17

DIE GESCHICHTE DER SCHATTENJÄGERIN 

 

Clary saß auf den Stufen der Abkommenshalle und schaute über den Platz des Erzengels. Der Mond war bereits aufgegangen und kam nun gerade über den Dächern der Stadt zum Vorschein, wobei die Dämonentürme sein silberweißes Licht reflektierten. Die Dunkelheit verbarg die Wunden und Narben der Stadt und unter dem klaren Nachthimmel wirkte Alicante fast friedlich - solange man nicht zum Garnisonshügel hinaufschaute und die Ruinen der Festung sah. Clarys Blick wanderte zurück zu dem Platz vor ihr, auf dem Wachen Patrouille gingen und in regelmäßigen Abständen in die Lichtkegel der Elbenlichtlaternen eintauchten, ehe sie Clarys Gegenwart geflissentlich ignorierten und wieder in den Schatten verschwanden. 

Ein paar Stufen unter ihr lief Simon unruhig, aber vollkommen geräuschlos auf und ab. Er hatte die Hände in die Taschen gesteckt, und als er am Ende der Stufen kehrtmachte und wieder auf Clary zukam, brach sich das Mondlicht auf seiner blassen Haut wie auf einer reflektierenden Oberfläche. 

»Hör auf damit«, bat Clary ihn, »du machst mich nur noch nervöser.« 

»Tut mir leid.« 

»Es kommt mir vor, als säßen wir schon eine Ewigkeit hier.« Clary spitzte die Ohren, konnte aber außer dem gedämpften Gemurmel, das durch die geschlossenen Türen der Halle drang, nichts hören. »Kannst du verstehen, was die da drinnen reden?« 

Simon kniff die Augen zusammen und schien sich angestrengt zu konzentrieren. »Ein paar Brocken«, sagte er nach einer Weile. 

»Ich wünschte, ich wäre jetzt da drin«, murmelte Clary und trat mit den Fersen gereizt gegen die Stufen, auf denen sie saß. Luke hatte sie gebeten, vor der Halle zu warten, während der Rat sich beriet. Er hatte ihr Amatis als Gesellschaft schicken wollen, aber Simon hatte darauf bestanden, dass er stattdessen Clary begleiten würde. Denn er vertrat die Ansicht, dass es sinnvoller wäre, wenn Amatis in der Halle bliebe und Clarys Anliegen unterstützte. »Ich wäre so gern bei der Besprechung dabei«, fuhr Clary fort. 

»Nein«, widersprach Simon, »das wärst du nicht.« 

Clary wusste, warum Luke sie gebeten hatte, im Freien zu warten. Sie konnte sich vorstellen, was die Anwesenden im Augenblick über sie sagten. Lügnerin. Verrückte. Närrin. Durchgedreht. Dumm. Monströs. Valentins Tochter. Vermutlich war es tatsächlich besser, dass sie vor der Halle wartete, aber die Anspannung in Erwartung der Ratsentscheidung ließ sich kaum aushalten. 

»Vielleicht könnte ich ja auf eines dieser Dinger klettern«, sinnierte Simon und musterte die wuchtigen weißen Säulen, die das schräge Dach der Halle trugen. Die Steinquader waren mit einem überlappenden Runenmuster versehen, boten aber ansonsten keinen sichtbaren Halt. »Um ein wenig Dampf abzulassen«, erläuterte er. 

»Ach, hör auf«, murrte Clary. »Du bist ein Vampir, nicht Spiderman.« 

Doch statt einer Antwort lief Simon leichtfüßig die Stufen zum Fuß einer Säule hinauf. Nachdenklich betrachtete er den Säulenschaft, legte dann die Hände auf das Gestein und begann, daran hochzuklettern. Mit offenem Mund beobachtete Clary, wie seine Fingerspitzen und Füße selbst an unmöglichen Stellen in der kannelierten Säule Halt fanden. 

»Du bist tatsächlich Spiderman!«, stieß sie sprachlos hervor. 

Simon schaute von seinem Aussichtsposten etwa auf der Hälfte der Säule zu Clary hinab. »Das würde dich dann zu Mary Jane machen, die übrigens auch rote Haare hat«, erwiderte er, kletterte weiter und warf stirnrunzelnd einen Blick auf die Stadt. »Ich hatte gehofft, ich könnte das Nordtor von hier aus sehen, aber ich bin nicht hoch genug.« 

Clary wusste, warum Simon diesen Wunsch verspürte. Man hatte Boten vor die Tore der Stadt geschickt, um die Schattenweltler zu bitten, noch zu warten, während der Rat sich beriet. Und Clary konnte nur hoffen, dass sie dazu bereit waren. In ihrer Fantasie malte sie sich aus, wie die Menge da draußen rastlos auf und ab lief, ungeduldig wartete und sich fragte, was in der Halle wohl vor sich ging … 

Plötzlich öffnete sich eine der Doppeltüren einen Spalt und eine schlanke Gestalt schlüpfte heraus, schloss die Tür hinter sich und wandte sich Clary zu. Ihr Gesicht lag im Schatten, und erst als sie auf Clary zukam und in das Licht der Elbenlaternen trat, sah Clary die rot aufleuchtenden Haare - und erkannte ihre Mutter. 

Mit einem verwirrten Ausdruck in den Augen schaute Jocelyn die Säule hinauf. »Oh, hallo, Simon. Freut mich, dass du so gut mit der Situation … zurechtkommst.« 

Simon stieß sich von der Säule ab und landete leichtfüßig vor deren Sockel. Er wirkte ein wenig beschämt. »Hi, Mrs Fray.« 

»Ich weiß nicht, ob es noch sinnvoll ist, mich weiterhin so zu nennen«, erwiderte Clarys Mutter. »Vielleicht solltest du mich einfach nur Jocelyn nennen.« Sie zögerte einen Moment. »So merkwürdig das alles auch sein mag, aber ich bin doch froh, dich hier bei Clary zu sehen. Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wie lange es her ist, dass ich euch beide mal getrennt erlebt habe.« 

Simon war sichtlich verlegen. »Ich freu mich auch, Sie wiederzusehen.« 

»Danke, Simon.« Jocelyn warf ihrer Tochter einen Blick zu. »Hör mal, Clary, hättest du vielleicht ein paar Minuten Zeit für mich, damit wir reden können? Unter vier Augen?« 

Einen langen Moment saß Clary einfach nur da und musterte ihre Mutter; sie hatte fast das Gefühl, eine Fremde anzusehen. Sie spürte, wie es ihr die Kehle zuschnürte. Dann schaute sie zu Simon hinüber - der eindeutig auf ein Zeichen von ihr wartete, ob er gehen oder bleiben sollte - und seufzte. »Okay.« 

Nachdem Simon ihr noch signalisiert hatte, dass er ihr die Daumen drückte, und dann in der Halle verschwunden war, drehte Clary sich wieder um und starrte geradeaus auf den Platz vor ihr, während Jocelyn die Stufen herunterkam und sich neben sie hockte. Ein Teil von Clary hätte sich gern zur Seite gelehnt und den Kopf auf die Schulter ihrer Mutter gelegt. Und wenn sie die Augen schloss, könnte sie sogar so tun, als wäre alles in bester Ordnung, überlegte sie. Doch ein anderer Teil von ihr wusste, dass das keinen Unterschied machen würde - schließlich konnte sie nicht ewig die Augen verschließen. 

»Clary …«, setzte Jocelyn nach einer Weile mit leiser Stimme an, »Clary, es tut mir so leid.« 

Reglos starrte Clary auf ihre Hände. Sie hielt noch immer Patrick Penhallows Stele in den Fingern, wie ihr plötzlich bewusst wurde. Hoffentlich denkt er nicht, ich will sie stehlen, überlegte sie. 

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich diesen Platz jemals Wiedersehen würde«, murmelte Jocelyn. Clary warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu und stellte fest, dass ihre Mutter über die Stadt schaute und hinauf zu den Dämonentürmen, die ihr grellweißes Licht in den Himmel sandten. 

»Manchmal habe ich davon geträumt«, fuhr Jocelyn fort. »Ich habe diesen Ort sogar malen wollen, meine Erinnerungen in Bildern festhalten wollen, doch das durfte ich nicht. Ich habe gedacht, wenn du die Gemälde jemals sehen würdest, könntest du anfangen, Fragen zu stellen und dich wundern, woher ich diese Vorstellungen hätte und wie mir diese Bilder überhaupt in den Kopf gekommen wären. Ich hatte fürchterliche Angst, du könntest herausfinden, woher ich wirklich stammte. Wer ich wirklich bin.« 

»Und jetzt habe ich es herausgefunden.« 

»Ja, jetzt hast du es herausgefunden«, bestätigte Jocelyn wehmütig. »Und du hast allen Grund, mich zu hassen.« 

»Ich hasse dich nicht, Mom«, sagte Clary. »Ich kann dir nur einfach …« 

»… nicht mehr vertrauen«, ergänzte Jocelyn. »Und das kann ich dir nicht verübeln. Ich hätte dir die Wahrheit sagen sollen.« Vorsichtig berührte sie Clary an der Schulter und schien erleichtert, als Clary nicht zurückzuckte. »Ich könnte dir jetzt sagen, dass ich das alles nur getan habe, weil ich dich beschützen wollte, aber ich weiß, wie das klingen würde. Ich war dort… vorhin in der Halle und habe dich beobachtet …« 

»Du warst dort?«, wiederholte Clary perplex. »Ich hab dich gar nicht gesehen.« 

»Ich stand am hinteren Ende der Halle. Luke hatte mich gebeten, nicht zur Versammlung zu kommen, weil meine Anwesenheit die anderen nur ablenken und alles durcheinanderbringen würde, und wahrscheinlich lag er damit gar nicht mal falsch, aber ich wollte unbedingt dabei sein. Also bin ich nach Beginn der Versammlung einfach in die Halle geschlüpft und habe mich in den Schatten versteckt. Aber ich war da. Und ich wollte dir nur sagen …« 

»Dass ich mich zum Narren gemacht habe?«, fragte Clary verbittert. »Danke, aber das weiß ich bereits.« 

»Nein. Ich wollte dir sagen, wie stolz ich auf dich bin.« 

Clary drehte den Kopf und sah ihre Mutter an. »Ehrlich?« 

Jocelyn nickte. »Natürlich bin ich stolz. Die Art und Weise, wie du vor den Rat getreten bist. Wie du den Anwesenden gezeigt hast, wozu du fähig bist. Du hast sie in deine Richtung schauen und in dir den Menschen sehen lassen, den sie auf der Welt am meisten lieben, stimmt’s?« 

»Ja, stimmt«, sagte Clary. »Woher weißt du das?« 

»Weil ich gehört habe, wie sie unterschiedliche Namen ausriefen«, erklärte Jocelyn leise. »Aber ich habe nach wie vor nur dich gesehen.« 

»Oh.« Clary schaute auf ihre Füße. »Na ja … aber ich bin mir noch immer nicht sicher, ob sie mir glauben … das mit der Rune, meine ich. Ich hoffe es natürlich, aber …« 

»Kannst du sie mir zeigen?«, fragte Jocelyn. 

»Was zeigen?« 

»Die Rune. Diejenige, die du erschaffen hast, um Schattenjäger und Schattenweltler zu vereinigen.« Jocelyn zögerte einen Moment. »Aber wenn das nicht geht…« 

»Doch, doch, ist schon okay.« Mit der Stele zeichnete Clary die Linien der Rune, die der Engel ihr gezeigt hatte, auf die Marmorstufe. Ihre Konturen leuchteten golden glühend auf-es war eine mächtige Rune, eine Karte geschwungener Linien über einem Raster aus geraden Strichen. Schlicht und komplex zugleich. Clary wusste nun, warum ihr die Rune früher immer irgendwie unvollständig erschienen war: Sie benötigte ein passendes Gegenstück, um ihre Wirkung entfalten zu können. Einen Zwilling. Einen Partner. »Allianz«, sagte sie, »so nenne ich diese Vereinigungsrune.« 

Schweigend sah Jocelyn zu, wie die Rune aufflammte und dann verblasste, wobei sie schwache Ränder auf dem Marmor hinterließ. »Als ich eine junge Frau war, habe ich so hart dafür gekämpft, Schattenweltler und Schattenjäger zu verbünden, das Abkommen zu beschützen. Damals dachte ich, ich würde einem Traum nachjagen, etwas wollen, das die meisten Schattenjäger sich nicht einmal vorstellen konnten. Und nun hast du diesen Traum greifbar gemacht und ihn wahr werden lassen.« Aufgewühlt musste sie ein paarmal blinzeln. »Als ich dich da in der Halle gesehen habe, ist mir etwas klar geworden: In all den Jahren habe ich dich immer dadurch zu schützen versucht, dass ich dich versteckt habe. Deswegen gefiel es mir auch überhaupt nicht, dass du ins Pandemonium gegangen bist. Ich wusste, dass es sich dabei um einen Klub handelt, den Schattenwesen und Irdische gleichermaßen besuchen - und dass dort dementsprechend auch Schattenjäger sein würden. Ich hab mir gedacht, dass wohl irgendetwas in deinem Blut dich dorthin zog, etwas, das die Verborgene Welt erkannte, obwohl dir dein zweites Gesicht ja genommen war. Ich dachte, du wärst in Sicherheit, solange ich diese Welt nur vor dir versteckt halten konnte. Auf den Gedanken, dich zu schützen, indem ich dich stark und wehrhaft mache, bin ich nie gekommen«, fügte sie traurig hinzu. »Aber irgendwie hast du es ja auch allein geschafft-jetzt bist du stark. Stark genug, dass ich dir die Wahrheit erzählen kann, falls du sie noch hören möchtest.« 

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Clary und musste an die schrecklichen Bilder denken, die der Engel ihr gezeigt hatte. »Ich weiß, ich war furchtbar sauer auf dich, weil du mich belogen hast. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich noch mehr grauenhafte Dinge erfahren möchte.« 

»Ich habe vorhin mit Luke gesprochen. Er meinte, du solltest alles wissen, was ich dir zu sagen habe. Die ganze Geschichte. Jede Einzelheit. Darunter befinden sich viele Dinge, die ich noch niemandem erzählt habe, nicht einmal Luke. Ich kann dir nicht versprechen, dass dir die Wahrheit immer gefallen wird, aber es ist zumindest die Wahrheit.« 

Das Gesetz ist hart, aber es ist das Gesetz. Clary war es Jace schuldig, die Wahrheit herauszufinden - mindestens so sehr, wie sie es sich selbst schuldete. Clary umklammerte die Stele in ihrer Hand, bis ihre Knöchel weiß hervortraten. »Ich will alles hören.« 

»Alles…« Jocelyn holte tief Luft. »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« 

»Wie war’s, wenn du mir erzählst, wie du Valentin heiraten konntest? Wie konntest du einen solchen Mann heiraten, ihn zu meinem Vater machen? Er ist ein Monster.« 

»Nein. Er ist ein Mensch. Zugegeben, kein guter Mensch. Aber wenn du wissen willst, warum ich ihn geheiratet habe … Ich habe ihn geliebt.« 

»Das kann nicht sein«, entgegnete Clary. »Niemand kann Valentin lieben.« 

»Ich war etwa in deinem Alter, als ich mich in ihn verliebt habe«, erklärte Jocelyn. »Ich dachte, er sei perfekt: brillant, clever, wundervoll, witzig, charmant. Ich weiß, ich weiß - du denkst jetzt wahrscheinlich, ich hätte den Verstand verloren. Aber du kennst nur den Valentin von heute und kannst dir nicht vorstellen, wie er damals gewesen ist. Als wir zusammen zur Schule gingen, war er bei allen total beliebt. Jeder mochte ihn. Irgendwie schien er eine Art Licht auszustrahlen, als gäbe es einen besonderen, hell erleuchteten Teil des Universums, zu dem nur er Zugang hatte - und wenn wir anderen Glück hatten, würde er uns daran teilhaben lassen, zumindest ein wenig. Alle Mädchen waren verrückt nach ihm und ich dachte, ich selbst hätte nicht die geringste Chance. An mir war nichts Außergewöhnliches. Ich war nicht einmal besonders beliebt; Luke war einer meiner besten Freunde und ich verbrachte die meiste Zeit mit ihm. Aber irgendwie, aus irgendeinem Grund, hatte Valentin sich doch für mich entschieden.« 

Igitt!, wäre Clary fast herausgeplatzt. Doch sie hielt sich zurück. Vielleicht lag es an der Mischung aus Wehmut und Bedauern in Jocelyns Stimme oder vielleicht daran, was sie über Valentin gesagt hatte - dass er irgendwie Licht ausgestrahlt hätte. Clary hatte das Gleiche schon einmal von Jace gedacht; damals war sie sich bei dem Gedanken dumm vorgekommen. Aber vielleicht empfand ja jeder Frischverliebte so. »Okay«, räumte sie ein, »ich verstehe, was du meinst. Aber damals warst du sechzehn. Das bedeutet doch nicht, dass du ihn gleich heiraten musstest.« 

»Ich war achtzehn, als wir geheiratet haben. Und er war neunzehn«, erläuterte Jocelyn sachlich. 

»Ach, du lieber Himmel«, stieß Clary entsetzt hervor. »Du würdest mich umbringen, wenn ich mit achtzehn heiraten wollte.« 

»Stimmt«, bestätigte Jocelyn. »Aber Schattenjäger heiraten nun mal früher als Irdische. Ihre - unsere - Lebenserwartung ist kürzer; viele von uns sterben eines gewaltsamen Todes. Das führt dazu, dass wir mit fast allen Dingen früher beginnen. Doch selbst für damalige Verhältnisse war ich ziemlich jung, als wir den Bund der Ehe schlossen. Andererseits haben sich alle für mich gefreut: meine Familie, meine Freunde, sogar Luke. Alle hielten Valentin für einen wunderbaren Jungen. Und das war er ja auch … damals … denn er war nur ein Junge. Die Einzige, die mir dringend davon abgeraten hat, ihn zu heiraten, war Madeleine. Wir waren in der Schule befreundet gewesen, aber als ich ihr von meiner Verlobung erzählte, meinte sie, Valentin sei egoistisch und abscheulich und hinter seinem Charme verberge sich eine schreckliche Amoralität. Damals habe ich gedacht, sie wäre eifersüchtig.« 

»Und, war sie das?« 

»Nein«, seufzte Jocelyn, »sie hat nur die Wahrheit gesagt. Aber die wollte ich nicht hören.« Wehmütig schaute sie auf ihre Hände. 

»Aber dann hast du es bereut«, sagte Clary. »Nachdem du ihn geheiratet hattest, hast du es bereut, stimmt’s?« 

»Clary«, setzte Jocelyn an. Sie klang sehr müde. »Valentin und ich, wir waren glücklich miteinander. Zumindest während der ersten Jahre. Wir haben im Haus meiner Eltern gewohnt, dort, wo ich aufgewachsen war. Valentin wollte nicht in der Stadt leben und er wollte, dass sich auch der Rest des Kreises von Alicante und den neugierigen Blicken des Rats fernhielt. Damals lebten die Waylands in einem Landhaus nur wenige Kilometer von unserem entfernt und auch viele andere Mitglieder des Kreises wohnten in der Nähe - die Lightwoods, die Penhallows. Es kam mir vor, als befänden wir uns im Zentrum unserer Welt, mit all den Aktivitäten um uns herum, all der Leidenschaft. Und bei allem war ich immer an Valentins Seite. Er hat mir nie das Gefühl gegeben, ich wäre nebensächlich oder unbedeutend. Nein, ich besaß eine Schlüsselposition innerhalb des Kreises. Ich gehörte zu den wenigen, auf deren Meinung er vertraute. Wieder und wieder hat er mir erklärt, dass er ohne mich nichts von alldem tun könne. Ohne mich wäre er ein Niemand.« 

»Das hat er gesagt?«, fragte Clary ungläubig. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Valentin so etwas jemals über die Lippen bringen würde - etwas, das ihn so verwundbar klingen ließ. 

»Ja, aber das entsprach nicht der Wahrheit. Valentin hätte niemals ein Niemand sein können. Er war dazu geboren, andere zu führen, im Zentrum einer Revolution zu stehen. Im Laufe der Zeit stießen immer mehr bekehrte Schattenjäger zu ihm, magisch angezogen von seiner Leidenschaft und seinen brillanten Ideen. Damals sprach er nur selten von den Schattenweltlern. In jenen frühen Anfangstagen ging es ihm vorrangig um eine Reform des Rats, um die Veränderung von Gesetzen, die er für überholt und starr und falsch hielt. Valentin meinte, es müsse mehr Schattenjäger geben, mehr Nephilim, um die Dämonen zu bekämpfen, mehr Institute … und dass wir uns weniger Sorgen darum machen müssten, uns zu verstecken, als die Erde vor den Dämonen zu schützen. Dass wir stolz und aufrecht durch die Welt gehen sollten. Seine Vision war verführerisch: eine Welt voller Schattenjäger, in der Dämonen schreiend davonliefen und in der Irdische uns für unsere Taten dankten, statt unsere Existenz zu bezweifeln. Wir waren jung; wir dachten, Dankbarkeit wäre wichtig. Wir wussten es nicht besser.« Jocelyn holte tief Luft, als wolle sie unter Wasser tauchen. »Und dann wurde ich schwanger.« 

Plötzlich spürte Clary einen eisigen Schauer über den Rücken jagen und war sich nicht mehr sicher, ob sie noch länger die Wahrheit aus dem Mund ihrer Mutter hören wollte … Von ihr erneut erfahren wollte, wie Valentin Jace in ein Monster verwandelt hatte. »Mom …«, setzte sie an. 

Doch Jocelyn schüttelte blind den Kopf. »Du hast mich gefragt, warum ich dir nie erzählt habe, dass du einen Bruder hast. Das kann ich dir erklären.« Erneut holte sie tief Luft. »Als ich herausfand, dass ich ein Kind erwartete, war ich überglücklich. Und Valentin … er habe schon immer Vater werden wollen, verkündete er, um seinen Sohn zu einem Krieger zu erziehen, genau wie sein Vater ihn erzogen hatte. >Oder deine Tochter<, warf ich dann immer ein, woraufhin er lächelte und meinte, eine Tochter könne eine ebenso gute Kriegerin werden wie ein Junge und er würde sich über beides freuen. Damals dachte ich, alles wäre einfach perfekt. 

Doch dann wurde Luke von einem Werwolf gebissen. Es heißt, bei einem von zwei Gebissenen bestünde das Risiko, dass er an Lykanthropie erkrankt. Aber ich denke, dass das Verhältnis eher bei dreien von vier liegt. Nur äußerst selten habe ich erlebt, dass jemand der Krankheit entkommen konnte, und auch Luke war keine Ausnahme. Beim darauf folgenden Vollmond vollzog sich seine Verwandlung zum Werwolf. Als er am nächsten Morgen vor unserer Haustür auftauchte, war er blutüberströmt und seine Kleidung vollkommen zerrissen. Ich wollte ihn trösten, aber Valentin hielt mich zurück. >Jocelyn<, sagte er, >denk an das Baby.< Als ob Luke sich jeden Moment auf mich stürzen und mir das Kind aus dem Leib reißen wollte! Ich meine, er war doch immer noch Luke, mein Freund Luke. Doch Valentin stieß mich aus dem Weg und zerrte Luke die Stufen hinunter und hinein in die Wälder. Als Valentin viele Stunden später zurückkehrte, war er allein. Ich bin sofort zu ihm gelaufen, doch er meinte, Luke hätte sich das Leben genommen, aus Verzweiflung über seine Lykanthropie. Und dass er… dass er tot sei.« 

Der Kummer ließ Jocelyns Stimme rau und heiser klingen, überlegte Clary, selbst in diesem Moment noch, wo sie doch wusste, dass Luke nicht gestorben war. Aber Clary erinnerte sich an ihre eigene Verzweiflung, als sie Simon festgehalten hatte und er auf den Stufen des Instituts in ihren Armen gestorben war. Es gab Gefühle, die vergaß man nie mehr. 

»Allerdings hatte Valentin Luke lediglich einen Dolch gegeben und ihn aufgefordert, sich selbst zu töten«, ergänzte Clary mit leiser Stimme. »Und dann hat er Amatis’ Ehemann dazu gebracht, sich von ihr scheiden zu lassen, nur weil ihr Bruder sich in einen Werwolf verwandelt hatte.« 

»Das wusste ich damals nicht«, sagte Jocelyn. »Nach Lukes Tod hatte ich das Gefühl, in ein schwarzes Loch zu fallen. Monatelang verließ ich mein Schlafzimmer nicht, blieb die ganze Zeit im Bett und aß, wenn überhaupt, nur wegen des Kindes, das ich erwartete. Irdische würden diesen Zustand als eine Depression bezeichnen, aber Schattenjäger kennen solche Begriffe nicht. Valentin war überzeugt, ich hätte nur eine schwierige Schwangerschaft. Er hat allen erzählt, ich wäre krank. Und ich war ja auch krank: Ich konnte nicht schlafen, glaubte, seltsame Geräusche zu hören, Schreie in der Nacht. Daraufhin gab Valentin mir abends immer einen Schlaftrunk, aber die verursachten bei mir Albträume. Furchtbare Träume, in denen Valentin mich unter Wasser tauchte, ein Messer in mich rammte oder mich mit irgendeinem Gift zum Erbrechen brachte. Morgens war ich dann wie gerädert und hab den ganzen Tag vor mich hin gedämmert. Ich hatte keine Ahnung, was jenseits meiner Schlafzimmerwände vor sich ging, keine Ahnung, dass Valentin Stephen zu einer Scheidung von Amatis gezwungen und ihn überredet hatte, Celine zu heiraten. Ich lebte wie in einem Nebel. Und dann…« Jocelyn verschränkte die Hände in ihrem Schoß, damit sie nicht länger zitterten. »Und dann bekam ich das Baby.« 

Sie verstummte und schwieg so lange, dass Clary sich schon fragte, ob sie überhaupt noch weitererzählen würde. Blind starrte Jocelyn zu den Dämonentürmen hinauf; ihre Finger trommelten nervös auf ihren Knien. Schließlich fuhr sie fort: »Meine Mutter war bei mir, als das Kind auf die Welt kam. Du hast sie nicht mehr kennengelernt… deine Großmutter. Sie war eine so liebe und gütige Frau. Du hättest sie bestimmt gemocht. Als sie mir meinen Sohn reichte, sah ich zuerst nur, dass er perfekt in meinen Arm passte, dass seine Decke ganz weich war und dass er so winzig und zerbrechlich war, mit einem kleinen blonden Haarbüschel mitten auf dem Kopf. Und dann schlug er die Augen auf.« 

Jocelyns Stimme klang matt, fast tonlos - und trotzdem spürte Clary, dass sie zu zittern begann, aus Furcht vor dem, was ihre Mutter als Nächstes sagen würde. Nicht, wollte sie rufen, erzähl es mir nicht. Doch Jocelyn fuhr fort und die Worte strömten wie kaltes Gift über ihre Lippen: 

»Eine Woge des Entsetzens erfasste mich. Ich hatte das Gefühl, als hätte man mich in Säure getaucht - meine Haut schien sich von den Knochen zu lösen und ich musste mich förmlich zwingen, das Baby nicht fallen zu lassen und laut loszuschreien. Es heißt, jede Mutter würde ihr eigenes Kind instinktiv erkennen. Vermutlich gilt das auch für das Gegenteil: Jede Faser meines Körpers schrie, dass dies nicht mein Baby war, dass dies etwas Schreckliches war, ein unnatürliches Wesen, so unmenschlich wie ein Parasit. Wie konnte es sein, dass meine Mutter das nicht sah? Doch sie lächelte mich an, als wäre alles in bester Ordnung. 

>Er heißt Jonathan<, sagte in dem Moment eine Stimme von der Schlafzimmertür her. Ich schaute auf und sah, dass Valentin die Szene vor ihm mit einem Ausdruck der Freude betrachtete. Und das Baby schlug erneut die Lider auf, als hätte es den Klang seines Namens erkannt. Seine Augen waren schwarz, schwarz wie die Nacht, bodenlos wie Tunnel, die in seinen Schädel gebohrt waren. In ihnen war nichts Menschliches.« 

In der darauf folgenden Stille saß Clary wie versteinert da und starrte ihre Mutter in sprachlosem Entsetzen an. Sie redet hier von Jace, dachte sie. Von Jace, als er noch ein Baby war. Wie konnte man angesichts eines Babys nur so empfinden? 

»Mom«, wisperte Clary. »Vielleicht … vielleicht hast du ja unter Schock gestanden oder so was. Oder vielleicht warst du krank …« 

»Dasselbe hat Valentin mir auch erzählt«, erwiderte Jocelyn mit ausdrucksloser Stimme. »Dass ich krank sei. Valentin liebte Jonathan über alles. Er konnte nicht verstehen, was mit mir los war. Und ich wusste, dass er recht hatte. Ich war ein Monster, eine Mutter, die ihr eigenes Kind nicht ausstehen konnte. Damals habe ich daran gedacht, mir das Leben zu nehmen. Vielleicht hätte ich das auch getan, doch dann erhielt ich eine Nachricht, eine Flammenbotschaft von Ragnor Fell. Er war der Hexenmeister, der unserer Familie immer am nächsten gestanden hatte, derjenige, den wir kommen ließen, wenn wir einen Heilspruch benötigten oder ähnliche Dinge. Fell hatte herausgefunden, dass Luke noch lebte und zum Anführer eines Werwolfrudels im Brocelind-Wald aufgestiegen war, in der Nähe der Ostgrenze. Nachdem ich die Nachricht gelesen hatte, habe ich sie vernichtet. Denn ich wusste, dass Valentin niemals davon erfahren durfte. Allerdings musste ich erst noch zum Lager der Werwölfe reisen und Luke mit eigenen Augen sehen, bis ich begriff, dass Valentin mich belegen hatte, dass er Lukes Selbstmord mir gegenüber nur vorgetäuscht hatte. Und das war der Moment, in dem ich Valentin zu hassen begann.« 

»Aber Luke hat erzählt, du hättest gewusst, dass mit Valentin irgendetwas nicht stimmte - dass er irgendwelche schrecklichen Dinge durchführte. Er sagte, du hättest davon gewusst, noch bevor er sich in einen Werwolf verwandelte.« 

Jocelyn schwieg einen Moment. »Weißt du«, fuhr sie schließlich fort, »eigentlich hätte Luke nicht gebissen werden dürfen. Das hätte niemals passieren dürfen. Es war doch nur eine Routinepatrouille in den Wäldern … er war mit Valentin unterwegs … es hätte wirklich nicht passieren dürfen.« 

»Mom …« 

»Luke hat recht: Offenbar habe ich ihm noch vor seiner Verwandlung erzählt, dass ich mich vor Valentin fürchtete … dass ich nachts Schreie hören konnte, die durch die Mauern des Landhauses zu dringen schienen … dass ich einen Verdacht hegte, einen schlimmen Verdacht. Und Luke - treuer, vertrauensseliger Luke - sprach Valentin am nächsten Tag direkt darauf an. In jener Nacht nahm Valentin Luke mit auf die Jagd, während der er gebissen wurde. Ich glaube … ich glaube, Valentin hat mir etwas gegeben, das mich alles vergessen ließ, was ich gesehen hatte, alles, wovor ich mich fürchtete. Er hat mir eingeredet, dass es sich nur um einen schlechten Traum gehandelt hätte. Und ich glaube außerdem, dass er dafür gesorgt hat, dass Luke in jener Nacht gebissen wurde. Ich denke, er wollte Luke aus dem Weg schaffen, damit niemand mich daran erinnern konnte, dass ich mich vor meinem eigenen Ehemann fürchtete. Aber das habe ich nicht erkannt, jedenfalls nicht sofort. An dem Tag, an dem ich Ragnor Fells Nachricht erhalten hatte, haben Luke und ich uns nur kurz gesehen. Eigentlich wollte ich ihm unbedingt von Jonathan erzählen, aber ich habe es nicht fertiggebracht, ich konnte es einfach nicht. Jonathan war mein Sohn. Trotzdem hat mich die Begegnung mit Luke - das Wissen, dass er noch lebte - stärker gemacht. Ich ritt nach Hause in der festen Absicht, mir mehr Mühe mit Jonathan zu geben und ihn lieben zu lernen. Mich dazu zu überwinden, ihn zu lieben. 

In jener Nacht wurde ich vom Weinen eines Babys geweckt. Ruckartig fuhr ich hoch. Ich war allein im Haus - Valentin war fort, zu einer Versammlung des Kreises -, daher konnte ich meine Verwunderung mit niemandem teilen.

Du musst wissen, dass Jonathan nie geweint oder auch nur das geringste Geräusch von sich gegeben hat. Sein Schweigen zählte zu den Dingen, die mich am meisten an ihm erschreckten. Atemlos rannte ich durch den Flur zu seinem Zimmer, aber er schlief tief und fest und völlig still. Trotzdem konnte ich ein Kind weinen hören, da war ich mir absolut sicher. Ich lief die Treppe hinunter, folgte den schluchzenden Babygeräuschen. Sie schienen aus dem leeren Weinkeller zu kommen, dessen Tür jedoch verriegelt war, da wir den Raum nicht nutzten. Aber schließlich war ich in dem Landhaus aufgewachsen - ich wusste, wo mein Vater den Schlüssel versteckte…« 

Während Jocelyn erzählte, starrte sie gedankenverloren geradeaus, als wäre sie vollkommen in ihre Erinnerungen versunken. 

»Als du klein warst, habe ich dir nie die Geschichte von König Blaubart und seiner Frau vorgelesen, oder? Darin untersagt der König seiner Frau, einen Blick in einen verschlossenen Raum zu werfen; doch die Frau ignoriert das Verbot und stößt in dem Raum auf die Überreste sämtlicher früherer Frauen ihres Mannes, die dieser ermordet und wie Schmetterlinge in einer Vitrine ausgestellt hat. Ich selbst hatte keine Ahnung, was mich hinter der verriegelten Weinkellertür erwarten würde. Wenn man mich heute fragt, ob ich das noch mal tun würde … ob ich noch mal in der Lage wäre, die Tür zu öffnen und mich von meinem Elbenlicht durch die Dunkelheit führen zu lassen, dann wüsste ich darauf keine Antwort, Clary. Ich wüsste es wirklich nicht. 

Als Erstes schlug mir der Geruch entgegen, ein grässlicher Geruch nach Blut und Verderben und Tod. Valentin hatte unter dem Weinkeller eine tiefe Gruft ausgehoben. Und das, was ich gehört hatte, war nicht das Weinen eines Babys gewesen: In der Gruft befanden sich etliche Zellen - Zellen, in denen Wesen kauerten. Dämonen-Kreaturen, die mit Elektrumketten gefesselt waren, gekrümmte, sich windende und röchelnde Gestalten. Doch das war längst nicht alles: In den nächsten Zellen befanden sich die leblosen Körper von Schattenwesen - in unterschiedlichen Verfalls- und Verwesungszuständen. Werwölfe, deren Muskulatur von Silberpulver halb zerfressen war. Vampire, die man mit dem Kopf in Eimer mit Weihwasser gesteckt hatte, bis sich ihre Haut in Fetzen von den Knochen gelöst hatte. Feenwesen, deren Haut mit kaltem Eisen durchbohrt war. 

Selbst jetzt, in diesem Moment, sehe ich Valentin noch immer nicht als einen Folterknecht. Nicht wirklich. Er schien eher wissenschaftliche Studien zu betreiben. An jeder Zellentür war ein Pult angebracht, auf dem ein Buch mit Notizen lag - akribische Aufzeichnungen seiner Experimente: Wie lange es gedauert hatte, bis der jeweilige Insasse gestorben war. Einem der Vampire hatte Valentin wieder und wieder die Haut versengt, um herauszufinden, bis zu welchem Grad sich die arme Kreatur regenerieren konnte. Es fiel mir schwer, seine Notizen zu lesen; am liebsten wäre ich in Ohnmacht gefallen oder hätte mich übergeben. Aber irgendwie gelang es mir, diesen Drang zu unterdrücken. 

Eine Seite hatte Valentin den Experimenten gewidmet, die er an sich selbst durchgeführt hatte. Offenbar hatte er irgendwo gelesen, dass Dämonenblut als Verstärker derjenigen Kräfte fungieren könnte, mit denen Schattenjäger geboren werden. Also hatte er versucht, sich dieses Blut zu injizieren, aber ohne sichtbaren Erfolg; ihm war davon lediglich schlecht geworden. Schließlich kam er zu dem Schluss, dass er bereits zu alt war und dass das Blut bei ihm seine volle Wirkung nicht mehr entfalten konnte. Stattdessen müsste es einem Kind verabreicht werden - vorzugsweise einem ungeborenen. 

Auf der gegenüberliegenden Buchseite hatte erweitere Beobachtungen notiert - unter einer Überschrift, die ich sofort erkannte. Dort stand mein Name JocelynMorgenstern. 

Ich weiß noch, wie meine Finger zitterten, als ich die folgenden Seiten umblätterte, während Valentins Notizen sich mir förmlich ins Hirn brannten: >Jocelyn hat die Mischung auch heute Abend wieder getrunken. Bei ihr sind noch keine sichtbaren Veränderungen festzustellen, aber mir es geht in erster Linie ja auch um das Ungeborene… Mit weiteren regelmäßigen Verabreichungen von dämonischem Wundsekret müsste das Kind später zu allen erdenklichen Leistungen fähig sein … Letzte Nacht habe ich seinen Herzschlag gehört - stärker als jedes menschliche Herz, der Klang einer mächtigen Glocke, die den Beginn einer neuen Generation von Schattenjägern einläutet. Einer Rasse von Nephilim, bei denen sich das Blut von Engeln und Dämonen zu einer Mischung vereinigt, deren Macht und Stärke alles Dagewesene in den Schatten stellt… Die Tage, in denen die Kräfte der Schattenwesen die stärksten auf Erden waren, sind endgültig gezählt…< 

Valentins Notizen füllten Seite um Seite. Mit zitternden Fingern blätterte ich weiter, während vor meinem inneren Auge die Schlaftrünke und Mixturen wieder auftauchten, die Valentin mir Abend für Abend verabreicht hatte. Nun verstand ich auch meine allnächtlichen Albträume, in denen ich das Gefühl hatte, man würde mich erstechen, ersticken oder vergiften. Doch nicht ich wurde vergiftet, sondern Jonathan. Valentin vergiftete Jonathan, den er in eine Art halb dämonische Kreatur verwandelt hatte. Und das, Clary, war der Moment, in dem ich erkannte, wer Valentin wirklich war.« 

Clary ließ die Luft - von der sie gar nicht gemerkt hatte, dass sie sie angehalten hatte - langsam aus ihren Lungen strömen. Diese Geschichte war entsetzlich, unsagbar entsetzlich, fügte sich aber mit allem zusammen, was Ithuriel ihr in der Vision gezeigt hatte. Clary war sich nicht sicher, für wen sie mehr Mitleid empfunden sollte: für ihre Mutter oder für Jonathan. Jonathan - sie konnte ihn einfach nicht mehr als Jace sehen, nicht in Gegenwart ihrer Mutter und mit den frischen Bildern dieser Geschichte im Kopf. Jonathan - zu einem halb menschlichen Dasein verurteilt, von einem Vater, der sich mehr für die Ermordung von Schattenweltlern interessierte als für das Wohlergehen seiner eigenen Familie. 

»Aber damals hast du Valentin noch immer nicht verlassen, oder?«, fragte Clary mit gepresster Stimme. »Du bist geblieben …« 

»Ja, aus zwei Gründen«, erklärte Jocelyn. »Der erste Grund war der Aufstand. Meine Entdeckungen in jener Nacht im Keller waren wie ein Schlag ins Gesicht, der mich aus meinem Dämmerzustand weckte und mir die Augen für das öffnete, was um mich herum vorging. Als mir erst einmal klar geworden war, was Valentin vorhatte - das Abschlachten von Schattenweltlern im großen Stil -, da wusste ich, dass ich das nicht zulassen durfte. Also habe ich mich heimlich mit Luke getroffen. Ich konnte ihm zwar nicht erzählen, was Valentin mir und unserem Kind angetan hatte, weil ich wusste, dass dieses Wissen Luke rasend gemacht hätte. Er hätte bestimmt versucht, Valentin zu stellen und zu töten, da war ich mir sicher, und dabei hätte er nur sein eigenes Leben riskiert. Und ich konnte auch sonst niemandem anvertrauen, was Valentin mit Jonathan gemacht hatte. Denn trotz allem war er doch noch mein Kind. Aber ich habe Luke von den entsetzlichen Entdeckungen im Keller erzählt und von meiner Überzeugung, dass Valentin den Verstand verlor, dass er zunehmend dem Wahnsinn verfiel. Gemeinsam planten Luke und ich, den Aufstand zu vereiteln. Ich konnte gar nicht anders, Clary, ich fühlte mich innerlich dazu verpflichtet. Es war eine Art Sühne … der einzige Weg, um mich von der Sünde reinzuwaschen und dafür zu büßen, dass ich jemals dem Kreis angehört hatte, dass ich Valentin vertraut, dass ich ihn geliebt hatte.« 

»Und er hat nichts gemerkt? Valentin, meine ich. Er hat nicht herausbekommen, was du vorhattest?« 

Jocelyn schüttelte den Kopf. »Wenn jemand dich liebt, vertraut er dir in der Regel. Außerdem habe ich zu Hause so getan, als wäre alles in Ordnung. Ich verhielt mich so, als hätte ich meinen anfänglichen Widerwillen gegen Jonathan überwunden. Ich nahm ihn regelmäßig mit zu Maryse Lightwood, ließ ihn mit deren Sohn Alec spielen. Manchmal gesellte sich auch Celine Herondale zu uns - sie war zum damaligen Zeitpunkt schwanger. >Dein Mann ist so freundlich<, erzählte sie mir immer wieder. >Er ist so um Stephens und mein Wohlergehen bemüht. Und er gibt mir Mixturen und Schlaftrünke … für die Gesundheit meines Babys. Sie wirken einfach wundervoll.« 

»Oh mein Gott«, stieß Clary hervor. 

»Genau das hab ich auch gedacht«, bestätigte Jocelyn finster. »Ich hätte ihr so gern geraten, Valentin nicht zu trauen oder keine seiner Mixturen anzurühren, aber das konnte ich nicht. Ihr Ehemann war Valentins bester Freund und sie hätte ihm sofort von meiner Warnung erzählt. Also hielt ich den Mund. Und dann …« 

»… hat sie sich das Leben genommen«, ergänzte Clary, da sie sich an den Fortgang der Geschichte erinnerte. »Weil Valentin ihr das angetan hatte?« 

Jocelyn schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Stephen kam bei einem Überfall auf ein Vampirnest ums Leben, und als Celine davon erfuhr, schlitzte sie sich die Pulsadern auf und verblutete. Damals war sie im achten Monat.« Jocelyn schwieg kurz und fuhr dann fort. »Hodge war derjenige, der sie fand. Und Valentin schien wirklich bestürzt über den Tod der beiden. Er stürmte aus dem Haus und blieb fast den ganzen Tag danach verschwunden. Als er nach Hause zurückkehrte, wirkte er erschöpft und abgekämpft. Aber in gewisser Weise war ich fast dankbar für seine Geistesabwesenheit. Denn es bedeutete, dass er dem, was ich tat, weniger Aufmerksamkeit widmete. Meine Sorge, dass Valentin die Verschwörung aufdecken könnte, wuchs von Tag zu Tag. Ich musste befürchten, dass er dann versuchen würde, die Wahrheit aus mir herauszupressen: Wer gehörte alles unserem geheimen Bündnis an? Wie viele seiner Pläne hatte ich bereits verraten? Ich fragte mich, wie lange ich einer Folter wohl standhalten würde, und musste mir eingestehen, dass ich wahrscheinlich nicht lange Widerstand bieten konnte. Also beschloss ich, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzugehen, dass es niemals so weit kommen würde. Ich wandte mich an Ragnor Fell und er stellte einen speziellen Trank für mich zusammen …« 

»Der Trank aus dem Weißen Buch«, erkannte Clary in dem Moment. »Dafür brauchtest du es also. Für diesen Zaubertrank und das Gegenmittel. Und wie ist das Buch dann in der Bibliothek der Waylands gelandet?« 

»Ich habe es dort eines Abends während einer Feier versteckt«, erklärte Jocelyn, mit einem leisen Lächeln um die Lippen. »Ich wollte Luke nicht davon erzählen, weil ich wusste, dass ihm diese ganze Geschichte, die Sache mit dem Zaubertrank nicht gefallen würde. Aber alle anderen, die ich kannte, gehörten dem Kreis an. Und Ragnor ließ mich wissen, dass er Idris verlassen wolle und nicht wisse, wann er zurückkehren würde; allerdings könnte ich ihm jederzeit eine Nachricht zukommen lassen. Doch wer sollte ihm im Zweifelsfall die Nachricht schicken? Schließlich wurde mir klar, dass es nur einen Menschen gab, dem ich davon erzählen konnte - jemand, der Valentin genügend hasste, um mich niemals an ihn zu verraten. Also schrieb ich Madeleine einen Brief, in dem ich mein Vorhaben erläuterte und ihr mitteilte, der einzige Weg zu meiner Rettung bestünde darin, Ragnor Fell aufzusuchen. Obwohl ich von ihr keine Antwort erhielt, musste ich einfach darauf vertrauen, dass sie meine Nachricht bekommen und verstanden hatte. Das war das Einzige, woran ich mich klammern konnte.« 

»Zwei Gründe … Du hast gesagt, du wärst aus zwei Gründen bei Valentin geblieben«, warf Clary ein. »Der erste Grund war der Aufstand. Und was war der andere?« 

Jocelyn wirkte zwar müde, warf Clary aber einen leuchtenden Blick aus ihren grünen Augen zu. »Kannst du das nicht erraten, Clary?«, fragte sie. »Der zweite Grund war die Tatsache, dass ich erneut schwanger war. Mit dir.« 

»Oh«, murmelte Clary mit dünner Stimme und erinnerte sich an Lukes Worte: Sie trug ein weiteres Kind unter dem Herzen, hatte schon seit Wochen gewusst, dass sie wieder schwanger war. »Aber hat das nicht den Wunsch in dir geweckt, nun erst recht zu fliehen?«, hakte Clary nach. 

»Doch«, erklärte Jocelyn. »Aber ich wusste, dass das unmöglich war. Wenn ich vor Valentin geflohen wäre, hätte er Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um mich zurückzubekommen. Er hätte mich bis ans Ende der Welt verfolgt, weil ich ihm gehörte und er mich niemals hätte gehen lassen. Vielleicht wäre ich das Risiko für mich selbst ja eingegangen und hätte es darauf ankommen lassen, aber ich hätte niemals zulassen können, dass er dir ein Leid zufügt.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem erschöpften Gesicht. »Es gab nur einen Weg, das zu verhindern. Und der bestand darin, dass Valentin sterben musste.« 

Überrascht schaute Clary ihre Mutter an. Jocelyn wirkte zwar noch immer müde, aber in ihren Augen funkelte eine eiserne Entschlossenheit. 

»Ich ging davon aus, dass er bei dem Aufstand ums Leben kommen würde«, fuhr sie fort. »Ich hätte ihn niemals eigenhändig töten können. Irgendwie konnte ich mich nicht dazu überwinden. Aber ich hätte nicht gedacht, dass er die Schlacht überleben könnte. Und später, als ich vor den Überresten des niedergebrannten Landguts stand, wollte ich glauben, dass er tot war. Wieder und wieder habe ich mir einzureden versucht, dass er und Jonathan in dem Feuer umgekommen waren. Aber tief in mir drin wusste ich…«Ihre Stimme verstummte einen Moment und sie sprach erst nach einer Weile weiter. »Das ist der Grund, warum ich Idris verlassen und all die Dinge getan habe, die du mir vorgeworfen hast. Ich dachte, es sei der einzige Weg, dich zu beschützen - indem ich dir deine Erinnerungen nahm und dich weitestgehend wie eine Irdische aufwachsen ließ. Indem ich dich in der Welt der Irdischen versteckte. Das war dumm - das weiß ich inzwischen auch. Dumm und falsch. Und es tut mir leid, Clary. Ich kann nur hoffen, dass du mir verzeihen wirst - wenn nicht jetzt, dann doch vielleicht eines Tages.« 

»Mom.« Clary musste sich räuspern; sie hatte seit etwa zehn Minuten das Gefühl, jeden Moment in Tränen auszubrechen. »Ist schon in Ordnung. Es … es gibt da nur noch eine Sache, die ich nicht verstehe.« Aufgewühlt wickelte sie den Stoff ihres Umhangs um ihre Finger. »Ich … ich wusste ja bereits in Teilen, was Valentin Jace angetan hat - ich meine, Jonathan angetan hat. Aber die Art und Weise, wie du Jonathan beschreibst … das klingt, als wäre er ein Monster. Aber, Mom, so ist Jace nicht. So ist er überhaupt nicht. Wenn du ihn kennen würdest… wenn du ihn nur einmal treffen könntest…« 

»Clary.« Jocelyn nahm Clarys Hand in ihre und hielt sie fest. »Da ist noch etwas, was ich dir erzählen muss. Nichts, das ich vor dir verborgen oder weswegen ich dich belogen hätte. Aber es gibt da ein paar Fakten, die ich selbst nicht wusste und erst kürzlich herausgefunden habe. Ein paar schwer verdauliche Fakten.« 

Schlimmer als das, was du mir bisher erzählt hast?, schoss es Clary durch den Kopf. Doch sie biss sich auf die Lippe und nickte. »Schieß los und erzähl es mir. Ich möchte lieber die ganze Wahrheit hören.« 

»Als Madame Dorothea mir berichtete, dass Valentin in New York gesichtet worden war, wusste ich, dass er mich suchte - mich und den Engelskelch. Ich wollte fliehen, konnte mich aber nicht dazu überwinden, dir den Grund zu erklären. Ich mache dir überhaupt keine Vorwürfe, dass du an jenem schrecklichen Abend fortgelaufen bist, Clary. Im Gegenteil: Ich war einfach nur froh, dass du nicht da warst, als dein Vater … als Valentin und seine Dämonen in unsere Wohnung einbrachen. Mir blieb gerade noch genügend Zeit, den Zaubertrank zu schlucken - ich konnte sie bereits an der Wohnungstür hören …« Jocelyn verstummte einen Augenblick, und als sie schließlich fortfuhr, klang ihre Stimme angespannt. »Ich hatte gehofft, Valentin würde mich für tot halten und zurücklassen, aber das tat er nicht. Er brachte mich in Renwicks Ruine und versuchte mit unterschiedlichen Mitteln, mich wieder aufzuwecken, doch nichts davon funktionierte. Ich befand mich in einer Art Trancezustand; im Unterbewusstsein bekam ich mit, dass er da war, konnte mich aber nicht bewegen oder seine Fragen beantworten. Vermutlich hat er nicht gedacht, dass ich ihn hören oder verstehen könnte. Und dennoch saß er Stunde für Stunde an meinem Bett und sprach mit mir.«

»Er hat mit dir gesprochen? Worüber denn?« »Über unsere Vergangenheit. Unsere Ehe. Wie sehr er mich geliebt habe und dass ich ihn hintergangen hätte. Und dass er seitdem keine andere mehr habe lieben können. Ich denke, er meinte es wirklich ernst - so ernst Valentin diese Dinge überhaupt meinen kann. Schon früher war ich immer diejenige gewesen, der er sich anvertraut hatte, der er seine Zweifel und seine Schuldgefühle gestanden hatte. Und in den Jahren nach meiner Flucht glaube ich nicht, dass er irgendjemand anderen zum Reden hatte. Ich denke, er konnte einfach nicht dem Drang widerstehen, mir alles zu erzählen, obwohl er wusste, dass er das eigentlich nicht tun sollte. Ich glaube, er hatte einfach das dringende Bedürfnis, mit jemandem zu reden.« Jocelyn holte tief Luft und fuhr dann fort: »Man sollte annehmen, dass ihn das, was er diesen armen Menschen, diesen Forsaken angetan hatte, am meisten beschäftigt hätte, oder seine Pläne bezüglich des Rats. Aber das war nicht der Fall. Er wollte ausschließlich über Jonathan reden.« 

»Und worüber genau?« 

Jocelyn presste die Lippen zusammen. »Er wollte mir sagen, wie leid ihm all die Dinge täten, die er Jonathan vor dessen Geburt angetan hatte, weil er wusste, dass ich fast daran zugrunde gegangen war. Er hatte gewusst, dass ich mir wegen Jonathan beinahe das Leben genommen hätte - allerdings ahnte er nicht, dass mich auch das Wissen um die Experimente, die er im Keller durchführte, fast in den Wahnsinn trieb. Na, jedenfalls war er irgendwie in den Besitz von Engelsblut gekommen. Engelsblut ist für Schattenjäger eine fast legendäre Substanz. Es heißt, der Genuss verleihe unglaubliche Kräfte. Valentin hatte es an sich selbst ausprobiert und dabei festgestellt, dass das Blut ihm nicht nur mehr Kraft schenkte, sondern auch ein Gefühl der Euphorie und des Glücks. Also hatte er etwas Blut genommen, es zu Pulver getrocknet und dieses unter mein Essen gemischt, in der Hoffnung, es würde gegen meine Verzweiflung helfen.« 

Ich weiß, woher er dieses Engelsblut hatte, dachte Clary und erinnerte sich schmerzhaft an Ithuriel. »Und, hat es gewirkt?« 

»Heute frage ich mich, ob das vielleicht der Grund dafür war, dass ich plötzlich wieder klar denken und Luke dabei helfen konnte, Valentins Pläne für den Aufstand zu durchkreuzen. Welch eine Ironie des Schicksals - wenn man bedenkt, warum Valentin mir das Blut verabreicht hatte. Allerdings ahnte Valentin zu der Zeit nicht, dass ich bereits mit dir schwanger war. Und während das Engelsblut bei mir möglicherweise eine leichte Wirkung zeigte, muss es dich auf jeden Fall enorm beeinflusst haben. Ich denke, das ist der Grund dafür, dass du heute diese Fähigkeiten besitzt… dass du Runen erschaffen kannst.« 

»Und möglicherweise auch der Grund, weswegen du solche Dinge tun kannst wie das Bild des Engelskelchs in einer Tarotkarte zu verstecken. Und weswegen Valentin den Fluch, der auf Hodge lag, aufheben konnte …«, überlegte Clary. 

»Valentin hat jahrelang die unterschiedlichsten Experimente an sich selbst durchgeführt. Er ist heute einem Hexenmeister so nahe, wie es einem Menschen, einem Schattenjäger nur möglich ist«, erklärte Jocelyn. »Doch nichts von alldem hätte bei ihm eine so tiefgreifende Wirkung entfalten können wie bei dir oder Jonathan, weil ihr beide damals so jung wart. Ich bin mir nicht sicher, ob so etwas schon jemals zuvor ausprobiert worden war, jedenfalls nicht an Ungeborenen.« 

»Dann sind Jace - Jonathan - und ich also tatsächlich Experimente.« 

»Bei dir war das Ganze nicht geplant. Aber mit Jonathan wollte Valentin eine Art Superkrieger erschaffen, der stärker und schneller und besser sein sollte als jeder andere Schattenjäger. Und in Renwicks Ruine hat Valentin mir erzählt, dass sein Plan aufgegangen ist und Jonathan tatsächlich all diese Eigenschaften besitzt. Aber er ist auch grausam und amoralisch und seltsam seelenlos. Jonathan war gegenüber Valentin zwar immer loyal, aber ich vermute, Valentin hat erkannt, dass er beim Versuch, ein Kind zu erschaffen, das allen anderen überlegen ist, auch einen Sohn schuf, der ihn niemals richtig würde lieben können.« 

Unwillkürlich musste Clary an Jace denken, an die Art und Weise, wie er in Renwicks Ruine ausgesehen hatte und die scharfkantige Portalscherbe so fest umklammerte hatte, dass ihm das Blut zwischen den Fingern hindurchgesickert war. »Nein«, widersprach sie. »Nein, nein und nochmals nein. So ist Jace nicht. Er liebt Valentin. Er weiß, dass er das nicht sollte, aber er kann nichts dagegen machen. Und er ist auch alles andere als seelenlos. Jace ist das genaue Gegenteil von all dem, was du gesagt hast.« 

Jocelyns Hände zuckten in ihrem Schoß. Sie waren über und über mit feinen weißen Narben bedeckt - den weißen Narben aller Schattenjäger, den verblassten Erinnerungen an einst aufgetragene Runenmale. Doch Clary hatte die Narben ihrer Mutter noch nie bewusst wahrgenommen. Magnus’ Magie hatte immer dafür gesorgt, dass sie den Anblick sofort wieder vergessen hatte. Eine der Narben, an der Innenseite des Handgelenks, erinnerte an die Form eines Sterns … 

Doch als ihre Mutter im nächsten Moment weitersprach, schienen sämtliche anderen Gedanken wie weggeblasen: »Ich rede hier nicht von Jace.« 

»Aber…«, setzte Clary an. Plötzlich schien sich alles um sie herum ganz langsam zu bewegen, als befände sie sich in einem Traum. Vielleicht träume ich ja, dachte sie. Vielleicht ist meine Mutter ja gar nicht aufgewacht und ich träume das alles nur. »Jace ist Valentins Sohn. Ich meine, wer könnte er sonst sein?«, fragte sie verwirrt. 

Jocelyn sah ihrer Tochter direkt in die Augen. »In der Nacht, in der Celine Herondale starb, war sie im achten Monat schwanger. Valentin hatte auch ihr seinen Schlaftrunk, sein Pulver verabreicht. Er testete an ihr, was er bereits an sich ausprobiert hatte, mit Engelsblut - in der Hoffnung, dass Stephens Kind so stark und mächtig werden würde, wie er es von Jonathan erwartete, allerdings ohne Jonathans negative Charaktereigenschaften. Den Gedanken, dass dieses Experiment durch Celines Tod zunichte gemacht würde, konnte er nicht ertragen. Also schnitt er mit Hodges Hilfe das ungeborene Kind aus dem Bauch seiner Mutter heraus - Celine war noch nicht lange tot…« 

Clary stieß ein würgendes Geräusch hervor. »Das kann doch nicht wahr sein.« 

Doch Jocelyn fuhr fort, als hätte Clary überhaupt nicht gesprochen. »Valentin nahm das Kind und ließ es von Hodge in sein eigenes Elternhaus bringen, in einem Tal nicht weit vom Lyn-See entfernt. Aus diesem Grund war er auch die ganze Nacht unterwegs. Hodge kümmerte sich bis zum Aufstand um das Kind. Danach gab Valentin sich als Michael Wayland aus, zog mit dem Kind in das Landhaus der Waylands und erzog es als Michael Waylands Sohn.« 

»Dann ist Jace …«, flüsterte Clary, »dann ist Jace also nicht mein Bruder?« 

Sie spürte, wie Jocelyn ihre Hand drückte - eine mitfühlende Geste. »Nein, Clary, er ist nicht dein Bruder«, bestätigte sie bedauernd. 

Clarys Sicht verschwamm und sie fühlte, wie ihr Herz zu rasen begann - kräftige, schnelle Schläge. Ich tue meiner Mutter leid, dachte sie vage. Meine Mutter glaubt, das sei eine schlechte Nachricht. Clarys Hände begannen zu zittern. »Und was ist mit den Knochen, die man in den Überresten des niedergebrannten Hauses gefunden hat? Von wem stammten die? Luke meinte, darunter wären auch die Knochen eines Kindes gewesen …« 

Jocelyn schüttelte den Kopf. »Das waren Michael Waylands Knochen und die seines Sohnes. Valentin hatte beide ermordet und ihre Leichen verbrannt. Er wollte den Rat glauben machen, dass er und sein Sohn tot seien.«

»Und Jonathan …?« 

»Lebt noch«, erklärte Jocelyn und ein schmerzhafter Ausdruck huschte über ihr Gesicht. »Zumindest hat mir Valentin das in Renwicks Ruine erzählt. Valentin ließ Jace auf dem Herrensitz der Familie Wayland aufwachsen und Jonathan in dem Haus am See. Er teilte seine Zeit zwischen beiden Jungen auf, reiste zwischen den Häusern hin und her und ließ die Jungen manchmal auch wochenlang allein. Offenbar hat Jace nie von Jonathan erfahren, während Jonathan möglicherweise von Jace gewusst hat. Allerdings sind sie sich nie begegnet, obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt aufwuchsen.« 

»Und in Jace’ Adern fließt kein Dämonenblut? Er ist nicht - verflucht?« 

»Verflucht?« Jocelyn schaute Clary überrascht an. »Nein, er at kein Dämonenblut in sich. Valentin hat an dem ungeborenen Jace mit demselben Blut herumexperimentiert wie an mir, also an dir. Mit Engelsblut. Jace ist nicht verflucht. Ganz im Gegenteil. Alle Schattenjäger tragen das Blut des Engels in sich - aber ihr zwei habt einfach ein bisschen mehr davon.« 

Clarys Gedanken überschlugen sich förmlich. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie Valentin zwei Kinder gleichzeitig aufzog, eines mit dämonischem Blut in den Adern und eines mit dem Blut des Engels. Ein Junge der Finsternis und ein Junge des Lichts. Vielleicht hatte Valentin sie ja beide geliebt, so weit er dazu überhaupt fähig war. Jace hatte nie von der Existenz des anderen Jungen erfahren, aber hatte Jonathan von ihm gewusst? Von seinem Gegenstück, seinem Gegenspieler? Hatte er den Gedanken an ihn gehasst? Oder sich danach gesehnt, ihn kennenzulernen? Oder war es ihm vielleicht egal gewesen? Beide Jungen waren schrecklich einsam gewesen. Und einer von ihnen war ihr Bruder - ihr richtiger, zu hundert Prozent leiblicher Bruder. »Glaubst du, er ist heute immer noch wie früher? Ich meine Jonathan. Glaubst du, er könnte sich verändert haben … zum Besseren?« 

»Nein. Nein, ich fürchte, nicht«, sagte Jocelyn leise. 

»Aber wie kannst du dir da so sicher sein?« Clary wandte sich ruckartig ihrer Mutter zu. »Vielleicht hat er sich ja verändert. Ich meine, seitdem sind doch so viele Jahre vergangen. Vielleicht …« 

»Valentin hat mir erzählt, dass er Jahre damit verbracht hat, Jonathan zu unterrichten … ihm beizubringen, wie man auf andere freundlich wirkt und sogar charmant. Er wollte ihn zu einem Spion machen, aber man kann nicht als Spion arbeiten, wenn man allen anderen schreckliche Angst einjagt. Jonathan lernte sogar bis zu einem gewissen Grad, einen leichten Zauberglanz zu erschaffen, um die Menschen davon zu überzeugen, dass er sympathisch und vertrauenswürdig sei.« Jocelyn seufzte. »Ich erzähle dir das, damit du dir keine Vorwürfe machst, weil du darauf hereingefallen bist, Clary. Denn du hast Jonathan bereits kennengelernt. Allerdings nicht unter seinem richtigen Namen, weil er sich als jemand anderes ausgegeben hat. Du kennst ihn als Sebastian Verlac.« 

Sprachlos starrte Clary ihre Mutter an. Aber er ist doch der Cousin der Penhallows, beharrte ein Teil von ihr, ehe ihr wieder bewusst wurde, dass er das natürlich nie gewesen war: Alles, was Sebastian gesagt hatte, war eine Lüge gewesen. Plötzlich musste sie wieder an ihre erste Begegnung denken und ihre damaligen Gefühle. Sie hatte den Eindruck gehabt, als hätte sie jemanden wiedererkannt, den sie schon ihr ganzes Leben kannte, jemanden, der ihr so vertraut war wie sie selbst. Bei Jace hatte sie so etwas nie empfunden. »Sebastian ist mein Bruder?« 

Jocelyns feines Gesicht wirkte abgespannt; sie hatte die Hände im Schoß verschränkt und ihre Fingerspitzen waren weiß, als drückte sie sie zu fest gegeneinander. »Ich habe heute Morgen lange mit Luke gesprochen, über alles, was seit deiner Ankunft in Alicante passiert ist. Er hat mir von den Dämonentürmen erzählt und seinem Verdacht, dass Sebastian die Schutzschilde deaktiviert hat - auch wenn Luke nicht wusste, wie er das angestellt haben soll. In dem Moment wurde mir klar, wer Sebastian wirklich ist.« 

»Du meinst, weil er sich als Sebastian Verlac ausgegeben hat? Und weil er ein Spion Valentins ist?« 

»Ja, genau aus diesen beiden Gründen«, sagte Jelyn, »allerdings dämmerte es mir erst, als Luke erzählte, du hättest ihm gesagt, dass Sebastian sich die Haare gefärbt hätte. Natürlich könnte ich mit meiner Vermutung falsch liegen, aber ein Junge, der ein bisschen älter ist als du, mit blonden Haaren und dunklen Augen und ohne Eltern, noch dazu Valentin absolut treu ergeben - da liegt der Gedanke, dass es sich um Jathan handeln muss, auf der Hand. Aber da ist noch mehr: Valentin hat immer nach einem Weg gesucht, die Schutzschilde zu deaktivieren. Er war sich sicher, dass es eine Möglichkeit geben müsste. Seine Experimente an Jathan mit Dämonenblut… Valentin behauptete, er hätte den Jungen dadurch stärker und zu einem besseren Krieger machen wollen, aber dahinter steckte noch mehr…« 

Clary starrte ihre Mutter mit großen Augen an. »Was meinst du damit?« 

»Dahinter verbarg sich das Ziel, die Schutzschilde auszuschalten«, erklärte Jocelyn. »Einerseits kann kein Dämon Alicantes Schutzschilde passieren, andererseits benötigt man Dämonenblut, um sie zu deaktivieren. Jonathan hat Dämonenblut; es fließt durch seine Adern. Und als Schattenjäger kann er die Stadt jederzeit betreten, wie und wann er will. Ich bin mir sicher, er hat sein eigenes Blut verwendet, um die Schilde außer Kraft zu setzen.« 

Sofort musste Clary an Sebastian denken, wie er bei den Ruinen des Fairchild-Landhauses vor ihr gestanden hatte. Wie ihm die dunklen Haare durchs Gesicht geweht waren. Wie er sie an den Handgelenken festgehalten hatte und sich seine Nägel in ihre Haut gegraben hatten. Und wie er hervorgestoßen hatte, dass Valentin Jace unmöglich geliebt haben könnte. Damals hatte sie gedacht, er hätte das gesagt, weil er Valentin hasste. Aber das war gar nicht der Grund, wurde ihr plötzlich klar. Sebastian war… eifersüchtig gewesen. 

Als Nächstes fiel ihr wieder der dunkle Prinz aus ihren eigenen Zeichnungen ein, derjenige, der so große Ähnlichkeit mit Sebastian besaß. Damals hatte sie das als einen Zufall abgetan, als einen Trick ihrer Fantasie, doch nun fragte sie sich, ob das Band ihres gemeinsamen Blutes sie vielleicht dazu bewogen hatte, ihrem unglücklichen Helden das Gesicht ihres bis dahin unbekannten Bruders zu verleihen. Sie versuchte, sich ihren Prinzen wieder vorzustellen, doch das Bild schien vor ihrem inneren Auge zu zersplittern und sich aufzulösen wie Asche, die vom Wind fortgetragen wurde. Es gelang ihr nicht mehr, etwas anderes zu sehen als Sebastian, in dessen schwarzen Augen sich kalte Wut gespiegelt hatte. 

»Jace«, stieß Clary plötzlich hervor. »Jemand muss ihm all das erzählen. Ihm die Wahrheit sagen.« Ihre Gedanken überschlugen sich: Wenn Jace davon gewusst hätte … wenn er gewusst hätte, dass kein Dämonenblut durch seine Adern floss, vielleicht hätte er sich dann nicht auf die Suche nach Valentin gemacht. Wenn er gewusst hätte, dass er überhaupt nicht ihr Bruder war… 

»Aber ich dachte, niemand wüsste, wo er sich aufhält…?«, warf Jocelyn ein, auf deren Gesicht sich eine Mischung aus Mitleid und Verwirrung spiegelte. 

Doch ehe Clary darauf antworten konnte, schwangen die Flügeltüren der Abkommenshalle auf und helles Licht ergoss sich über die Säulenarkade und die Marmorstufen. Laute Stimmen drangen nach draußen, als Luke durch die Tür trat. Er sah erschöpft aus, aber sein Gang hatte eine Leichtigkeit an sich, die er zuvor nicht besessen hätte - Luke wirkte beinahe erleichtert. 

Sofort sprang Jocelyn auf. »Luke. Was ist los?« 

Er ging ein paar Schritte auf sie zu und blieb dann auf halber Strecke zwischen Tür und Treppe stehen. »Jocelyn«, sagte er, »tut mir leid, dass ich dich unterbrechen muss.« 

»Ist schon in Ordnung, Luke.« 

Warum nennen die beiden sich ständig beim Namen?, fragte Clary sich trotz ihrer Verwirrung. Zwischen Luke und Jocelyn hing irgendeine merkwürdige Spannung in der Luft - irgendetwas war anders als sonst. »Ist was Schlimmes passiert?«, wandte sie sich nun an Luke. 

Luke schüttelte den Kopf. »Nein. Zur Abwechslung mal was Gutes.« Er schenkte Clary ein Lächeln, an dem sie jedoch nichts Merkwürdiges feststellen konnte: Luke schien sehr zufrieden mit ihr und sogar ein wenig stolz. »Du hast es geschafft, Clary«, sagte er. »Der Rat hat zugestimmt, die Schattenjäger mit deiner Rune versehen zu lassen. Es wird keine Kapitulation geben!« 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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