15

DIE WELT ZERFÄLLT

 

Luke hatte den Großteil der Nacht damit verbracht, durch das transparente Dach der Abkommenshalle den Lauf des Monds zu beobachten: Der Himmelskörper erinnerte ihn an eine Silbermünze, die über die glatte Oberfläche eines Glastischs rollte. Wie jeden Monat kurz vor Nahen des Vollmonds spürte er auch nun, dass sich seine Sehschärfe und sein Geruchssinn deutlich verbesserten, selbst in Menschengestalt. So konnte er beispielsweise in diesem Moment den Schweiß der Skepsis im Saal wahrnehmen und darunter den scharfen Gestank der Angst. Und er spürte die angespannte Sorge seines Rudels im Brocelind-Wald, das in der Dunkelheit unter den Bäumen ruhelos auf und ab lief und auf Nachricht von ihm wartete.

»Lucian.« Amatis’ Stimme drang leise, aber eindringlich an sein Ohr. »Lucian!« 

Aus seinen Gedanken gerissen, bemühte Luke sich angestrengt, seinen Blick trotz seiner Müdigkeit auf das Bild vor ihm zu konzentrieren: Ein kleiner, abgerissener Haufen Schattenjäger stand im Saal beieinander - diejenigen, die zugestimmt hatten, sich seinen Plan wenigstens einmal anzuhören. Es waren weniger, als er erhofft hatte. Viele kannte er noch aus seinem früheren Leben in Idris - die Penhallows, die Lightwoods, die Ravenscars -, aber genauso viele hatte er erst kürzlich kennengelernt, wie etwa die Monteverdes, die das Institut in Lissabon leiteten und eine Mischung aus Portugiesisch und Englisch sprachen, oder Nasreen Chaudhury, die ernst dreinblickende Leiterin des Instituts von Bombay. Ihr dunkelgrüner Sari war mit kunstvollen Runen durchwirkt, deren Silberfäden so hell leuchteten, dass Luke jedes Mal instinktiv zurückwich, wenn sie ihm zu nahe kam. 

»Also wirklich, Lucian«, tadelte Maryse Lightwood ihn in dem Moment. Ihr kleines bleiches Gesicht wirkte vor Erschöpfung und Kummer ganz verhärmt. Luke hatte nicht ernsthaft damit gerechnet, dass sie oder ihr Mann kommen würden, doch als er ihnen gegenüber die Versammlung angesprochen hatte, hatten sie sofort bereitwillig zugestimmt. Vermutlich musste er dankbar sein, dass sie sich tatsächlich in der Halle eingefunden hatten, auch wenn die Trauer Maryse ungehaltener und hitziger reagieren ließ als üblich. »Du bist doch derjenige, der uns alle hat hierherkommen lassen; dann könntest du jetzt wenigstens zuhören.«

»Das tut er doch.« Amatis hatte die Beine unter den Po gezogen wie ein junges Mädchen, doch ihr Gesichtsausdruck verriet Entschlossenheit. »Aber es ist nicht Lucians Schuld, dass wir uns die letzte Stunde nur noch im Kreis drehen.«

»Und das werden wir auch weiterhin - bis wir eine Lösung gefunden haben«, erwiderte Patrick Penhallow mit angespannter Stimme.

»Bei allem Respekt, Patrick, aber möglicherweise gibt es für dieses Problem keine Lösung«, warf Nasreen mit starkem Akzent ein. »Das Beste, worauf wir hoffen können, ist ein Plan.« 

»Ein Plan, der weder Knechtschaft beinhaltet noch …«, setzte Jia, Patricks Frau, an, verstummte dann aber und biss sich auf die Lippe. Sie war eine hübsche, schlanke Frau, die ihrer Tochter Aline sehr ähnelte. Luke erinnerte sich noch daran, wie Patrick ins Institut nach Peking gewechselt war und sie geheiratet hatte. Damals hatte das einen Skandal ausgelöst, da er eigentlich ein Mädchen in Idris heiraten sollte, das seine Eltern bereits für ihn ausgesucht hatten. Doch Patrick hatten Vorschriften noch nie wirklich interessiert - eine Eigenschaft, für die Luke nun dankbar war.

»Weder Knechtschaft noch eine Allianz mit den Schattenweltlern?«, beendete Luke Jias Satz. »Ich fürchte, daran führt kein Weg vorbei.«

»Das ist nicht das Problem und das weißt du auch«, erwiderte Maryse. »Es geht um die Sitze in der Kongregation. Darauf wird der Rat sich niemals einlassen - das weißt du. Vier ganze Sitze …« 

»Nein, nicht vier«, sagte Luke. »Jeweils einer für das Lichte Volk, für die Kinder des Mondes und für Liliths Kinder.«

»Die Feenwesen, die Lykanthropen und die Hexenmeister«, wiederholte Senhor Monteverde mit sanfter Stimme, aber hochgezogenen Augenbrauen. »Und was ist mit den Vampiren?«

»Sie haben sich noch nicht entschieden«, räumte Luke ein. »Und ich habe ihnen ebenfalls keine Versprechungen gemacht. Möglicherweise sind sie nicht sehr erpicht darauf, der Kongregation beizutreten - sie halten nicht viel von meinesgleichen und auch nicht von Regeln und Versammlungen. Aber sollten sie ihre Meinung ändern, sind sie jederzeit willkommen.«

»Malachi und Konsorten werden dem niemals zustimmen und ohne sie haben wir möglicherweise nicht genügend Kongregationsstimmen«, murmelte Patrick. »Außerdem: Ohne die Vampire - welche Chance haben wir da überhaupt?«

»Eine sehr gute«, fauchte Amatis, die von Lukes Plan überzeugter zu sein schien als Luke selbst. »Da draußen sind viele Schattenweltler, die auf jeden Fall mit uns kämpfen werden, und sie sind verdammt mächtig. Schon allein die Hexenmeister …«

Mit einem kurzen Kopfschütteln wandte Senhora Monteverde sich an ihren Mann. »Dieser Plan ist völliger Irrsinn. Er wird niemals funktionieren. Schattenwesen kann man nicht trauen.«

»Während des Aufstands hat es funktioniert«, hielt Luke dagegen.

Die Portugiesin verzog verächtlich die Lippen. »Aber nur weil Valentin mit einem Haufen Narren und keinem Dämonenheer angetreten ist«, erwiderte sie. »Und woher wollen wir überhaupt wissen, dass die Mitglieder seines alten Kreises nicht zu ihm zurückkehren, sobald er sie an seine Seite ruft?«

»Sei vorsichtig mit dem, was du da sagst, Senhora«, knurrte Robert Lightwood. Es war das erste Mal seit über einer Stunde, dass er sich überhaupt zu Wort meldete; den Großteil des Abends hatte er reglos dagesessen, wie betäubt von seinem Kummer. Tiefe Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben - Falten, von denen Luke geschworen hätte, dass sie drei Tage zuvor noch nicht da gewesen waren - und die Qualen, die er litt, zeigten sich deutlich in seinen angespannten Schultern und den zusammengeballten Fäusten. Luke konnte es ihm kaum verübeln. Zwar hatte er Robert nie besonders gemocht, aber der Anblick eines solch großen Mannes, der vor Kummer ganz hilflos wirkte, ließ sich nur schwer ertragen. »Wenn du glaubst, ich würde mich Valentin nach Max’ Tod wieder anschließen, hast du dich geirrt«, wandte Robert sich erneut an die Portugiesin. »Er hat meinen Jungen kaltblütig ermorden lassen …« 

»Robert«, murmelte Maryse und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm.

»Wenn wir uns Valentin nicht anschließen, werden möglicherweise all unsere Kinder sterben«, warf Senhor Monteverde ein. 

»Wenn ihr das glaubt, warum seid ihr dann überhaupt gekommen?«, schnaubte Amatis und sprang auf die Beine. »Ich dachte, wir wären darin übereingekommen, dass …«

Das hob ich auch gedacht. Lukes Kopf dröhnte. So war es jedes Mal mit ihnen, dachte er, zwei Schritte vor und einen zurück. Diese Schattenjäger waren genauso schlimm wie die sich gegenseitig bekriegenden Schattenweltler - wenn sie das doch nur begreifen würden. Vielleicht wären sie alle ja tatsächlich besser dran, wenn sie ihre Probleme durch Kämpfen lösen würden, so wie sein Rudel… 

Plötzlich erregte eine rasche Bewegung vor den Türen der Halle Lukes Aufmerksamkeit. Das Ganze hatte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert, und wenn der Mond nicht fast voll gewesen wäre, hätte er die Bewegung vielleicht nicht einmal bemerkt oder die Gestalt erkannt, die auf den Stufen vor der Halle unruhig auf und ab lief. Einen Moment lang fragte Luke sich, ob er sich das vielleicht eingebildet hatte - manchmal, wenn er sehr erschöpft war, glaubte er, Jocelyn zu sehen, in den Tiefen eines Schattens, im Spiel des Lichts auf einer Mauer.

Aber die Gestalt dort draußen war nicht Jocelyn. Rasch erhob Luke sich von seinem Platz. »Ich geh mal fünf Minuten an die frische Luft. Bin gleich wieder zurück.« Er spürte, wie die anderen ihm nachsahen, während er zur Tür marschierte - alle, sogar Amatis. Senhor Monteverde flüsterte seiner Frau etwas auf Portugiesisch zu; Luke schnappte das Wort »lobo« auf, den Begriff für »Wolf«. Wahrscheinlich denken sie, dass ich nach draußen gehe, um im Kreis zu rennen und den Mond anzuheulen. 

Die Luft vor der Halle war kalt und frisch; der Himmel schimmerte in einem Schiefergrau. Im Osten tönte die Morgendämmerung den Horizont leicht rötlich und tauchte die weißen Marmorstufen in einen rosa Schein. Am Fuß der Treppe wartete Jace auf ihn. Seine weiße Trauerkleidung versetzte Luke einen heftigen Stich - eine Ermahnung an all die Toten, die sie bereits zu beklagen hatten und an jene, die vermutlich bald fallen würden.

Luke blieb ein paar Stufen oberhalb von Jace stehen. »Was machst du hier, Jonathan?«

Als Jace schwieg, verfluchte Luke sich innerlich für seine Vergesslichkeit - Jace mochte es nicht, wenn man ihn Jonathan nannte, und reagierte darauf normalerweise mit einer scharfen Bemerkung. Doch dieses Mal schien es ihn überhaupt nicht zu interessieren. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war so fest entschlossen wie der auf den Mienen sämtlicher Schattenjäger in der Abkommenshalle. Obwohl ihn noch ein ganzes Jahr vom Eintritt ins Erwachsenenalter trennte, hatte er in seinem kurzen Leben schon schlimmere Dinge gesehen, als die meisten Erwachsenen sich auch nur vorstellen konnten.

»Suchst du deine Eltern?«, fragte Luke.

»Du meinst die Lightwoods?« Jace schüttelte den Kopf. »Nein. Ihretwegen bin ich nicht hier. Ich muss mit dir reden.« 

»Geht es um Clary?« Luke stieg ein paar Stufen hinunter, bis er direkt oberhalb von Jace stand. »Ist mit ihr alles in Ordnung?«

»Es geht ihr gut.« Bei der Erwähnung von Clarys Namen schienen Jace’ Züge sich zu verkrampfen, was wiederum Lukes geschärfte Sinne alarmierte; aber andererseits würde Jace niemals behaupten, dass es Clary gut ginge, wenn das nicht der Fall wäre.

»Worum geht es denn dann?«, fragte er.

Jace schaute an ihm vorbei, in Richtung Eingangstür der Abkommenshalle. »Und, wie läuft’s da drinnen? Kommt ihr voran?«

»Nein, nicht besonders gut«, räumte Luke ein. »So wenig die Schattenjäger sich Valentin ergeben wollen, so wenig passt ihnen die Vorstellung, dass Schattenweltler in die Kongregation berufen werden könnten. Aber ohne eine feste Zusage für einen Sitz in der Kongregation werden meine Leute nicht kämpfen.«

Jace’ Augen funkelten. »Der Rat wird diese Idee hassen.« 

»Er braucht sie ja nicht zu lieben - sie muss ihm nur besser gefallen als die Vorstellung eines kollektiven Selbstmords.«

»Wie ich den Rat kenne, werden die Mitglieder versuchen, sich nicht festzulegen«, erklärte Jace. »Wenn ich du wäre, würde ich ihnen ein Ultimatum stellen. Mit klaren Zeitvorgaben kommt der Rat besser zurecht.«

Luke musste über diesen Ratschlag grinsen. »Sämtliche Schattenweltler, die ich zusammentrommeln konnte, werden sich bei Anbruch der Dunkelheit vor dem Nordtor versammeln. Wenn der Rat bis dahin zustimmt, mit ihnen zusammen zu kämpfen, werden sie die Stadt betreten. Wenn nicht, kehren sie sofort um. Noch mehr Zeit konnte ich dem Rat nun wirklich nicht einräumen - wir schaffen es ohnehin kaum noch rechtzeitig bis Mitternacht zur Brocelind-Ebene.«

Jace pfiff durch die Zähne. »Da fährst du ja ein großes Geschütz auf. Hoffst du, dass der Anblick all dieser Schattenweltler den Rat inspirieren wird, oder willst du ihm Angst einjagen?«

»Vermutlich ein bisschen von beidem. Viele Ratsmitglieder gehören einem Institut an, so wie du, und sind den Umgang mit Schattenweltlern gewöhnt. Aber mir bereiten vor allem die Einwohner Idris’ Sorgen. Der Anblick von Schattenweltlern vor ihren Toren könnte bei ihnen Panik auslösen. Andererseits kann es nicht schaden, wenn sie daran erinnert werden, wie verwundbar sie sind.«

Wie auf Kommando wanderte Jace’ Blick hinauf zu den schwarzen Ruinen der Garnison - ein düsterer Schandfleck inmitten der Hügel über der Stadt. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand weitere Erinnerungen daran benötigt.« Dann wandte er sich wieder Luke zu, mit ernstem Ausdruck in den klaren Augen. »Ich möchte dir etwas mitteilen und ich möchte, dass du es vertraulich behandelst.«

Luke konnte seine Überraschung nicht verbergen. »Und warum willst du es mir erzählen? Warum nicht den Lightwoods?«

»Weil du derjenige bist, der hier die Verantwortung trägt… der tatsächlich die Fäden in der Hand hat. Und das weißt du auch.« 

Luke zögerte. Irgendetwas an Jace’ bleichem, müdem Gesicht erweckte bei ihm trotz der eigenen Erschöpfung Sympathie - Sympathie und den Wunsch, diesem Jungen, der von den Erwachsenen in seinem Leben derart betrogen und missbraucht worden war, zu zeigen, dass nicht alle Erwachsenen so waren, dass es tatsächlich welche gab, auf die er sich verlassen konnte. »Also gut.«

»Und«, fuhr Jace fort, »weil ich darauf vertraue, dass du die richtigen Worte finden wirst, um es Clary zu erklären.«

»Was soll ich Clary erklären?« 

»Warum ich es tun musste.« Jace’ Augen schimmerten groß in der aufgehenden Sonne, wodurch er um Jahre jünger wirkte. »Ich werde Sebastian aufspüren, Luke. Ich weiß, wo ich ihn finden kann, und dann werde ich ihm so lange folgen, bis er mich zu Valentin führt.«

Vor Überraschung verschlug es Luke den Atem. »Du weißt, wo du ihn finden kannst?«, stieß er hervor. 

»Als ich bei Magnus in dessen Wohnung in Brooklyn untergebracht war, hat er mir gezeigt, wie man jemanden mithilfe von Ortungsmagie lokalisieren kann. Damals haben wir Valentins Ring benutzt, um ihn zu finden. Das hat zwar nicht funktioniert, aber …«

»Jace, du bist kein Hexenmeister! Du solltest eigentlich gar nicht in der Lage sein, Ortungsmagie anzuwenden.«

»Nur die Ruhe - es geht hier um eine Rune. Um die gleiche Art von Rune, die die Inquisitorin benutzte, um mich zu beschatten, als ich Valentin auf seinem Schiff aufgesucht habe. Das Einzige, was mir bisher noch fehlte, war ein Stück von Sebastians persönlichem Hab und Gut«, erwiderte Jace. 

»Aber wir haben doch das ganze Haus der Penhallows auf den Kopf gestellt. Sebastian hat nichts zurückgelassen. Sein Zimmer war penibel gesäubert - wahrscheinlich genau aus diesem Grund.«

»Ich habe aber etwas gefunden«, erklärte Jace. »Einen Faden mit seinem Blut daran. Das ist zwar nicht viel, reicht jedoch völlig. Ich habe es bereits ausprobiert und es hat funktioniert.«

»Aber du kannst doch nicht einfach allein losziehen, um Valentin zu suchen, Jace. Das werde ich nicht zulassen«, protestierte Luke.

»Du wirst mich nicht daran hindern können. Es sei denn, du legst es gleich hier auf einen Kampf an. Einen Kampf, den du im Übrigen nicht gewinnen kannst. Das weißt du genauso gut wie ich.« In Jace’ Stimme schwang ein seltsamer Ton mit, eine Mischung aus Gewissheit und Selbsthass.

»Hör zu, Jace, so entschlossen du auch sein magst, den einsamen Helden zu spielen …«, setzte Luke an.

»Ich bin kein Held«, unterbrach Jace ihn mit ruhiger, tonloser Stimme, als würde er eine einfache Tatsache verkünden.

»Aber denk doch mal daran, was du den Lightwoods damit antust, selbst wenn dir nichts passieren sollte. Denk an Clary…«

»Glaubst du wirklich, ich würde dabei nicht an Clary denken? Nicht an meine Familie? Was glaubst du denn, warum ich das alles hier mache?« 

»Und denkst du vielleicht, ich wüsste nicht mehr, wie es ist, siebzehn zu sein?«, entgegnete Luke. »Wenn man davon überzeugt ist, die Kraft zur Rettung der Welt zu haben - und nicht nur die Kraft, sondern auch die Verpflichtung …« 

»Sieh mich mal an«, forderte Jace Luke auf. »Sieh mir ins Gesicht und dann sag mir, dass ich ein ganz normaler Siebzehnjähriger bin.«

Luke seufzte. »An dir ist nichts Normales.«

»Dann sag mir, dass es unmöglich ist. Sag mir, dass mein Vorhaben sich nicht durchführen lässt.« Als Luke schwieg, fuhr Jace fort: »Hör mal, dein Plan ist gut. Bring die Schattenweltler nach Brocelind und bekämpf Valentin vor den Toren Alicantes. Alles ist besser, als tatenlos zuzusehen, wie er über die Stadt hinwegwalzt. Aber genau damit rechnet er. Du wirst ihn auf diese Weise nicht überrumpeln können. Ich dagegen … ich könnte ihn überraschen. Denn vielleicht weiß er nicht, dass Sebastian beschattet wird. Das ist zumindest eine Möglichkeit und wir müssen jede Chance ergreifen, die sich uns bietet.«

»Das mag ja alles richtig sein«, erwiderte Luke. »Aber so ein Wagnis kann man unmöglich von einem Menschen allein verlangen. Nicht einmal von dir.«

»Aber verstehst du denn nicht? Ich bin der Einzige, der überhaupt dafür infrage kommt«, widersprach Jace, in dessen Stimme sich allmählich Verzweiflung schlich. »Selbst wenn Valentin merken sollte, dass ich ihn verfolge, lässt er mich vielleicht nahe genug an sich heran …« 

»Nahe genug heran wofür?« 

»Um ihn zu töten«, erklärte Jace. »Was denn sonst?«

Erschöpft musterte Luke den Jungen, der eine Stufe unter ihm stand. Er wünschte, er könnte irgendwie durch ihn hindurchsehen und Jocelyn in ihm erkennen, so wie er sie manchmal in Clary erkannte. Aber Jace war wie immer nur er selbst - beherrscht, allein und isoliert. »Das könntest du?«, fragte Luke. »Du könntest deinen eigenen Vater töten?«

»Ja«, bestätigte Jace, mit einer Stimme, die so entfernt klang wie ein Echo. »Kommt jetzt der Moment, in dem du mir sagst, dass ich ihn nicht töten kann, weil er immerhin mein Vater ist und weil Vatermord ein unverzeihliches Verbrechen darstellt?«

»Nein. Dies ist der Moment, in dem ich dir sage, dass du dir deiner Fähigkeiten absolut sicher sein musst«, erwiderte Luke und erkannte dabei zu seiner eigenen Überraschung, dass ein Teil von ihm längst akzeptiert hatte, dass Jace seinen Plan ohnehin ausführen würde - und dass er ihn nicht daran hindern wollte. »Du kannst nicht einfach alle Brücken hinter dir niederreißen und Valentin mutterseelenallein jagen, nur um dann im letzten Moment zu versagen.«

»Keine Sorge«, sagte Jace, »glaub mir, ich bin dazu fähig.« Sein Blick wanderte von Luke hinunter zum Platz, auf dem sich bis zum Tag zuvor noch die Leichen gestapelt hatten. »Mein Vater hat mich zu dem gemacht, was ich bin. Und dafür hasse ich ihn. Oh ja, ich kann ihn töten. Dafür hat er selbst gesorgt.«

Luke schüttelte den Kopf. »Ganz gleich, wie er dich erzogen hat, Jace, du hast dagegen angekämpft. Er hat dich nicht korrumpieren können …«

»Nein«, erwiderte Jace, »das brauchte er auch gar nicht.« Prüfend schaute er zum Himmel hinauf, der inzwischen von blaugrauen Streifen überzogen war. In den Bäumen rund um den Platz hatten die ersten Vögel ihren Morgengesang angestimmt. »Ich sollte mich besser auf den Weg machen.« 

»Gibt es irgendetwas, das ich den Lightwoods ausrichten soll?«

»Nein. Nein, sag ihnen gar nichts. Sie würden dir doch nur Vorwürfe machen, wenn sie davon erfahren sollten, dass du von meinem Plan wusstest und mich trotzdem hast gehen lassen. Ich habe ihnen eine Nachricht hinterlassen«, fügte er hinzu. »Sie werden es schon selbst herausfinden.«

»Und warum …«

»… hab ich dir das alles dann erzählt? Weil ich will, dass du es weißt. Ich möchte, dass du es im Hinterkopf behältst, wenn du deinen Schlachtplan schmiedest… Dass ich dort draußen bin und nach Valentin suche. Wenn ich ihn finde, schick ich dir eine Nachricht.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über Jace’ Gesicht. »Betrachte mich einfach als deinen Ausweichplan.«

Luke beugte sich nach unten und ergriff die Hand des Jungen. »Wenn dein Vater nicht der wäre, der er ist, wäre er sehr stolz auf dich«, sagte er.

Einen Moment lang wirkte Jace überrascht, doch genauso schnell errötete er und zog seine Hand zurück. »Wenn du wüsstest…«, setzte er an, biss sich dann aber auf die Lippe. »Ach, schon gut. Alles Gute, Lucian Graymark. Ave atque vale.« 

»Lass uns hoffen, dass dies kein endgültiger Abschied wird«, erwiderte Luke. Die Sonne war inzwischen über den Bäumen aufgestiegen, und als Jace den Kopf hob, um gegen die plötzliche Lichtfülle anzublinzeln, zeichnete sich etwas auf seinem Gesicht ab - eine Mischung aus Verletzlichkeit und störrischem Stolz, die in Luke eine Saite zum Klingen brachte. »Du erinnerst mich an jemanden«, platzte er, ohne nachzudenken, heraus. »An jemanden, den ich verjähren gekannt habe.« 

»Ich weiß«, sagte Jace mit einem bitteren Zug um den Mund. »Ich erinnere dich an Valentin.«

»Nein«, widersprach Luke in einem verwunderten Ton, doch als Jace sich abwandte, verblasste die Erinnerung wieder und die Geister der Vergangenheit verschwanden. »Nein, an Valentin habe ich dabei überhaupt nicht gedacht - ganz im Gegenteil.«

 

In dem Moment, in dem Clary erwachte, wusste sie sofort, dass Jace fort war. Sie wusste es, noch bevor sie die Augen aufgeschlagen hatte. Ihre Hand, die noch immer quer über der Bettdecke lag, war leer; keine Finger erwiderten den Druck ihrer Finger. Langsam setzte sie sich auf, ein mulmiges Gefühl im Magen.

Jace musste die Vorhänge geöffnet haben, ehe er gegangen war, denn das Fenster stand offen und helle Sonnenstrahlen fielen auf das Bett. Clary fragte sich, warum das Licht sie nicht geweckt hatte. Der Himmelsstellung der Sonne nach zu urteilen, musste es bereits früher Nachmittag sein. Clarys Kopf fühlte sich schwer und irgendwie umnebelt an und ihr Blick war verschwommen. Vielleicht hatte sie deswegen so lange geschlafen, weil sie in der vergangenen Nacht zum ersten Mal seit langer Zeit nicht von Albträumen geplagt worden war und ihr Körper sich den benötigten Schlaf einfach geholt hatte.

Erst als sie aufstand, bemerkte sie den zusammengefalteten Zettel auf ihrem Nachttisch. Mit einem Lächeln um die Lippen nahm sie ihn in die Hand - Jace hatte ihr also eine Nachricht hinterlassen -, und als etwas Schweres unter dem Papier hervorrutschte und klirrend zu Boden fiel, war sie so überrascht, dass sie erschrocken einen Satz nach hinten machte. 

Vor ihren Füßen lag ein Haufen glitzernder Metallglieder. Noch bevor sie sich danach bückte, wusste Clary, worum es sich dabei handelte: um die Kette mit dem Silberring, die Jace um den Hals getragen hatte. Der Familienring. Clary hatte Jace so gut wie nie ohne diese Kette gesehen. Plötzlich wurde sie von einem Gefühl der Furcht erfasst.

Beunruhigt faltete sie das Papier auseinander und las die ersten Zeilen: Trotz allem, was geschehen ist, kann ich den Gedanken nicht ertragen, dass dieser Ring für immer verloren gehen könnte - genauso wenig wie ich den Gedanken ertragen kann, dich für immer zu verlieren. Und obwohl ich im letzteren Fall keine andere Wahl habe, liegt es wenigstens bei dem Ring in meiner Macht, eine Wahl zu treffen. 

Der Rest des Briefs schien vor Clarys Augen zu einer bedeutungslosen Ansammlung von Buchstaben zu verschwimmen; sie musste die Zeilen wieder und wieder lesen, um einen Sinn darin zu erkennen. Als sie die Nachricht schließlich vollständig verstanden hatte, stand sie einfach nur da und starrte auf den Bogen Papier, der in ihrer Hand unkontrolliert zu zittern begann. In diesem Moment begriff sie, warum Jace ihr all die Dinge erzählt und warum er gesagt hatte, dass eine einzige Nacht keine Rolle spielte. Schließlich konnte man jemandem, von dem man glaubte, dass man ihn nie Wiedersehen würde, alles anvertrauen, was man wollte.

Als Clary kurze Zeit später in Schattenjägermontur die Treppe hinunterstürmte, konnte sie sich nicht erinnern, was sie als Nächstes getan oder wie sie sich angezogen hatte. Doch nun lief sie hastig ins Erdgeschoss, den Brief in einer Hand haltend und die Kette mit dem Ring hastig über den Kopf gestreift. 

Das Wohnzimmer war leer, das Feuer im Kamin zu grauer Asche heruntergebrannt, aber aus der Küche drangen Licht und Lärm, fröhliche Stimmen und der Geruch von warmen Backwaren. Pfannkuchen?, überlegte Clary erstaunt. Sie hätte nicht gedacht, dass Amatis wusste, wie man die zubereitet. 

Und damit sollte sie auch recht behalten. Als sie die Küche betrat, spürte sie, wie sich ihre Augen vor Überraschung weiteten: Am Herd stand Isabelle, die glänzenden schwarzen Haare im Nacken zu einem Knoten hochgesteckt, eine Schürze um die Hüften und eine Schöpfkelle in der Hand. Simon saß am Tisch hinter ihr, die Füße auf einen Stuhl gelegt, und Amatis lehnte entspannt gegen die Küchentheke - statt ihm zu sagen, er solle die Schuhe runternehmen.

Isabelle wedelte Clary mit der Schöpfkelle entgegen. »Guten Morgen«, rief sie. »Hast du Lust auf Frühstück? Obwohl es vermutlich wohl eher Zeit fürs Mittagessen wäre.«

Sprachlos schaute Clary zu Amatis, die nur die Achseln zuckte. »Die beiden sind gerade erst hier aufgetaucht und wollten Frühstück machen«, erklärte sie, »und ich muss gestehen, dass ich keine besonders gute Köchin bin.«

Unwillkürlich dachte Clary an Isabelles grauenhafte Suppe im Institut und unterdrückte ein Schaudern. »Wo ist Luke?«, fragte sie.

»In Brocelind, bei seinem Rudel«, sagte Amatis. »Ist alles in Ordnung mit dir, Clary? Du guckst so …«

»… entgeistert«, beendete Simon den Satz für sie. »Alles in Ordnung?«

Einen Moment lang fiel Clary keine Antwort darauf ein. Die beiden sind gerade erst hier aufgetaucht, hatte Amatis gesagt. Das bedeutete, dass Simon die ganze Nacht bei Isabelle verbracht hatte. Sprachlos starrte Clary ihn an. Er sah jedoch nicht anders aus als sonst. 

»Mir geht’s gut«, brachte sie schließlich hervor. Dies war wohl kaum der richtige Augenblick, um sich Gedanken über Simons Liebesleben zu machen. »Ich muss mit Isabelle reden.«

»Schieß los«, sagte Isabelle und stocherte an einem unförmigen Teigklumpen am Boden der Pfanne herum, bei dem es sich vermutlich um einen Pfannkuchen handeln sollte. »Ich bin ganz Ohr.«

»Unter vier Augen«, betonte Clary. 

Isabelle runzelte die Stirn. »Kann das nicht warten? Ich bin fast fertig …«

»Nein«, erwiderte Clary und in ihrer Stimme schwang ein Ton mit, der wenigstens Simon dazu veranlasste, sich aufrecht hinzusetzen. »Nein, das kann nicht warten.«

Simon erhob sich vom Tisch. »Okay. Dann lassen wir euch beide mal allein«, sagte er und wandte sich an Amatis. »Vielleicht könntest du mir jetzt diese Babyfotos von Luke zeigen, von denen du eben geredet hast.«

Amatis warf Clary einen beunruhigten Blick zu, folgte Simon dann aber doch aus dem Raum hinaus. »Ich kann ja mal nachsehen, ob ich sie finde …«

Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, schüttelte Isabelle den Kopf. Dabei glitzerte irgendetwas in ihrem Nacken: ein funkelndes, äußerst feines Messer, das sie durch ihre hochgesteckten Haare geschoben hatte, um diese zu fixieren. Denn trotz der häuslichen Atmosphäre war sie immer noch eine Schattenjägerin. »Hör mal«, setzte sie nun an. »Falls es bei diesem Gespräch um Simon gehen sollte …« 

»Hier geht’s nicht um Simon. Es geht um Jace.« Clary hielt Isabelle die Nachricht entgegen. »Hier, lies das.«

Mit einem Seufzer schaltete Isabelle den Herd aus, nahm den Zettel und setzte sich, um ihn zu studieren. Clary angelte sich einen Apfel aus dem Obstkorb und ließ sich auf einem Stuhl nieder, während Isabelle auf der anderen Seite des Tischs schweigend Jace’ Nachricht las. Stumm zupfte Clary an der Apfelschale herum; sie konnte sich nicht vorstellen, den Apfel zu essen - genau genommen, konnte sie sich nicht vorstellen, überhaupt jemals wieder irgendetwas zu essen.

Nach einer Weile schaute Isabelle mit fragend hochgezogenen Augenbrauen auf. »Dieser Brief scheint… scheint ziemlich persönlich zu sein. Bist du sicher, dass ich ihn wirklich lesen soll?«

Vermutlich nicht. Clary konnte sich kaum an die Worte in Jace’ Brief erinnern; unter normalen Umständen hätte sie ihn Isabelle auf keinen Fall gegeben, aber ihre panische Angst um Jace setzte alle anderen Bedenken außer Kraft. »Lies ihn einfach zu Ende.« 

Isabelle wandte sich wieder ihrer Lektüre zu. Als sie die Nachricht vollständig gelesen hatte, legte sie den Brief auf den Tisch. »Ich hab mir schon gedacht, dass er so was machen würde.«

»Du verstehst also, was ich meine«, sprudelte Clary hervor. »Er kann noch nicht lange weg oder weit gekommen sein. Wir müssen versuchen, ihn einzuholen und …« Sie verstummte abrupt, als ihr Gehirn endlich das verarbeitete, was Isabelle gesagt hatte. »Wie meinst du das: Du hättest dir schon gedacht, dass er so etwas machen würde?« 

»Genau so, wie ich es gesagt habe.« Isabelle schob sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr. »Seit Sebastian verschwunden ist, reden wir alle von nichts anderem, als ihn aufzuspüren. Ich habe sein Zimmer im Haus der Penhallows von Kopf bis Fuß durchsucht, um irgendetwas zu finden, mit dem wir ihn orten können - aber der Raum wirkte wie geleckt. Allerdings war mir auch klar: Sollte Jace einen persönlichen Gegenstand von Sebastian finden, würde er sofort versuchen, ihn aufzuspüren.« Sie biss sich auf die Lippe. »Ich hatte nur gehofft, dass er Alec mitnehmen würde. Alec wird nicht gerade erfreut sein.«

»Dann meinst du, Alec wird versuchen, Jace einzuholen?«, fragte Clary mit wachsender Hoffnung.

»Clary.« Isabelle klang ein wenig genervt. »Verrate mir mal, wie wir ihn einholen sollen! Woher sollen wir denn wissen, in welche Richtung er gegangen ist?« 

»Aber es muss doch einen Weg geben …«

»Wir könnten versuchen, ihn zu orten. Aber Jace ist nicht blöd. Er wird eine Möglichkeit gefunden haben, eine Ortungsrune zu blockieren, genau wie Sebastian.«

Eine kalte Wut regte sich in Clarys Brust. »Ich frage mich, ob du ihn überhaupt finden willst! Interessiert es dich überhaupt, dass er zu einem Vorhaben aufgebrochen ist, bei dem es sich im Grunde um ein Himmelsfahrtskommando handelt? Er kann Valentin unmöglich allein gegenübertreten.« 

»Wahrscheinlich nicht«, räumte Isabelle ein. »Aber ich bin mir sicher, dass Jace seine Gründe hat…«

»Gründe wofür? Sterben zu wollen?«

»Clary.« Isabelles Augen funkelten in einem plötzlichen Anfall von Wut. »Glaubst du ernsthaft, dass wir anderen uns hier in Sicherheit befinden? Wir alle warten nur darauf, zu sterben oder in Knechtschaft gestürzt zu werden. Kannst du dir das wirklich vorstellen, dass Jace einfach nur herumsitzt und abwartet, bis etwas Schreckliches passiert? Siehst du ihn tatsächlich auf diese Weise …« 

»Das Einzige, was ich sehe, ist die Tatsache, dass Jace genauso dein Bruder ist, wie Max es war«, erwiderte Clary. »Und bei ihm hat es dich interessiert, was mit ihm passiert ist«, fügte sie hinzu, bereute ihre Worte aber noch im selben Moment. 

Isabelles Gesicht wurde kreidebleich, als hätten Clarys Worte ihrer Haut sämtliche Farbe entzogen. »Max«, konterte sie mit mühsam beherrschter Wut, »war ein kleiner Junge, kein Krieger - er war neun Jahre alt. Jace ist ein Schattenjäger, ein Soldat. Glaubst du, dass Alec nicht in die Schlacht ziehen wird, wenn wir gegen Valentin kämpfen? Glaubst du wirklich, dass nicht jeder Einzelne von uns jederzeit bereit ist zu sterben, falls es sein muss, falls die Sache es erfordert? Valentin ist Jace’ Vater. Von uns allen hat Jace vermutlich die größte Chance, nahe genug an ihn heranzukommen, um das zu tun, was getan werden muss …« 

»Valentin wird Jace töten, wenn es darauf ankommt«, entgegnete Clary. »Er wird ihn nicht verschonen.«

»Ich weiß.«

»Aber das spielt alles keine Rolle, solange Jace nur heldenhaft stirbt? Wird er dir denn überhaupt nicht fehlen?«

»Jace wird mir jeden einzelnen Tag fehlen«, sagte Isabelle, »und zwar für den Rest meines Lebens, was vermutlich - falls Jace versagt - noch etwa eine Woche dauern wird; da wollen wir uns doch mal nichts vormachen.« Verärgert schüttelte sie den Kopf. »Du kapierst es nicht, Clary. Du verstehst einfach nicht, wie es ist, im ständigen Kriegszustand zu leben, mit Schlachten und Opfern aufzuwachsen. Vermutlich ist das nicht deine Schuld. Du bist einfach nur nicht so erzogen …« 

Abwehrend hielt Clary die Hände hoch. »Oh doch, ich verstehe sehr gut. Ich weiß, du magst mich nicht, Isabelle. Weil ich für dich immer noch eine Irdische bin.« 

»Du glaubst, das wäre der Grund …?«Isabelle verstummte. Ihre Augen glänzten, aber nicht vor Wut, wie Clary überrascht feststellte, sondern vor Tränen. »Gott, du kapierst aber auch gar nichts, oder? Seit wann kennst du Jace? Seit einem Monat? Ich kenne ihn seit sieben Jahren. Und in all diesen Jahren habe ich nicht ein einziges Mal erlebt, dass er sich verliebt hätte oder dass er jemand anderen auch nur gemocht hätte. Natürlich hat er sich mit etlichen Mädchen verabredet. Und die haben sich auch jedes Mal in ihn verliebt, aber ihn hat das völlig kaltgelassen. Ich vermute, das ist auch der Grund, weshalb Alec gedacht hat …« Isabelle unterbrach sich, hielt sich einen Moment kerzengerade und rührte sich nicht von der Stelle. Sie versucht, nicht zu weinen, dachte Clary verwundert - Isabelle, die immer den Eindruck erweckte, als würde sie niemals in Tränen ausbrechen. »Jace’ Verhalten hat mir ziemliche Sorgen gemacht und meiner Mutter auch … Ich meine, welcher Jugendliche verknallt sich nicht wenigstens mal in jemanden? Es schien, als wäre er in Bezug auf andere Menschen irgendwie empfindungslos. Ich hab gedacht, das läge vielleicht daran, dass der brutale Tod seines Vaters ihm möglicherweise einen dauerhaften Schaden zugefügt hat, dass er vielleicht niemals einen anderen Menschen würde lieben können. Wenn ich damals gewusst hätte, was tatsächlich mit seinem Vater passiert ist - aber dann wäre ich wahrscheinlich auch zu keinem anderen Schluss gekommen, oder? Denn mal ehrlich: Wer würde bei dieser Geschichte keinen Schaden nehmen? 

Und dann haben wir dich kennengelernt und es war, als würde Jace aus einem tiefen Schlaf erwachen. Du konntest das nicht sehen, weil du ihn ja gar nicht anders kanntest. Aber ich hab es gesehen. Hodge hat es gesehen. Und Alec ebenfalls … Was glaubst du wohl, warum er dich so gehasst hat? Und so war es von der allerersten Sekunde an: Du hast es erstaunlich gefunden, dass du uns sehen konntest, und das war es ja auch. Aber was mich am meisten erstaunte, war die Tatsache, dass Jace dich umgekehrt ebenfalls sah. Auf dem gesamten Rückweg zum Institut hat er von nichts anderem als von dir gesprochen; dann hat er Hodge überredet, dass er dich suchen durfte, und als er dich ins Institut gebracht hatte, wollte er nicht, dass du wieder gingst. Ganz gleich, wo du dich in einem Raum aufgehalten hast, seine Augen ruhten ständig auf dir… Er war sogar auf Simon eifersüchtig. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm das selbst bewusst gewesen ist, aber an der Tatsache lässt sich nun mal nicht rütteln. Ich konnte es ihm ansehen. Eifersüchtig auf einen Irdischen. Und dann, nach dieser Geschichte auf der Party, als Simon sich in eine Ratte verwandelt hatte, war Jace bereit, mit dir ins Hotel Dumort zu gehen, die Gesetze des Rats zu brechen, nur um einen Irdischen zu retten, den er nicht einmal mochte. Das hat er nur für dich getan. Weil er wusste, dass es dich zutiefst treffen würde, wenn Simon irgendetwas zustoßen sollte. Du warst der erste Mensch außerhalb unserer Familie, dessen Glück ihm am Herzen lag. Weil er dich geliebt hat.« 

Clary stieß einen unterdrückten Laut aus. »Aber das war, bevor …«

»… bevor er herausfand, dass du seine Schwester bist. Ich weiß. Und ich mache dir deswegen auch keine Vorwürfe. Du hast es nicht wissen können. Und vermutlich hast du auch nicht anders gekonnt, als danach unbekümmert weiterzumachen und dich mit Simon zu verabreden, als würde dich das Ganze überhaupt nicht interessieren. Ich hab gedacht, da Jace nun wusste, dass du seine Schwester bist, würde er aufgeben und irgendwann darüber hinwegkommen. Aber das war nicht der Fall - er konnte es einfach nicht. Ich weiß nicht, was Valentin ihm angetan hat, als er noch ein Kind war, und ob das vielleicht der Grund für Jace’ Verhalten ist. Oder ob er einfach von Natur aus so sein muss. Aber er kommt nicht über dich hinweg, Clary. Er schafft es einfach nicht. Nach einer Weile hab ich angefangen, deinen Anblick zu hassen. Ich habe dich dafür gehasst, dass Jace dich immer Wiedersehen musste. Das ist wie bei einer Verletzung mit Dämonengift - man muss die Wunde in Ruhe lassen, damit sie heilen kann. Denn jedes Mal, wenn man den Verband entfernt, reißt man die Wunde nur wieder auf. Jedes Mal, wenn er dich sieht, ist es, als würde der Verband erneut abgerissen.« 

»Ich weiß«, flüsterte Clary. »Was glaubst du denn, wie das für mich ist?«

»Keine Ahnung. Ich kann nicht sagen, was du empfindest. Schließlich bist du nicht meine Schwester. Aber ich hasse dich nicht, Clary. Im Gegenteil: Ich mag dich sogar. Wenn die Umstände anders wären, würde ich mir für Jace niemand anderes wünschen als dich. Aber ich hoffe, du verstehst, wenn ich jetzt sage: Sollten wir all das hier wie durch ein Wunder überleben, hoffe ich von ganzem Herzen, dass meine Familie so weit wegzieht, dass wir dich nie Wiedersehen werden.« 

Tränen brannten in Clarys Augen. Es war seltsam: Isabelle und sie saßen an diesem Tisch und weinten wegen Jace, aus Gründen, die sich einerseits deutlich voneinander unterschieden und sich andererseits doch auf seltsame Weise ähnelten. »Warum erzählst du mir das alles?«

»Weil du mir vorwirfst, ich würde Jace nicht beschützen wollen. Selbstverständlich möchte ich ihn beschützen. Warum, glaubst du, war ich so bestürzt, als du plötzlich bei den Penhallows aufgetaucht bist? Du agierst immer so, als wärst du nicht Teil dieser ganzen Geschichte, nicht Teil unserer Welt - als wärst du nur ein Zaungast. Aber das stimmt nicht: Du bist ein Teil davon. Du stehst sogar mittendrin. Du kannst nicht ewig so tun, als würde dich das alles nicht betreffen, Clary - nicht wenn du Valentins Tochter bist. Nicht wenn Jace das, was er tut, teilweise deinetwegen macht.«

»Meinetwegen?«

»Was glaubst du wohl, warum er sein Leben so bereitwillig aufs Spiel setzt? Warum es ihm egal ist, ob er stirbt?«

Isabelles Worte stachen wie spitze Nadeln in Clarys Ohren. Ich weiß den Grund, dachte sie. Weil er glaubt, er sei ein Dämon, kein richtiger Mensch - das ist der Grund. Aber den kann ich dir nicht verraten. Ich kann dir das Einzige, was dich verstehen lassen würde, nicht sagen. 

»Jace hat schon immer gedacht, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmen würde, und deinetwegen glaubt er jetzt, dass er für immer verflucht sei. Ich hab gehört, wie er das zu Alec gesagt hat. Warum sollte man nicht sein Leben riskieren, wenn man sowieso nicht mehr leben will? Warum sollte man nicht sein Leben riskieren, wenn man doch nie wieder glücklich sein wird, ganz gleich, was man auch versucht?« 

»Isabelle, das reicht jetzt.« Die Küchentür hatte sich fast lautlos geöffnet und Simon stand im Türrahmen. Clary hatte ganz vergessen, wie viel schärfer sein Gehör seit der Verwandlung war. »Das ist nicht Clarys Schuld.«

Heiße Wut verfärbte Isabelles Gesicht. »Halt dich da raus, Simon! Du hast keine Ahnung, worum’s hier geht.«

Doch Simon trat einen Schritt in die Küche und schloss die Tür hinter sich. »Ich hab genug von dem gehört, was du gesagt hast«, erwiderte er sachlich. »Sogar durch die Wand. Du hast gesagt, du wüsstest nicht, was Clary empfinden würde, weil du sie nicht lange genug kennst. Aber ich kenne sie. Wenn du glaubst, Jace sei der Einzige, der hier leidet, dann hast du dich geirrt.«

Einen Moment lang herrschte Stille und der wütende Ausdruck verschwand allmählich aus Isabelles Gesicht. In der Ferne glaubte Clary zu hören, wie jemand an die Haustür klopfte: Luke vermutlich oder Maia, die weiteres Blut für Simon brachte.

»Nicht meinetwegen ist Jace aufgebrochen«, setzte Clary an und ihr Herz begann, wie wild zu schlagen. Kann ich ihnen Jace’ Geheimnis anvertrauen, jetzt, da er verschwunden ist? Kann ich ihnen den wahren Grund für seinen Aufbruch verraten, den wahren Grund dafür, dass es ihm egal ist, ob er stirbt? Im nächsten Moment schienen die Worte nur so aus ihr herauszuströmen, fast gegen ihren Willen: »Als Jace und ich den Landsitz der Waylands aufgesucht haben … um das Weiße Buch zu finden …« 

Im nächsten Moment verstummte sie jedoch, als jemand die Küchentür mit Schwung aufstieß. Amatis stürmte herein, mit einem äußerst merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Einen Augenblick lang dachte Clary, Amatis hätte Angst, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Doch dann erkannte sie, dass es sich nicht um einen Ausdruck der Furcht handelte. Amatis sah vielmehr so aus wie an jenem Abend, als Luke und Clary plötzlich bei ihr aufgetaucht waren. Sie sah aus, als hätte sie ein Gespenst gesehen. »Clary«, sagte sie langsam. »Da ist jemand, der dich sprechen will …«

Doch noch bevor sie ihren Satz beenden konnte, schob sich der Besucher an ihr vorbei in die Küche. Amatis ging einen Schritt zur Seite, sodass Clary einen Blick auf den Eindringling werfen konnte - eine schlanke, vollkommen in Schwarz gekleidete Frau. Zunächst sah Clary nur die Schattenjägermontur und hätte die Frau fast nicht erkannt… Erst in dem Moment, als ihr Blick bis zum Gesicht der Frau gewandert war, wurde es ihr schlagartig klar und sie spürte, wie ihr Magen einen Satz machte - genau wie damals, als Jace mit dem Motorrad über die Dachkante des Hotel Dumort gerast und sechs Stockwerke in die Tiefe gesaust war. Vor ihr stand ihre Mutter.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
titlepage.xhtml
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_000.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_001.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_002.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_003.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_004.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_005.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_006.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_007.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_008.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_009.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_010.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_011.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_012.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_013.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_014.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_015.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_016.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_017.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_018.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_019.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_020.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_021.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_022.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_023.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_024.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_025.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_026.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_027.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_028.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_029.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_030.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_031.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_032.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_033.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_034.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_035.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_036.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_037.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_038.html