gezeigt hatte, doch das ging nicht. Denn es hätte bedeutet, ihm auch die Dinge zu erzählen, die sie über Jace herausgefunden hatten, und das konnte sie unmöglich riskieren. Es war sein Geheimnis, nicht ihres. Simon hatte sie ein einziges Mal gefragt, was Jace während des Gesprächs mit Hodge gemeint hatte, warum er sich selbst als Monster bezeichnet hatte. Clary hatte darauf nur erwidert, dass es selbst zu besten Zeiten schwierig nachzuvollziehen sei, was Jace meinte. Sie war sich nicht sicher, ob Simon ihr geglaubt hatte, aber er hatte auch nicht nachgehakt. 

Auch in diesem Moment blieb ihr eine Antwort erspart, da es laut an der Haustür klopfte. Stirnrunzelnd legte Clary das Apfelgehäuse auf den Tisch. »Ich geh schon«, sagte sie.

Als sie die Tür öffnete, wehte eine Woge kalter, frischer Luft herein. Auf den Stufen stand Aline Penhallow, in einer violettrosa Seidenjacke, deren Farbe fast den Ringen unter ihren Augen entsprach.

»Ich muss mit dir reden«, sagte sie ohne Umschweife.

Clary konnte nur überrascht nicken und ihr die Tür aufhalten. »Okay. Komm rein.«

»Danke.« Aline schob sich brüsk an ihr vorbei und marschierte ins Wohnzimmer. Als sie Simon auf dem Sofa entdeckte, erstarrte sie und musterte ihn verblüfft. »Ist das nicht…«

»Der Vampir?« Simon grinste, wobei die normalerweise kaum wahrnehmbare, unnatürliche Schärfe seiner Schneidezähne nun deutlich zum Vorschein kam. Clary wünschte, er würde nicht so breit grinsen.

Sofort wandte Aline sich an Clary: »Kann ich mit dir unter vier Augen sprechen?«

»Nein«, erwiderte Clary und setzte sich neben Simon auf das Sofa. »Alles, was du zu sagen hast, kannst du uns beiden sagen.«

Aline biss sich auf die Lippe. »Also schön. Es gibt da etwas, was ich Alec und Jace und Isabelle gern mitteilen möchte. Aber ich weiß nicht, wo ich sie finden kann.«

Clary seufzte. »Die Lightwoods haben ihre Beziehungen spielen lassen und sind in ein leer stehendes Haus gewechselt. Die Eigentümer sind aufs Land gezogen.«

Aline nickte. Seitdem Dämonenangriff hatten viele Familien Idris verlassen. Die meisten waren zwar geblieben, deutlich mehr Schattenjäger als Clary erwartet hätte, aber eine ganze Reihe hatte die Sachen gepackt und war fortgezogen, weshalb ihre Häuser nun leer standen.

»Es geht ihnen gut, falls du danach fragen wolltest«, erklärte Clary. »Ich habe sie auch schon eine Weile nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht seit der Schlacht. Wenn du willst, kann ich ihnen über Luke eine Nachricht zukommen lassen …« 

»Ich weiß nicht recht.« Aline kaute erneut auf ihrer Unterlippe herum. »Meine Eltern haben Sebastians Tante in Paris mitteilen müssen, was er getan hat. Sie war zutiefst bestürzt.«

»Was nur natürlich ist, wenn sich der eigene Neffe als bösartiges Genie entpuppt«, bemerkte Simon.

Aline warf ihm einen finsteren Blick zu. »Sie meinte, das wäre vollkommen untypisch für ihn und dass da irgendein Irrtum bestehen müsse. Also hat sie mir ein paar Fotos von ihm geschickt.« Aline griff in ihre Tasche und zog mehrere leicht geknickte Fotografien hervor, die sie Clary reichte. »Hier, sieh mal.«

Clary warf einen Blick auf die Bilder. Sie zeigten einen lachenden, dunkelhaarigen Jungen, der mit seinem verschmitzten Grinsen und der etwas zu großen Nase auf ganz eigene Weise attraktiv wirkte. Er sah aus wie die Sorte von Jungs, mit der man bestimmt viel Spaß haben konnte - und kein bisschen wie Sebastian. »Das ist dein Cousin?«, fragte Clary entgeistert. ;i ; 

»Das ist Sebastian Verlac. Was bedeutet…«

».. . dass der Junge, der hier war und sich als Sebastian ausgegeben hat, jemand vollkommen anderes war?« Mit wachsender Beunruhigung blätterte Clary durch die Fotos.

»Ich habe mir überlegt…«, setzte Aline an und strapazierte erneut ihre Unterlippe, »ich dachte, wenn die Lightwoods erführen, dass Sebastian - oder wer auch immer dieser Junge war - nicht unser Cousin ist, dass sie mir dann vielleicht vergeben würden. Uns vergeben würden.« 

»Da bin ich mir sogar ziemlich sicher.« Clary versuchte, ihrer Stimme einen möglichst freundlichen, warmen Ton zu verleihen. »Aber diese Geschichte geht vermutlich noch viel weiter. Der Rat sollte darüber informiert werden, dass Sebastian nicht einfach nur ein irregeleiteter Schattenjägerjunge ist, sondern von Valentin ganz bewusst als Spion eingesetzt wurde.«

»Dabei war er so überzeugend«, sagte Aline. »Er wusste Dinge, von denen nur unsere Familie wusste. Begebenheiten aus unserer Kindheit…«

»Da stellt sich doch die Frage, was mit dem echten Sebastian passiert ist. Deinem Cousin«, meinte Simon. »Allem Anschein nach hat er Paris verlassen, um nach Idris zu reisen, ist hier aber nie angekommen. Also, was ist ihm unterwegs widerfahren?«

Darauf wusste Clary die passende Antwort: »Valentin ist ihm widerfahren. Er muss alles von langer Hand geplant und genau gewusst haben, wo Sebastian sich aufhalten würde und wie er ihn auf dem Weg hierher abfangen konnte. Und wenn er das mit Sebastian gemacht hat…«

»Dann hat er das bestimmt auch noch mit anderen gemacht«, ergänzte Aline. »Du solltest unbedingt mit dem Rat reden, Erzähle Lucian Graymark davon.« Als sie Clarys überraschten Blick auffing, fügte sie hinzu: »Die Leute hören auf ihn. Das haben zumindest meine Eltern gesagt.«

»Wie war’s, wenn du uns zur Abkommenshalle begleitest?«, schlug Simon vor. »Dann kannst du es ihm selbst erzählen.«

Aline schüttelte den Kopf. »Ich kann den Lightwoods nicht unter die Augen treten. Vor allem Isabelle nicht. Sie hat mir das Leben gerettet und ich … ich bin einfach weggerannt. Aber ich konnte nichts dagegen tun. Ich musste einfach fort.« 

»Du hast unter Schock gestanden - das ist doch nicht deine Schuld.«

Doch Aline wirkte nicht sehr überzeugt. »Und jetzt die Geschichte mit ihrem Bruder …« Sie verstummte und biss sich ein weiteres Mal auf die Lippe. »Na ja, wie dem auch sei … Aber ich wollte dir noch etwas sagen, Clary.« 

»Mir?« Clary war sprachlos. 

»Ja.« Aline holte tief Luft. »Als du … als du Jace und mich vor ein paar Tagen in der Bibliothek überrascht hast… das hatte nichts zu bedeuten. Ich habe ihn geküsst. Es war… eine Art Experiment. Und es hat nicht funktioniert.« 

Clary spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss und sie rot anlief, vermutlich in einem spektakulären Scharlachrot. Warum erzählt sie mir das alles?, fragte sie sich und erwiderte dann betont beiläufig: »Ist schon okay. Das ist schließlich Jace’ Privatsache und geht mich nichts an.« 

»Na ja, du schienst damals ziemlich bestürzt zu sein.« Ein kleines Lächeln umspielte Alines Mundwinkel. »Und ich glaube, ich kenne auch den Grund dafür.« - :

Clary schluckte hart, um den säuerlichen Geschmack in ihrem Mund zu beseitigen. »Tatsächlich?«

»Es ist doch so: Dein Bruder ist ziemlich begehrt. Das weiß schließlich jeder. Er war schon mit einer beträchtlichen Menge Mädchen verabredet. Und da hattest du eben einfach die Sorge, wenn er mit mir rummacht, würde ihn das in Schwierigkeiten bringen. Schließlich sind - waren - unsere Familien eng befreundet. Aber darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Er ist nicht mein Typ.« 

»Ich glaub nicht, dass ich den Satz schon mal von einem Mädchen gehört habe«, bemerkte Simon. »Ich hab immer gedacht, Jace wäre die Sorte von Junge, die jedermanns Typ ist.«

»Ja, das habe ich auch gedacht«, sagte Aline gedehnt, »und darum hab ich ihn auch geküsst. Ich wollte herausfinden, welche Sorte von Junge mein Typ ist.«

Sie hat Jace geküsst - und nicht umgekehrt, dachte Clary. Sie hat ihn geküsst! Über Alines Kopf hinweg kreuzte sich ihr Blick mit dem ihres alten Freundes. Simon wirkte belustigt. »Und, zu welchem Ergebnis bist du gekommen?« 

Aline zuckte die Achseln. »Ich bin mir noch nicht sicher. Aber wenigstens brauchst du dir wegen Jace keine Sorgen mehr zu machen.«

Schön war’s. »Wegen Jace muss ich mir immer Sorgen machen.« 

 

Der Saal im Inneren der Abkommenshalle war nach der Dämonenschlacht notdürftig repariert worden und diente seit der Zerstörung der Garnison als Versammlungsort der Schattenjägerkongregation sowie als Treffpunkt für all jene, die nach vermissten Familienmitgliedern suchten oder die neuesten Nachrichten in Erfahrung bringen wollten. Der Brunnen in der Saalmitte war trockengelegt und auf beiden Seiten mit mehreren Reihen langer Holzbänke flankiert worden, ausgerichtet auf ein erhöhtes Podium am hinteren Ende des Saals. Während einige Nephilim offensichtlich in einer Ratsbesprechung zusammensaßen, liefen Dutzende anderer besorgt durch die Gänge und Arkaden, die den zentralen Bereich umgaben. Die Halle wirkte nicht länger wie ein Ort, der zum Tanzen einlud: Eine angespannte Stimmung lag in der Luft, eine Mischung aus Nervosität und böser Vorahnung. 

Trotz der Ratsversammlung in der Raummitte war der Saal vom leisen Gemurmel zahlreicher Gespräche erfüllt. Während Clary und Simon sich langsam vorwärtsbewegten, schnappten sie verschiedene Satzfetzen auf: Die Dämonentürme funktionierten wieder. Die Schutzschilde waren reaktiviert, aber schwächer als zuvor. In den Hügeln südlich der Stadt hatte man Dämonen gesichtet. Viele Landhäuser wirkten verlassen. Weitere Familien hatten der Stadt den Rücken gekehrt, darunter einige, die ganz aus dem Rat ausgetreten waren.

Auf dem erhöhten Podium stand der Konsul, umgeben von großen Karten der Stadt, und starrte finster wie ein Leibwächter vor sich hin, während neben ihm ein kleiner, gedrungener, grau gekleideter Mann ununterbrochen redete und dabei wütend gestikulierte. Doch niemand schien ihm Beachtung zu schenken.

»Oh Mist, das ist der Inquisitor«, murmelte Simon und deutete verstohlen auf den Mann. »Aldertree.« 

»Und da drüben ist Luke«, sagte Clary, als sie ihn in der Menge entdeckt hatte. Er lehnte gegen den trockengelegten Brunnen, tief in ein Gespräch vertieft mit einem Mann in stark verschlissener Kampfmontur und einem Verband, der fast seine ganze linke Gesichtshälfte verdeckte. Clary hielt nach Amatis Ausschau und entdeckte sie schließlich am hinteren Ende einer Holzbank, wo sie allein und weitab von den anderen Schattenjägern saß. Als sie Clarys Blick auffing, zog sie ein verblüfftes Gesicht und machte Anstalten, aufzustehen und auf sie zuzugehen. 

Doch in dem Augenblick sah Luke Clary, runzelte die Stirn, wechselte mit dem bandagierten Mann ein paar Worte und entschuldigte sich für einen Moment. Dann durchquerte er mit großen Schritten den Saal und marschierte zu der Säule, an der Clary und Simon stehen geblieben waren. Während er auf sie zukam, verfinsterte sich seine Miene zunehmend. »Was machst du hier?«, wandte er sich an Clary. »Du weißt doch, dass der Rat bei seinen Sitzungen keine Minderjährigen duldet. Und was dich betrifft…« Er funkelte Simon an. »Vermutlich wäre es eine gute Idee, wenn du deine Nase nicht gerade in Gegenwart des Inquisitors zeigen würdest, selbst wenn er kaum etwas dagegen machen kann.« Doch dann stahl sich ein Lächeln in Lukes Gesicht. »Jedenfalls nicht, ohne eine zukünftige Allianz zwischen Schattenweltlern und Rat zu gefährden.« 

»Stimmt genau.« Simon wackelte mit den Fingern in Aldertrees Richtung, der dessen Winken jedoch ignorierte.

»Simon, lass das!«, rief Clary ihn zur Ordnung, wandte sich anschließend an Luke und drückte ihm die Fotos von Sebastian in die Hand. »Wir sind aus einen bestimmten Grund hier: Das ist Sebastian Verlac. Der echte Sebastian Verlac.« 

Lukes Miene verdüsterte sich. Schweigend blätterte er die Fotografien durch, während Clary ihm berichtete, was Aline ihr erzählt hatte. Währenddessen stand Simon unbehaglich daneben und starrte hinüber zu Aldertree, der ihn jedoch weiterhin geflissentlich übersah.

»Besteht zwischen dem echten Sebastian und seinem Nachahmer große Ähnlichkeit?«, fragte Luke schließlich.

»Nein, eigentlich nicht«, erklärte Clary. »Der falsche Sebastian war größer. Und ich vermute, er war blond - jedenfalls hat er sich die Haare gefärbt. Kein Mensch hat so schwarze Haare.« Und die Koloration hat abgefärbt, als ich ihm mit den Fingern durchs Haar gefahren bin, grübelte sie, behielt diesen Gedanken aber für sich. »Aline hat uns gebeten, dir und den Lightwoods diese Fotos zu zeigen. Sie dachte, wenn sie vielleicht erfuhren, dass Sebastian nicht wirklich mit den Penhallows verwandt war…« 

»Dann hat Aline ihren Eltern nichts von den Bildern erzählt?«, fragte Luke und zeigte auf die Fotos.

»Nein, noch nicht, glaube ich«, überlegte Clary. »Ich denke, sie ist direkt zu mir gekommen. Und sie wollte, dass ich dir davon berichte. Sie meinte, die Leute würden auf dich hören.«

»Vielleicht der eine oder andere«, wiegelte Luke ab und schaute in Richtung des Mannes mit dem bandagierten Gesicht. »Ich habe mich gerade mit Patrick Penhallow unterhalten, als ihr gekommen seid. Valentin war früher eng mit ihm befreundet gewesen und möglicherweise hat er die Familie Penhallow im Laufe der Jahre weiterhin beschatten lassen. Hodge hat dir doch erzählt, dass Valentins Spitzel überall sind.« Luke reichte Clary die Fotos zurück. »Bedauerlicherweise nehmen die Lightwoods an der heutigen Sitzung nicht teil. Heute Morgen war Max’ Begräbnis. Sie sind wahrscheinlich noch auf dem Friedhof.« Als er den Ausdruck auf Clarys Gesicht sah, fügte er hinzu: »Es war eine sehr kleine Trauerfeier, Clary. Nur im engsten Familienkreis.«

Aber ich gehöre doch zu Jace’ Familie, protestierte ein dünnes Stimmchen in ihrem Kopf. Doch dann meldete sich eine andere, lautere Stimme zu Wort, die Clary aufgrund ihrer Verbitterung überraschte. Aber er hat dir auch gesagt, dass er sich in deiner Nähe so fühlen würde, als würde er langsam von innen verbluten. Glaubst du ernsthaft, dass er das gebrauchen kann - an einem Tag, an dem er Max zu Grabe getragen hat? 

»Vielleicht kannst du die Lightwoods ja heute Abend informieren«, bat Clary. »Ich meine, das ist doch eine gute Nachricht. Wer auch immer Sebastian sein mag - er ist nicht mit ihren Freunden verwandt.«

»Es wäre eine noch bessere Nachricht, wenn wir wüssten, wo er sich im Moment aufhält«, murmelte Luke. »Oder welche anderen Spitzel Valentin hier eingeschleust hat. Es muss eine ganze Reihe sein, wenn man bedenkt, wie schwierig es ist, die Schutzschilde außer Gefecht zu setzen. Das konnte nur innerhalb der Stadtmauern durchgeführt werden.«

»Hodge meinte, Valentin habe einen Weg gefunden«, erklärte Simon. »Er sagte, es erfordere Dämonenblut, um die Schutzschilde zu deaktivieren, und es bestünde keine Möglichkeit, dieses Blut an den Schilden vorbei in die Stadt zu schmuggeln. Aber Valentin habe eine Art Hintertürchen gefunden.«

»Irgendjemand hat mit Dämonenblut eine Rune auf eine der Turmspitzen gemalt«, seufzte Luke. »Das heißt, Hodge lag mit seiner Vermutung richtig. Leider hat der Rat immer viel zu sehr auf seine Schutzschilde vertraut. Aber selbst für das vertrackteste Rätsel gibt es immer eine Lösung.«

»Das erinnert mich an die falsche Sicherheit, in der man sich häufig bei Computerspielen wiegt«, bemerkte Simon. »In dem Moment, in dem man seine Festung mit einem Unsichtbarkeits-Zauberspruch kaschiert und vermeintlich beschützt hat, kommt irgendjemand daher und findet im Nu heraus, wie er die Anlage total verwüsten kann.« 

»Simon, halt die Klappe«, murmelte Clary.

»Er liegt mit seiner Beobachtung gar nicht mal so weit daneben«, widersprach Luke. »Wir wissen nur noch nicht, wie Valentin es geschafft hat, Dämonenblut in die Stadt zu schmuggeln, ohne vorher die Schutzschilde zu deaktivieren.« Dann zuckte er die Achseln. »Doch das ist im Moment unser geringstes Problem. Die Schutzschilde funktionieren zwar wieder, aber wir wissen ja bereits, dass sie nicht sicher sind. Valentin könnte jeden Augenblick mit einem noch größeren Dämonenheer zurückkehren und ich bezweifle, dass wir gegen ihn ankommen. Es gibt einfach zu wenige Nephilim und diejenigen, die noch hier sind, sind vollkommen demoralisiert.«

»Aber was ist mit den Schattenweltlern?«, fragte Clary. »Du hast dem Konsul doch gesagt, dass der Rat zusammen mit den Schattenwesen kämpfen muss.« 5 ,, ^ 

»Das kann ich Malachi und Aldertree so oft erzählen, bis ich blau anlaufe, aber das bedeutet nicht, dass sie mir auch zuhören«, erwiderte Luke müde. »Sie dulden meine Anwesenheit hier nur aus einem einzigen Grund: Die Schattenjägerkongregation hat dafür gestimmt, mich als Berater zu berufen. Und das ist auch nur deshalb geschehen, weil mein Rudel einer ganzen Reihe von ihnen das Leben gerettet hat. Allerdings bedeutet das nicht, dass sie weitere Schattenweltler in Idris sehen wollen …» 

In dem Augenblick ertönte ein Schrei.

Amatis war aufgesprungen, hatte eine Hand vor den Mund geschlagen und starrte in Richtung Eingang. In der Tür stand ein Mann, eingerahmt vom grellen Sonnenlicht. Einen Moment lang war nur seine Silhouette zu sehen, doch dann trat er einen Schritt vor, in die Halle hinein, und Clary konnte sein Gesicht erkennen.

Valentin.

Aus irgendeinem unerklärlichen Grund fiel Clary als Erstes auf, dass er glatt rasiert war. Dadurch wirkte er jünger - viel mehr wie der zornige Junge, den Ithuriel ihr im Traum gezeigt hatte. Statt der Kampfmontur trug er einen eleganten Nadelstreifenanzug mit Krawatte. Er war vollkommen unbewaffnet und hätte ein x-beliebiger Mann auf den Straßen Manhattans sein können. Er hätte jedermanns Vater sein können.

Während er den schmalen Gang zwischen den Bänken entlangschlenderte, würdigte er Clary keines Blickes und hielt stattdessen die Augen fest auf Luke geheftet.

Wie kann er es nur wagen, ohne Waffe hierherzukommen?, wunderte Clary sich und erhielt einen Moment später eine Antwort auf ihre Frage: Inquisitor Aldertree stieß ein Geräusch aus wie ein verwundeter Bär, riss sich von Malachi los, der ihn festzuhalten versuchte, taumelte dann die Stufen des Podiums hinunter und stürzte sich auf Valentin. 

Doch er passierte Valentins Körper wie ein Messer, das durch ein Blatt Papier schneidet. Mit einem Ausdruck gelangweilten Desinteresses drehte Valentin sich um und sah zu, wie der Inquisitor geradeaus torkelte, gegen eine Säule stieß und angeschlagen zu Boden ging, wo er liegen blieb, bis Malachi ihm folgte und wieder auf die Beine half. Auf dem Gesicht des Konsuls spiegelte sich kaum verhohlene Abscheu. Clary fragte sich, ob diese Abscheu Valentin galt oder Aldertree, weil dieser sich wie ein Narr benahm. 

Während der Inquisitor in Malachis eisernem Griff wie eine Ratte in der Falle quiekte und strampelte, ging ein Raunen durch die Menge, als Valentin sich weiter auf das Podium zubewegte, ohne den beiden auch nur noch einen Funken Beachtung zu schenken. Die Schattenjäger auf den Holzbänken wichen zurück wie die Wogen des Roten Meeres vor Mosis Stab, bis ein breiter Gang entstand, der mitten durch den Saal führte. Clary erschauderte, als Valentin sich Luke, Simon und ihr näherte. Er ist nur eine Projektion, ermahnte sie sich. Er ist nicht wirklich hier. Er kann mir nicht wehtun. « , : , 

Neben ihr erschauderte Simon nun ebenfalls. Clary ergriff seine Hand in dem Moment, als Valentin am Fuß der Stufen zum Podium innehielt und sich ihr direkt zuwandte. Seine Augen streiften sie einmal beiläufig, als würde er ihre Maße nehmen, übersprangen dann Simon und blieben an Luke haften.

»Lucian«, sagte er.

Luke erwiderte seinen Blick, ruhig und kühl, sagte aber nichts. Seit ihrer Begegnung in Renwicks Ruine war es das erste Mal, dass die beiden sich im selben Raum befanden, überlegte Clary, und damals war Luke halb tot gewesen und blutüberströmt. Sowohl die Unterschiede als auch die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern ließen sich nun leichter erkennen: Luke in seinem zerschlissenen Karohemd und der abgewetzten Jeans und Valentin in seinem eleganten, teuren Anzug; Luke mit einem Dreitagebart und grauen Strähnen in den Haaren und Valentin mit glatt rasiertem Gesicht - er sah aus wie mit fünfundzwanzig, nur irgendwie kälter und härter, als hätten die vergangenen Jahre einen Prozess in Gang gesetzt, der ihn langsam zu Stein verwandelte. 

»Wie ich höre, hat die Schattenjägerkongregation dich zum Berater berufen«, eröffnete Valentin das Gespräch. »Es passt zu einem Rat, der von Korruption und moralischem Verfall geprägt ist, dass er nun von degenerierten Halbblütlern unterwandert wird.« Seine Stimme klang ruhig, fast heiter, sodass man das Gift in seinen Worten kaum spüren konnte - oder zumindest kaum glauben mochte, dass er es wirklich ernst meinte. Sein Blick wanderte nun wieder zu Clary zurück. »Clarissa«, sagte er, »und wie ich sehe, in Begleitung des Vampirs. Wenn sich die Lage ein wenig beruhigt hat, werden wir mal ein ernstes Wörtchen über die Wahl deiner Haustiere wechseln müssen.«

Ein tiefes Knurren drang aus Simons Kehle. Clary drückte seine Hand - so fest, dass er früher vor Schmerz zusammengezuckt wäre und sich losgerissen hätte. Doch nun schien er nichts zu spüren. »Nicht«, flüsterte sie. »Reagier einfach nicht darauf.«

In der Zwischenzeit hatte Valentin seine Aufmerksamkeit wieder von ihnen abgewandt, war die Stufen hinaufgestiegen und drehte sich jetzt der Menge zu. »So viele bekannte Gesichter«, bemerkte er. »Patrick. Malachi. Amatis.«

Amatis stand stocksteif da; ihre Augen funkelten vor Hass.

Der Inquisitor kämpfte noch immer gegen Malachi an, der ihn nach wie vor eisern festhielt. Valentins Blick streifte leicht belustigt über ihn. »Aldertree nicht zu vergessen. Wie ich höre, bist du indirekt für den Tod meines alten Freundes Hodge Starkweather verantwortlich. Ein Jammer, wirklich ein Jammer.«

In dem Moment fand Luke seine Stimme wieder. »Dann gibst du es also zu«, sagte er. »Du hast die Schutzschilde deaktiviert. Und du hast die Dämonen gesandt.« 

»Ja, ich habe sie geschickt«, bestätigte Valentin. »Und ich kann noch mehr schicken. Aber damit müssen die Ratsmitglieder - und seien sie auch noch so dumm - doch gerechnet haben! Du hast damit gerechnet, nicht wahr, Lucian?« 

Lukes blaue Augen schauten ernst. »Ja, ich habe damit gerechnet. Aber ich kenne dich schließlich auch, Valentin. Also, bist du hierhergekommen, um uns ein Angebot zu machen oder um dich an unserem Leid zu weiden?« ‘

»Weder noch«, erwiderte Valentin und betrachtete die schweigende Menge. »Für mich besteht nicht die Notwendigkeit für Verhandlungen«, sagte er, und obwohl sein Ton ruhig klang, trug seine Stimme weit durch den Saal, als wäre sie elektronisch verstärkt. »Und ich verspüre auch keine Schadenfreude. Denn es gefällt mir keineswegs, den Tod zahlreicher Schattenjäger zu verursachen; es gibt ohnehin schon viel zu wenige von uns … in einer Welt, die dringend auf uns angewiesen ist. Aber genauso will es der Rat ja nun einmal haben, oder nicht? Das ist nur eine weitere seiner vielen unsinnigen Regeln - Regeln, die er dazu nutzt, einfache Schattenjäger zu Tode zu schinden. Das, was ich getan habe, tat ich lediglich, weil mir keine andere Wahl blieb. Ich tat es, weil es der einzige Weg war, den Rat zum Zuhören zu zwingen. Nicht meinetwegen sind Schattenjäger gestorben - sie sind gestorben, weil der Rat mich ignoriert hat.« Über die Menge hinweg traf sich Valentins Blick mit dem von Aldertree. Das Gesicht des Inquisitors war kreidebleich und verzerrt. »So viele von euch haben einst meinem Kreis angehört«, sagte Valentin gedehnt. »An euch wende ich mich jetzt - und an diejenigen, die vom Kreis wussten, ihm aber nicht beigetreten sind. Erinnert ihr euch, was ich euch vor fünfzehn Jahren prophezeit habe? Wenn wir uns nicht gegen das Abkommen stellen würden, dass es dann in der Stadt Alicante, unserer eigenen geliebten Hauptstadt, nur so wimmeln würde vor Horden von sabbernden, geifernden Halbblütlern und dass die degenerierten Rassen alles niedertrampeln würden, was uns lieb und teuer ist! Und genauso ist es gekommen, jede einzelne meiner Prophezeiungen ist eingetroffen. Die Garnison ist bis auf die Grundmauern niedergebrannt, das Portal zerstört, unsere Straßen überlaufen von Monstern, während halbmenschlicher Abschaum sich erdreistet, uns anführen zu wollen. Und daher frage ich euch, meine Freunde, meine Feinde, meine Brüder im Namen des Erzengels, ich frage euch: Glaubt ihr mir jetzt?« Seine Stimme schwoll zu einem lauten Dröhnen an: »GLAUBT IHR MIR JETZT?« 

Sein Blick schweifte über die Menge, als erwartete er eine Reaktion. Doch niemand rührte sich - er starrte in ein Meer schweigender Gesichter.

»Valentin«, durchbrach schließlich Lukes ruhige Stimme die Stille. »Erkennst du nicht, was du getan hast? Das Abkommen, das du so sehr fürchtest, hat nicht dafür gesorgt, dass Schattenweltler den Nephilim ebenbürtig sind. Es garantierte den Halbmenschen keinen Sitz in der Kongregation. Der alte Hass zwischen Schattenwesen und Schattenjägern war noch längst nicht begraben. Du hättest einfach nur auf diesen Hass vertrauen müssen, doch das hast du nicht getan - nicht gekonnt. Und nun hast du uns das Einzige geschenkt, das uns überhaupt vereinen konnte.« Seine Augen suchten die von Valentin. »Einen gemeinsamen Feind.« 

Eine fiebrige Röte breitete sich auf Valentins bleichem Gesicht aus. »Ich bin kein Feind. Jedenfalls nicht der Nephilim. Das bist du. Du bist derjenige, der versucht, sie zu einem aussichtslosen Kampf zu verleiten. Glaubst du ernsthaft, die Dämonen, die du gesehen hast, wären alles, was ich habe? Sie sind nur ein Bruchteil dessen, was ich noch heraufbeschwören kann.« 

»Auch von uns gibt es noch viel mehr«, erwiderte Luke. »Mehr Nephilim und mehr Schattenweltler.«

»Schattenweltler«, schnaubte Valentin verächtlich. »Beim ersten Anzeichen ernster Gefahr werden sie davonlaufen wie die Hasen. Die Nephilim sind geborene Krieger, dazu auserkoren, diese Welt zu schützen. Aber deinesgleichen hasst die Welt. Es gibt einen guten Grund, warum reines Silber dich verätzt und warum Tageslicht die Kinder der Nacht versengt.« 

»Mich versengt es nicht«, sagte Simon mit lauter, klarer Stimme, trotz Clarys festem Griff. »Hier stehe ich, inmitten von Sonnenstrahlen …« 

Doch Valentin lachte nur. »Ich habe gesehen, wie du beim Versuch, den Namen Gottes auszusprechen, fast erstickt bist, Vampir«, höhnte er. »Und was deine Unempfindlichkeit gegenüber Sonnenlicht betrifft…« Er schwieg einen Moment und grinste. »Wahrscheinlich liegt das daran, dass du eine Abnormität bist. Eine Absonderlichkeit. Aber nichtsdestoweniger ein Monster.«

Ein Monster. Unwillkürlich musste Clary an die Nacht auf Valentins Schiff denken, an das, was er ihr dort gesagt hatte: Deine Mutter hat mir vorgeworfen, dass ich aus ihrem ersten Kind ein Monster gemacht hätte. Sie hat mich verlassen, bevor ich ihrem zweiten das Gleiche antun konnte. 

Jace. Allein der Gedanke an ihn, das Denken seines Namens bereitete Clary einen stechenden Schmerz. Nach allem, was Valentin getan hat, steht er jetzt hier und redet von Monstern … 

»Das einzige Monster weit und breit bist du!«, stieß sie empört hervor, trotz ihres festen Entschlusses zu schweigen. »Ich habe Ithuriel gesehen«, fuhr sie fort, als Valentin sich ihr überrascht zuwandte. »Ich weiß alles …«

»Das bezweifle ich«, spottete Valentin. »Wenn du wirklich alles wüsstest, würdest du jetzt den Mund halten. Wenn schon nicht zu deinem eigenen Wohle, dann wenigstens zum Wohle deines Bruders.«

Wage es nicht, in meiner Gegenwart von Jace zu sprechen!, wollte Clary wütend erwidern, doch eine andere Stimme kam ihr zuvor, eine kühle, unerwartete weibliche Stimme, die furchtlos und verbittert klang. 

»Und was ist mit meinem Bruder?« Amatis trat an den Fuß der Podiums-Treppe und sah Valentin herausfordernd an. Überrascht schaute Luke in ihre Richtung und schüttelte den Kopf, doch sie ignorierte ihn. 

Valentine runzelte die Stirn. »Was soll mit Lucian sein?« Clary spürte, dass Amatis’ Frage ihn aus dem Konzept gebracht hatte; vielleicht lag es aber auch daran, dass sie vorgetreten war und ihn nun konfrontierte. Mit Sicherheit hatte Valentin sie schon Vorjahren als schwache Frau abgeschrieben, die ihn wohl kaum herausfordern würde. Valentin schätzte es nicht, wenn die Menschen ihn überraschten. 

»Du hast mir gesagt, er wäre nicht länger mein Bruder«, erwiderte Amatis nun. »Dann hast du mir Stephen genommen. Meine Familie zerstört. Du behauptest zwar, du wärst kein Feind der Nephilim, aber du versuchst, uns gegeneinander aufzustacheln, Familie gegen Familie, und zerstörst dabei Leben ohne jeden geringsten Skrupel. Du sagst zwar, du würdest den Rat hassen, aber du bist auch derjenige, der ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist - engstirnig und paranoid. Früher haben wir einander vertraut, wir Nephilim. Das hast du geändert. Und das werde ich dir niemals verzeihen.« Ihre Stimme zitterte. »Genauso wenig wie die Tatsache, dass du mich dazu gebracht hast, Lucian nicht länger als meinen Bruder zu betrachten. Das werde ich weder dir noch mir jemals verzeihen … Und ich werde mir nicht verzeihen, dass ich auf dich gehört habe.« 

»Amatis …« Luke trat einen Schritt vor, aber seine Schwester hielt eine Hand hoch, um ihn aufzuhalten. In ihren Augen schimmerten Tränen, doch ihr Rücken war kerzengerade und ihre Stimme fest und unerschütterlich.

»Es hat einmal eine Zeit gegeben, da waren wir alle mehr als bereit, auf dich zu hören, Valentin«, fuhr sie fort. »Und wir alle werden das unser Leben lang mit unserem Gewissen ausmachen müssen. Doch diese Zeit ist jetzt vorbei. Endgültig vorbei. Oder ist hier irgendjemand im Saal, der nicht mit mir übereinstimmt?« 

Clary riss den Kopf hoch und schaute über die versammelten Schattenjäger: Die Männer und Frauen wirkten auf sie wie die Rohskizze einer größeren Menschenmenge, mit weißen, verschwommenen Gesichtern. Sie sah Patrick Penhallow, mit fest zusammengepresstem Kiefer, und den Inquisitor, der wie ein zartes Bäumchen im Wind zitterte. Und Malachi, dessen dunkles, glänzendes Gesicht seltsam unergründlich wirkte.

Niemand sagte auch nur ein Wort.

Falls Clary erwartet hatte, dass Valentin verärgert reagieren würde über diesen Mangel an Begeisterung vonseiten der Nephilim, die er zu führen gehofft hatte, wurde sie nun enttäuscht. Bis auf ein Zucken seiner Kiefermuskulatur blieb sein Gesicht vollkommen ausdruckslos. Als ob er mit dieser Reaktion gerechnet hätte. Als ob er seine Pläne bereits darauf abgestimmt hätte.

»Also schön«, sagte er. »Wenn ihr nicht auf die Stimme der Vernunft hören wollt, dann werdet ihr euch eben der Macht beugen müssen. Ich habe euch ja bereits demonstriert, dass ich die Schutzschilde der Stadt niederreißen kann. Wie ich sehe, wurden sie inzwischen repariert, aber das ist völlig bedeutungslos; ich kann sie jederzeit wieder deaktivieren. Also werdet ihr entweder meine Forderungen annehmen oder jedem Dämon gegenübertreten, den das Engelsschwert heraufbeschwören kann. Und ich werde meinem Dämonenheer den Befehl erteilen, nicht einen Einzigen von euch zu verschonen, keinen Mann, keine Frau, kein Kind. Die Entscheidung liegt ganz bei euch.«

Ein Raunen ging durch den Saal. Luke starrte Valentin fassungslos an. »Du würdest absichtlich dein eigenes Volk zerstören, Valentin?« 

»Manchmal muss man kranke Pflanzen herausreißen, um den Garten zu retten«, erwiderte Valentin. »Und wenn alle Gewächse verseucht sind …« Erneut wandte er sich der entsetzten Menge zu. »Die Entscheidung liegt ganz bei euch«, wiederholte er. »Ich habe den Engelskelch in meinem Besitz. Wenn nötig, werde ich damit eine ganz neue Schattenjägerwelt errichten, mit neuen Nephilim - jeder einzelne von mir persönlich erschaffen und unterrichtet. Aber ich gebe euch eine letzte Chance. Wenn der Rat sämtliche Befugnisse der Kongregation auf mich überträgt und meine unumschränkte Macht und Herrschaft akzeptiert, werde ich mich zurückhalten. Sämtliche Schattenjäger werden einen Unterwerfungseid leisten und eine permanente Treue-Rune akzeptieren, die sie an mich bindet. Das sind meine Bedingungen.« 

Im Saal herrschte betroffene Stille. Clary sah noch, dass Amatis die Hand vor den Mund geschlagen hatte, dann begann der Rest der Menge vor ihren Augen zu verschwimmen. Sie können seiner Forderung unmöglich nachgeben, dachte sie. Das können sie nicht tun! Aber welche andere Chance blieb ihnen schon? Welche andere Chance hatte jeder Einzelne von ihnen? Valentin hat sie in eine Falle gelockt, dachte sie niedergeschlagen, so wie Jace und ich in der Falle sitzen, durch das, was er aus uns gemacht hat. Wir alle sind durch unser Blut an ihn gebunden. 

Obwohl es nur einen Moment dauerte, erschien es Clary wie eine halbe Ewigkeit, bis schließlich eine dünne Stimme die Stille zerriss - die hohe, krächzende Stimme des Inquisitors. »Unumschränkte Macht und Herrschaft?«, quiekte er. »Deine Herrschaft?« 

»Aldertree …«, setzte der Konsul an und machte Anstalten, ihn wieder festzuhalten, doch der Inquisitor war schneller. Er riss sich los und stürmte zum Podium. Dabei stieß er irgendetwas hervor - immer wieder dieselben Worte, als hätte er vollends den Verstand verloren - und verdrehte die Augen, bis nur noch das Weiße sichtbar war. Rüde schob er Amatis beiseite und torkelte die Stufen hinauf zu Valentin. »Ich bin der Inquisitor, hast du mich verstanden? Der Inquisitor!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme. »Ich bin Teil des Rats! Der Kongregation! Ich mache die Regeln, nicht du! Ich herrsche, nicht du! Das werde ich nicht zulassen, du schmieriger, dämonenliebender Emporkömmling …« 

Mit einem fast gelangweilten Gesichtsausdruck streckte Valentin die Hand aus, als wollte er den Inquisitor an der Schulter berühren. Aber Valentin konnte niemanden berühren, er war ja nur eine Projektion, schoss es Clary durch den Kopf. Doch dann musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass Valentins Hand langsam durch Haut, Muskulatur und Knochen des Inquisitors drang und sich in seinen Brustkorb grub. Eine Sekunde lang - nur eine winzige Sekunde lang - schien der gesamte Saal atemlos auf Valentins linken Arm zu starren, der irgendwie, unfassbarerweise, bis zum Handgelenk in Aldertrees Brust verschwunden war. Dann drehte Valentin seine Hand plötzlich und ruckartig nach links, als würde er einen widerspenstigen, rostigen Türknauf bewegen wollen.

Der Inquisitor stieß einen einzigen Schrei aus und fiel im nächsten Moment wie ein Stein zu Boden.

Bedächtig zog Valentin seine Hand zurück. Sie war blutüberströmt - ein scharlachroter Handschuh, der ihm fast bis zum Ellbogen ging und den teuren Wollstoff seines eleganten Anzugs rot färbte. Dann ließ er die blutige Hand sinken, schaute über die entsetzte Menge hinweg, bis seine Augen schließlich Luke fixierten. »Ich gebe euch bis morgen Abend um Mitternacht, um meine Bedingungen zu akzeptieren«, sagte er langsam. »Bis dahin werde ich mein Dämonenheer in seiner gesamten Stärke in der Brocelind-Ebene versammeln. Sollte ich bis Mitternacht keine Kapitulationsnachricht vom Rat erhalten, werde ich mit meinen Truppen nach Alicante einmarschieren. Und dieses Mal werden wir niemanden am Leben lassen. Bis dahin habt ihr Zeit, über meine Bedingungen nachzudenken. Nutzt diese Zeit weise.« .

Und mit diesen Worten verschwand er.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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