5

EIN GEDÄCHTNISPROBLEM

 

Warmes Nachmittagslicht weckte Clary aus ihren Träumen - ein heller Sonnenstrahl schob sich über ihr Gesicht und ließ die Innenseiten ihrer Lider lachsrot aufleuchten. Unruhig regte sie sich unter ihrer Decke und öffnete schließlich blinzelnd die Augen.

Das Fieber war verschwunden und mit ihm das Gefühl, dass ihre Knochen zerfließen und sich auflösen würden. Vorsichtig stützte Clary sich auf die Ellbogen und sah sich neugierig um. Offensichtlich befand sie sich in Amatis’ Gästezimmer - ein kleiner, weiß gestrichener Raum mit einem Bett, auf dem eine leuchtend bunte Webdecke lag. Spitzengardinen hingen vor den runden Fenstern und ließen kreisförmige Lichtkegel ein. Langsam setzte Clary sich vollständig auf und rechnete damit, dass das Schwindelgefühl sie erneut erfassen würde. Doch nichts dergleichen geschah - sie fühlte sich vollkommen gesund, regelrecht erholt und ausgeruht. Als sie aus dem Bett kletterte, schaute sie an sich herab: Jemand hatte sie in einen weißen, gestärkten, jetzt allerdings leicht zerknitterten Schlafanzug gesteckt, der ihr viel zu groß war. Die Ärmel hingen fast lachhaft weit über ihre Fingerspitzen.

Neugierig ging sie zu einem der kreisrunden Fenster und schaute hinaus: In der Ferne zog sich eine Reihe altgoldfarbener Steinhäuser mit bronzebraunen Dächern einen Hügel hinauf und direkt unter dem Fenster lag ein schmaler Garten in goldenen und braunen Herbstfarben. An der Seite des Hauses reichte ein Spaliergitter, an dem eine letzte Rose mit hängenden, verwelkenden Blütenblättern im Wind tanzte, vom Boden bis zu Clarys Fenster herauf.

Plötzlich hörte Clary jemanden an der Tür. Hastig sprang sie ins Bett zurück, gerade noch rechtzeitig, bevor Amatis mit einem Tablett in den Händen hereinkam. Als sie sah, dass Clary wach war, zog sie eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.

»Wo ist Luke?«, fragte Clary in forderndem Tonfall und zog die Bettdecke Trost suchend bis zu den Ohren.

Bedächtig stellte Amatis das Tablett auf ein Tischchen neben dem Bett und zeigte auf einen Becher, aus dem heißer Dampf aufstieg, und einen Teller mit gebutterten Brotscheiben. »Du solltest etwas essen«, sagte sie. »Dann fühlst du dich gleich besser.«

»Mir geht’s prima«, erwiderte Clary. »Wo ist Luke?«

Neben dem Tisch stand ein Stuhl mit hoher Lehne, auf den Amatis sich nun setzte. Sie faltete die Hände im Schoß und betrachtete Clary ruhig. Im hellen Tageslicht konnte Clary die Runzeln in ihrem Gesicht deutlicher erkennen - sie wirkte um etliche Jahre älter als Clarys Mutter, obwohl beide ungefähr gleich alt sein mussten. Graue Strähnen schimmerten in Amatis’ braunen Haaren und ihre Augen waren rot gerändert, als hätte sie geweint. »Er ist nicht hier«, sagte sie nach einer Weile.

»Nicht hier im Sinne von >Kurz zum Kiosk an der Ecke, um eine Palette Cola light und eine Packung Doughnuts zu besorgen< oder nicht hier im Sinne von …?«

»Luke hat heute Morgen bei Anbruch der Dämmerung das Haus verlassen, nachdem er die ganze Nacht an deinem Bett gewacht hat. Allerdings hat er mir nicht verraten, wohin er genau wollte«, sagte Amatis trocken, und wenn Clary sich nicht so mutterseelenallein gefühlt hätte, hätte sie vielleicht amüsiert festgestellt, wie sehr Amatis dadurch Luke ähnelte. »Als er noch hier gewohnt hat, ich meine, bevor er aus Idris wegging … nach seiner … Verwandlung … war er der Anführer des Rudels, das sich im Brocelind-Wald angesiedelt hatte. Er meinte, er wolle es aufsuchen, aber er hat nicht gesagt, warum oder wie lange er dort bleibt… nur dass er in ein paar Tagen zurück sein würde.«

»Er hat mich … einfach hier zurückgelassen? Soll ich etwa hier rumsitzen und auf ihn warten?«

»Na ja, er konnte dich ja wohl kaum mitnehmen, oder?«, erwiderte Amatis. »Und es wird nicht leicht für dich werden, nach Hause zurückzukehren. Durch die Art und Weise, wie du nach Idris gekommen bist, hast du das Gesetz gebrochen. Und der Rat wird ganz bestimmt kein Auge zudrücken oder dich einfach kommentarlos wieder abreisen lassen.«

»Ich will ja auch gar nicht nach Hause.« Clary versuchte, sich zu sammeln. »Ich bin hierhergekommen, um … um jemanden zu treffen. Ich hab hier etwas zu erledigen.«

»Das hat mir Luke alles erzählt«, sagte Amatis. »Aber ich will dir einen Rat geben: Du wirst Ragnor Fell nur dann finden, wenn er auch gefunden werden will.«

»Aber…«

»Clarissa.« Amatis musterte sie forschend. »Wir rechnen jeden Moment mit einem Angriff von Valentin. Nahezu sämtliche Schattenjäger von Idris befinden sich zurzeit hier in der Stadt, innerhalb der Schutzwälle. Im Augenblick ist Alicante der mit Abstand sicherste Ort für dich.«

Clary saß wie erstarrt da. Rein vernunftmäßig betrachtet hatte Amatis vielleicht recht, aber ihre Worte konnten die Stimme tief in Clarys Innerem nicht besänftigen, die ihr zuschrie, dass sie nicht länger warten könne. Sie musste Ragnor Fell jetzt finden, sie musste ihre Mutter jetzt retten und sie musste sich jetzt auf den Weg machen. Mühsam unterdrückte Clary ihre Panik und versuchte, einen beiläufigen Tonfall anzuschlagen: »Luke hat mir nie erzählt, dass er eine Schwester hat.«

»Ja«, sagte Amatis, »das kann ich mir vorstellen. Wir haben uns nie sehr… nahegestanden.«

»Luke meinte, dein Nachname sei Herondale«, fuhr Clary fort. »Aber das war doch auch der Familienname der Inquisitorin, oder?«

»Ja, das stimmt«, sagte Amatis und ihre Züge verhärteten sich, als schmerzten sie die Worte. »Sie war meine Schwiegermutter.« .

Was hatte Luke ihr noch mal über die Inquisitorin erzählt?, überlegte Clary. Richtig! Dass sie einen Sohn gehabt hatte, der eine Frau mit »unerwünschten Familienbanden« geheiratet hatte. »Du warst mit Stephen Herondale verheiratet?«

Amatis schaute Clary überrascht an. »Du kennst seinen Namen?«

»Ja … Luke hat mir davon erzählt. Aber ich dachte, seine Frau wäre gestorben. Und dass das der Grund sei, warum die Inquisitorin so angespannt war und so …« Grässlich wollte Clary sagen, doch es erschien ihr dann doch zu grausam, es laut auszusprechen.»… so verbittert«, beendete sie schließlich ihren Satz. 

Amatis griff nach dem Becher und ihre Hand zitterte, als sie ihn vom Tablett nahm. »Ja, seine Frau ist gestorben. Sie hat sich umgebracht. Aber das war Celine - Stephens zweite Frau. Ich war seine erste Frau.«

»Und ihr habt euch scheiden lassen?«

»So ähnlich.« Amatis drückte Clary den Becher in die Hand. »Hör zu, trink das. Du musst etwas in den Magen bekommen.«

Geistesabwesend nahm Clary den Becher und trank einen Schluck. Die heiße Flüssigkeit schmeckte würzig und kräftig - kein Tee, wie Clary erwartet hatte, sondern Suppe. »Okay«, sagte sie schließlich. »Und was ist nun genau passiert?«

Nachdenklich starrte Amatis in die Ferne. »Wir gehörten damals dem Kreis an, Stephen und ich, zusammen mit allen anderen. Als Luke … als das mit Luke geschah, brauchte Valentin einen neuen Ersten Offizier und wählte Stephen. Gleichzeitig beschloss er, dass es nicht wünschenswert sei, dass die Frau seines engsten Freundes und Beraters mit jemandem verwandt war, der…«

»… ein Werwolf war.«

»Er hat damals ein anderes Wort verwendet.« Amatis’ Stimme klang bitter. »Valentin überzeugte Stephen, unsere Ehe annullieren zu lassen und eine andere zur Frau zu nehmen, ein Mädchen, das Valentin persönlich ausgesucht hatte. Celine war damals noch so jung … so bedingungslos gehorsam.«

»Das ist ja schrecklich.«

Amatis schüttelte den Kopf und lachte matt. »Ach, das liegt jetzt schon so lange zurück. Stephen war sehr freundlich zu mir, nehme ich mal an - er gab mir dieses Haus und zog mit Celine wieder zu seinen Eltern, in das Herrenhaus der Herondales. Danach habe ich ihn nie wiedergesehen. Natürlich bin ich aus dem Kreis ausgetreten; man hätte mich dort ohnehin nicht mehr gewollt. Die Einzige, die mich danach noch besucht hat, war Jocelyn. Sie hat mir sogar davon erzählt, als sie sich aufgemacht hat, um Luke zu suchen …« Amatis schob eine grau schimmernde Haarsträhne hinters Ohr. »Später habe ich dann erfahren, was während des Aufstands mit Stephen passiert ist. Und mit Celine… Anfangs habe ich sie furchtbar gehasst, aber in dem Moment tat sie mir leid. Es heißt, sie habe sich die Pulsadern aufgeschnitten … überall wäre Blut gewesen…« Amatis holte tief Luft. »Ich habe Imogen später bei Stephens Begräbnis gesehen, als sein Leichnam in das Mausoleum der Herondales gebracht wurde. Sie schien mich nicht einmal wiederzuerkennen. Kurz darauf wurde sie zur Inquisitorin ernannt. Offenbar hatte der Rat den Eindruck, dass niemand die ehemaligen Mitglieder des Kreises gnadenloser verfolgen würde als Imogen Herondale - und er sollte recht behalten. Wenn Imogen ihre Erinnerungen an Stephen mit dem Blut der Mitglieder hätte fortwaschen können, dann hätte sie das sicherlich getan.« 

Clary dachte an die kalten, zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen der Inquisitorin, an ihren harten Blick, und versuchte, Mitleid mit ihr zu empfinden. »Ich nehme an, der Kummer hat sie verrückt werden lassen«, murmelte sie. »Richtiggehend verrückt werden lassen. Sie war grausam zu mir - aber noch grausamer verhielt sie sich Jace gegenüber. Man konnte fast den Eindruck bekommen, dass sie seinen Tod wollte.« 

»Das glaube ich gerne«, sagte Amatis. »Du siehst deiner Mutter sehr ähnlich und du bist bei ihr aufgewachsen, aber dein Bruder…« Sie neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ähnelt er Valentin so sehr, wie du Jocelyn ähnelst?«

»Nein«, überlegte Clary laut. »Jace ähnelt nur sich selbst.« Beim Gedanken an Jace lief ein Schauer durch ihren Körper. »Er ist hier in Alicante«, sagte sie. »Wenn ich mich mit ihm treffen könnte …«

»Nein«, widersprach Amatis schroff. »Du darfst das Haus nicht verlassen. Dich mit niemandem treffen. Und schon gar nicht mit deinem Bruder.«

»Ich darf das Haus nicht verlassen?« Clary war entsetzt. »Du meinst, ich sitze hier fest? Wie eine Gefangene?«

»Es ist doch nur für ein oder zwei Tage«, erklärte Amatis in tadelndem Ton. »Und außerdem bist du noch nicht wieder wohlauf. Du musst dich erholen. Das Wasser des Sees hätte dich fast getötet.«

»Aber Jace …«

»… ist einer der Lightwoods. Du kannst dort nicht hingehen. In dem Moment, in dem sie dich sehen, werden sie dem Rat deine Anwesenheit in Idris melden. Und dann bist du nicht mehr die Einzige, die Schwierigkeiten mit dem Gesetz bekommt. Dann ist Luke auch dran.«

Aber die Lightwoods würden mich niemals gegenüber dem Rat verraten. Das würden sie nicht tun …

Doch die Worte erstarben Clary auf den Lippen. Es würde ihr nicht gelingen, Amatis davon zu überzeugen, dass die Lightwoods, die sie vor fünfzehn Jahren gekannt hatte, nicht länger existierten, dass Robert und Maryse keine widerspruchslos loyalen Fanatiker mehr waren. Amatis mochte zwar Lukes Schwester sein, aber für Clary war sie immer noch eine Fremde. Wahrscheinlich war sie sogar für Luke eine Fremde: Immerhin hatte er sie sechzehn Jahre lang nicht gesehen - er hatte nicht einmal erwähnt, dass es sie gab. Clary lehnte sich in die Kissen zurück und tat so, als sei sie erschöpft. »Du hast recht«, murmelte sie. »Ich fühle mich gar nicht gut. Ich glaube, ich sollte noch etwas schlafen.«

»Gute Idee.« Amatis beugte sich vor und nahm ihr den leeren Becher aus der Hand. »Falls du später duschen willst, das Bad ist auf der anderen Seite des Flurs. Und in der Truhe am Fußende des Betts findest du ein paar abgelegte Kleidungsstücke von mir. Du siehst aus, als hättest du ungefähr die Größe, die ich in deinem Alter hatte, daher könnten die Sachen vielleicht passen. Im Gegensatz zu diesem Schlafanzug«, fügte sie hinzu und lächelte - ein mattes Lächeln, das Clary nicht erwiderte. Sie musste sich viel zu sehr zurückhalten, um nicht aus Frust mit den Fäusten auf die Matratze einzutrommeln.

In dem Moment, in dem Amatis die Tür hinter sich schloss und die Treppe hinunterstieg, kletterte Clary aus dem Bett, spähte vorsichtig aus der Tür und huschte über den Gang ins Bad in der Hoffnung, dass eine heiße Dusche ihr helfen würde, den Kopf wieder frei zu bekommen. Zu ihrer großen Erleichterung stellte sie fest, dass die Schattenjäger trotz ihrer sonstigen altmodischen Lebensweise offenbar Wert auf moderne sanitäre Einrichtungen mit fließendem kalten und warmen Wasser legten. Clary fand sogar eine aromatisch duftende Zitrusseife, mit der sie den Geruch des Seewassers beseitigen konnte, der noch immer an ihren Haaren haftete. Als sie schließlich, in zwei Handtücher gehüllt, aus dem Bad kam, fühlte sie sich wesentlich besser.

Wieder im Gästezimmer wühlte sie sich durch die Sachen in Amatis’ Truhe. Die Kleidungsstücke waren ordentlich gefaltet und durch knisternde Lagen Seidenpapier getrennt. Clary entdeckte eine Art Schuluniform: ein Wollpullover mit einem Abzeichen, das an vier C erinnerte, die Rücken an Rücken auf die Brusttasche gestickt waren, außerdem Faltenröcke und weiße Blusen mit engen Manschetten. Zwischen mehreren Lagen Seidenpapier stieß Clary auf ein weißes Kleid - vermutlich eine Hochzeitsrobe - und legte es vorsichtig beiseite. Darunter befand sich ein weiteres Kleid, aus silberfarbener Seide und mit feinen, juwelenbesetzten Trägern, die das Gewicht des federleichten Stoffs trugen. Clary konnte sich Amatis überhaupt nicht darin vorstellen, aber … Das ist die Sorte von Kleid, die meine Mutter möglicherweise getragen hat, als sie mit Valentin zum Tanzen ging, schoss es ihr durch den Kopf, während sie das Kleid langsam in die Truhe zurückgleiten ließ und den glatten, kühlen Stoff zwischen ihren Fingern spürte. 

Und dann entdeckte sie ganz am Boden der Truhe eine Schattenjägerkluft.

Clary holte die Sachen heraus und breitete sie neugierig auf ihrem Schoß aus. Als sie Jace und den Lightwoods zum ersten Mal begegnet war, hatten diese ihre Kampfmontur getragen: eng anliegende Oberteile und Hosen aus einem strapazierfähigen dunklen Material. Bei näherer Betrachtung stellte Clary fest, dass der Stoff nicht elastisch, sondern ziemlich robust war - ein dünnes Leder, das man so lange bearbeitet hatte, bis es geschmeidig wurde. Dazu trugen die Schattenjäger eine Art Motorradjacke mit hohem Steg und Reißverschluss und Hosen mit breiten Gürtelschlaufen - Schattenjägergürtel waren wuchtig und schwer, um viele Waffen an ihnen befestigen zu können. 

Vermutlich sollte sie einen der Pullover und vielleicht einen Rock anziehen, überlegte Clary, denn wahrscheinlich hatte Amatis genau das gemeint, als sie ihr anbot, sich aus der Truhe zu bedienen. Aber irgendetwas an der Kampfmontur sprach Clary an - sie hatte schon immer wissen wollen, wie sie sich wohl auf der Haut anfühlte …

Wenige Minuten später hingen die beiden Handtücher über der Stange am Fußende des Betts und Clary betrachtete sich überrascht und auch ein wenig amüsiert im Spiegel. Die Kluft passte wie angegossen - sie saß straff, aber nicht zu eng und schmiegte sich um die Rundungen ihrer Beine und der Brust. Genau genommen erzeugte sie erst den Eindruck, dass Clary überhaupt Rundungen besaß - eine vollkommen neue Erfahrung! Natürlich schaffte es die Montur nicht, sie umwerfend erscheinen zu lassen; Clary bezweifelte, ob das irgendeinem Kleidungsstück je gelingen würde. Aber wenigstens wirkte sie nun größer und ihre roten Haare leuchteten vor dem schwarzen Material besonders intensiv. Ich sehe aus wie meine Mutter, schoss es ihr schlagartig durch den Kopf. 

Tatsächlich hatte unter Jocelyns puppenartigem Äußeren immer ein harter, zäher Kern gesteckt und Clary hatte sich oft gefragt, was in der Vergangenheit passiert sein mochte, das ihre Mutter zu dem Menschen gemacht hatte, der sie inzwischen war - stark und unbeugsam, beharrlich und furchtlos. Ähnelt dein Bruder Valentin so sehr, wie du Jocefyn ähnelst?, hatte Amatis gefragt, woraufhin Clary zunächst erwidern wollte, dass sie ihrer Mutter überhaupt nicht ähnelte … denn schließlich war ihre Mutter wunderschön - und sie kein bisschen. Doch die Jocelyn, die Amatis gekannt hatte, war die junge Frau gewesen, die alles daran gesetzt hatte, Valentin zu Fall zu bringen - jene Frau, die insgeheim eine Allianz zwischen Schattenjägern und Schattenweltlern geschmiedet, den Kreis zerstört und das Abkommen gerettet hatte. Jene Jocelyn hätte sich niemals damit einverstanden erklärt, still im Haus zu sitzen und abzuwarten, während um sie herum ihre Welt in tausend Stücke zerbrach. 

Ohne auch nur eine Sekunde länger nachzudenken, marschierte Clary zur Zimmertür und schob den Riegel vor. Anschließend ging sie zum Fenster, drückte es auf und schaute hinaus. Das Rosenspalier erstreckte sich über die gesamte Hauswand wie eine … wie eine Leiter, dachte Clary. Genau wie eine Leiter - und Leitern kann man gefahrlos besteigen. 

Clary holte tief Luft und kletterte dann hinaus auf das Fenstersims.

 

Die Wachen kehrten am nächsten Morgen zurück und rüttelten Simon aus einem ohnehin unruhigen Schlaf, der mit seltsamen Träumen gespickt war. Dieses Mal stülpten sie ihm jedoch keine Kapuze über den Kopf, während sie ihn zur Treppe führten, sodass Simon rasch durch die Gittertür der Nachbarzelle schauen konnte. Doch seine Hoffnung, einen Blick auf den Besitzer der heiseren Stimme werfen zu können, der ihn am Abend zuvor angesprochen hatte, wurde enttäuscht: Außer einem Bündel, das aussah wie ein Haufen alter Lumpen, war nichts zu erkennen. 

Ungeduldig scheuchten die Wachen ihn durch eine Reihe grauer Flure und stießen ihn unsanft in den Rücken, wenn er zu lange in eine bestimmte Richtung schaute. Schließlich gelangten sie in einen Raum mit prächtigen Tapeten an den Wänden, an denen etliche Porträts von Frauen und Männern in Schattenjägerkleidung hingen. Unter einem der größten Gemälde, dessen Rahmen mit kunstvollen Runen verziert war, stand ein rotes Sofa, auf dem der Inquisitor saß. Er hielt einen Silberpokal in der Hand, den er Simon entgegenstreckte. »Etwas Blut gefällig?«, fragte er. »Du müsstest inzwischen ziemlich hungrig sein.«

Als der Inquisitor den Pokal in Simons Richtung neigte, konnte der Junge einen Blick hineinwerfen und der Anblick und der Geruch des Bluts versetzten ihm einen elektrisierenden Schlag. Er spürte, wie seine Adern sich anspannten wie Drähte einer Marionette in den Händen eines Puppenspielers - ein unangenehmes, beinahe schmerzhaftes Gefühl. »Ist das … von einem Menschen?«

Aldertree kicherte. »Aber, aber! Wo denkst du hin? Das ist Hirschblut. Frisch gezapft.«

Simon schwieg. Er fühlte, dass seine Eckzähne aus den Scheiden geglitten waren und seine Unterlippe angeritzt hatten; und dann schmeckte er sein eigenes Blut im Mund. Der Geschmack bereitete ihm Übelkeit.

Aldertree verzog das Gesicht, bis es einer vertrockneten Pflaume ähnelte. »Oje.« Dann wandte er sich an die Wachen: »Lassen Sie uns nun allein, Gentlemen.« Daraufhin machten die Männer auf dem Ansatz kehrt und gingen. Nur der Konsul blieb noch einen Moment in der Tür stehen und warf Simon einen unmissverständlich angewiderten Blick zu. 

»Nein, danke«, sagte Simon; seine Stimme klang durch die hervorbrechenden Eckzähne gedämpft. »Ich will kein Blut.«

»Deine Zähne sagen aber etwas ganz anderes, mein lieber Junge«, erwiderte Aldertree leutselig. »Hier. Nimm einen Schluck.« Erneut hielt er Simon den Pokal entgegen und der Geruch des Bluts wehte durch den Raum wie der Duft von Gartenrosen in der Abenddämmerung.

Ruckartig schössen Simons Schneidezähne nach unten, fuhren sich vollständig aus und bohrten sich nun noch tiefer in seine Unterlippe. Der intensive Schmerz traf ihn wie ein Schlag ins Gesicht. Beinahe willenlos machte er einen Schritt nach vorn und riss dem Inquisitor den Pokal förmlich aus den Händen. Gierig leerte er ihn mit drei Schlucken. Als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, stellte er das Gefäß mit zitternder Hand auf der Lehne des Sofas ab. Ein Punkt für den Inquisitor, dachte er. Null für mich. 

»Ich hoffe doch, deine Nacht im Zellentrakt war nicht allzu unangenehm? Die Zellen sind keineswegs als Folterkammern gedacht, mein Junge, eher eine Art Raum auferlegter Besinnung. Ich bin ja immer der Meinung, dass Besinnung den Geist fokussiert, findest du nicht auch? Und das ist unerlässlich, wenn man einen klaren Gedanken fassen will. Ich hoffe doch sehr, dass du zum Nachdenken angeregt wurdest. Du machst auf mich durchaus den Eindruck eines nachdenklichen jungen Mannes.« Der Inquisitor neigte den Kopf leicht zur Seite. »Die Wolldecke habe ich höchstpersönlich mit meinen eigenen Händen in die Zelle gebracht - extra für dich. Ich wollte doch nicht, dass du frierst.« 

»Ich bin ein Vampir«, sagte Simon. »Uns wird nicht kalt.«

»Ach.« Der Inquisitor zog ein enttäuschtes Gesicht.

»Aber die Davidsterne und das Siegel des Salomo weiß ich wirklich zu schätzen«, fügte Simon trocken hinzu. »Es ist doch immer wieder schön mitzuerleben, wenn sich jemand aufrichtig für meine Religion interessiert.«

»Aber ja, natürlich, natürlich!« Aldertrees Miene hellte sich schlagartig auf. »Diese Gravuren… einfach wundervoll, nicht wahr? Wirklich hinreißend und natürlich bombensicher. Ich könnte mir vorstellen, jeder Versuch, die Zellentür zu berühren, müsste dir die Haut regelrecht von der Hand sengen!« Er kicherte, sichtlich angetan von dem Gedanken. »Aber lassen wir das … Könntest du vielleicht einen Schritt zurücktreten, mein lieber Freund? Aus reiner Gefälligkeit… nur für mich … du verstehst schon.«

Simon ging einen Schritt zurück.

Nichts geschah, doch der Inquisitor sperrte die Augen auf, sodass sich seine aufgedunsene Gesichtshaut dehnte und glänzte. »Ah, ich verstehe«, murmelte er.

»Was verstehen Sie?«

»Sieh dich einmal um, wo du stehst, mein lieber Simon. Sieh dich nur um.«

Ratlos schaute Simon sich im Raum um. Nichts hatte sich verändert und es dauerte einen Moment, bis er erkannte, was Aldertree meinte. Er stand inmitten eines hellen Sonnenstrahls, der durch ein Fenster hoch über ihm einfiel.

Aldertree wand sich fast vor Aufregung. »Du stehst direkt im Sonnenlicht, aber es hat keinerlei Auswirkung auf dich. Ich hätte es fast nicht geglaubt… ich meine, natürlich hat man mir davon erzählt, aber so etwas habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen.«

Simon schwieg - was hätte er darauf auch sagen sollen?

»Jetzt stellt sich natürlich die Frage«, fuhr Aldertree fort, »ob du weißt, warum du diese Eigenschaft besitzt.«

»Vielleicht bin ich einfach nur netter als andere Vampire«, platzte Simon heraus, bereute seine Antwort aber sofort. Aldertree kniff die Augen zusammen und an seiner Schläfe trat eine Ader hervor, die sich wie ein fetter Wurm unter seiner Haut schlängelte. Offensichtlich legte er keinen Wert auf irgendwelche Scherze, sofern sie nicht von ihm stammten.

»Sehr amüsant, wirklich sehr amüsant«, sagte er. »Dann lass es mich so formulieren: Bist du seit dem Moment, in dem du dem Grab entstiegen bist, ein Tageslichtler?«

»Nein«, erklärte Simon bedächtig und wählte seine Worte sorgfältig. »Nein. Anfangs hat die Sonne mich versengt. Schon der kleinste Lichtstrahl hat meine Haut verbrannt.«

»Genau.« Aldertree nickte eifrig, als wollte er damit sagen, dass es sich so schließlich auch gehörte. »Und wann hast du dann zum ersten Mal festgestellt, dass du ohne Schmerzen am helllichten Tage herumspazieren kannst?«

»Das war am Morgen nach der Schlacht auf Valentins Schiff…«

»Während der Valentin dich gefangen nahm, ist das richtig? Er hatte dich entführt und auf seinem Schiff eingesperrt, um dein Blut zur Vollendung des Rituals der Infernalischen Umkehrung zu verwenden.«

»Anscheinend wissen Sie schon alles«, sagte Simon. »Dann brauchen Sie mich ja nicht mehr.«

»Aber nein, nicht doch, keineswegs!«, quietschte Aldertree und riss die Arme hoch. Er hatte sehr kleine Hände, stellte Simon fest - so klein, dass sie am Ende seiner molligen Arme etwas deplatziert wirkten. »Du hast so vieles beizusteuern, mein lieber Junge! Beispielsweise frage ich mich schon die ganze Zeit, ob auf diesem Schiff vielleicht etwas vorgefallen ist, etwas, das dich verändert hat. Hast du möglicherweise irgendeine Idee, was das sein könnte?« 

Ich habe von Jace’ Blut getrunken, dachte Simon und hatte größte Lust, das dem Inquisitor gegenüber zu wiederholen - nur um ihn ein wenig zu reizen. Doch dann erkannte er mit einem Schlag: Ich habe von Jace’ Blut getrunken. Konnte dies der Grund für seine Veränderung sein? War das möglich? Und durfte er dem Inquisitor erzählen, was Jace getan hatte? Es war eine Sache, Clary zu schützen, überlegte Simon, aber Jace war ein ganz anderer Fall. Er schuldete dem Schattenjäger rein gar nichts. 

Aber das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Jace hatte ihm sein Blut angeboten und ihm damit das Leben gerettet. Wie viele andere Schattenjäger hätten das wohl getan - für einen Vampir? Und selbst wenn Jace es nur um Clarys willen getan hatte, spielte das eine Rolle? Simon dachte an den Moment auf dem Schiff zurück. Ich hätte dich umbringen können, hatte er gesagt und Jace hatte erwidert: Und ich hätte dich nicht daran gehindert. Es ließ sich unmöglich vorhersehen, welchen Ärger Jace bekommen würde, falls der Rat erfuhr, dass er Simon das Leben gerettet hatte und aufweiche Weise er das getan hatte. 

»Ich kann mich an nichts mehr erinnern, was auf dem Schiff passiert ist«, sagte Simon schließlich. »Vermutlich hat Valentin mich betäubt oder so etwas.«

Aldertree zog eine betrübte Miene. »Aber das ist ja schrecklich. Einfach schrecklich. Das tut mir wirklich leid.«

»Und mir erst«, sagte Simon, obwohl das nicht stimmte.

»Soll das heißen, du kannst dich an überhaupt nichts erinnern? Nicht das kleinste erhellende Detail?«

»Ich weiß nur noch, dass ich das Bewusstsein verloren habe, als Valentin mich angegriffen hat, und dass ich später auf… auf der Ladefläche von Lukes Pick-up aufgewacht bin, auf dem Weg nach Hause. Dazwischen weiß ich nichts mehr.«

»Oje, oje.« Aldertree zog den Umhang fester um sich. »Mir ist klar, dass du den Lightwoods offensichtlich ans Herz gewachsen bist, aber die anderen Mitglieder des Rats sind nicht so … verständnisvoll. Du wurdest von Valentin gefangen genommen, bist aus dieser Konfrontation mit einer neuartigen, besonderen Eigenschaft hervorgegangen und jetzt hast du einen Weg mitten in das Zentrum von Idris gefunden. Du siehst doch sicherlich, welchen Eindruck das erweckt?« 

Wenn Simons Herz noch hätte schlagen können, hätte es nun gerast. »Sie glauben, dass ich als Spion für Valentin arbeite.«

Aldertree zog ein schockiertes Gesicht. »Mein lieber Junge, nicht doch! Selbstverständlich vertraue ich dir. Ich vertraue dir vorbehaltlos! Aber der Rat, oh, der Rat… ich fürchte, der Rat kann sehr misstrauisch sein. Wir hatten so gehofft, dass du uns würdest helfen können. Denn du musst wissen - eigentlich dürfte ich dir das gar nicht erzählen, aber ich habe das Gefühl, dass ich dir vertrauen kann, mein junge - du musst wissen, der Rat befindet sich in einer schrecklichen Misere.« 

»Der Rat?« Simon war verwirrt. »Aber was hat das mit mir zu tun …?«

»Es ist so«, fuhr Aldertree fort, »ein Riss geht mitten durch die Mitglieder des Rats. Man könnte fast sagen, dass der Rat mit sich selbst im Streit liegt, und das mitten in einem Krieg. Es wurden Fehler begangen, von der vorherigen Inquisitorin und anderen … Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns nicht zu lange mit der Vergangenheit befassen. Doch nun ist sogar die Autorität des Rats, des Konsuls und des Inquisitors infrage gestellt. Valentin scheint uns immer einen Schritt voraus zu sein, als wüsste er unsere Pläne im Vorhinein. Und nach dem, was in New York passiert ist, wird die Schattenjägerkongregation nicht länger auf Malachis oder meinen Rat hören.«

»Ich dachte, das wäre die Schuld der Inquisitorin gewesen …«

»Ja, schon, aber Malachi war derjenige, der sie ernannt hat. Natürlich konnte er nicht ahnen, dass sie vollkommen den Verstand verlieren würde …«

»Aber«, ergänzte Simon leicht säuerlich, »es bleibt die Frage, welchen Eindruck das erweckt.« 

Erneut trat die Ader an Aldertrees Schläfe hervor. »Nicht dumm«, murmelte er. »Und natürlich hast du recht. Der äußere Schein ist von größter Bedeutung, und wo gälte das mehr als in der Politik? Die Massen lassen sich jederzeit umstimmen, sofern man eine gute Geschichte parat hat.« Er beugte sich vor und heftete seine Augen auf Simon. »Und nun will ich dir mal eine Geschichte erzählen. Sie lautet folgendermaßen: 

Die Lightwoods gehörten einst dem Kreis an. Irgendwann haben sie ihre Gefolgschaft widerrufen und wurden daraufhin begnadigt, unter der Bedingung, dass sie sich von Idris fernhielten, nach New York gingen und das dortige Institut leiteten. Ihr anschließendes untadeliges Verhalten sorgte dafür, dass sie das Vertrauen des Rats wiedergewinnen konnten. Doch insgeheim wussten sie genau, dass Valentin noch am Leben war. Insgeheim waren sie die ganze Zeit seine treuen Diener. Sie nahmen seinen Sohn auf…« »Aber das haben sie doch nicht gewusst…« »Halt den Mund!«, fauchte der Inquisitor, woraufhin Simon schwieg. »Sie haben ihm dabei geholfen, die Insignien der Engel zu finden und das Ritual der Infernalischen Umkehrung zu vollziehen. Als die Inquisitorin entdeckte, was die Lightwoods insgeheim trieben, sorgten diese dafür, dass sie bei der Schlacht auf Valentins Schiff ums Leben kam. Und nun sind sie hierhergekommen, ins Herz des Rats, um unsere Pläne auszuspionieren und sie Valentin zu offenbaren, noch während wir sie schmieden, damit er uns schlagen und letztendlich alle Nephilim seinem Willen unterwerfen kann. Außerdem haben die Lightwoods dich mitgebracht - einen Vampir, dem Sonnenlicht nichts anhaben kann -, um uns von ihrer wahren Intention abzulenken: den Kreis in seiner früheren Macht wiederauferstehen zu lassen und das Gesetz zu vernichten.« Der Inquisitor beugte sich noch weiter vor und seine Schweinsäuglein funkelten. »Was hältst du von dieser Geschichte, Vampir?« 

»Ich halte sie für vollkommen verrückt«, erwiderte Simon. »Diese Geschichte hat mehr Löcher als die Kent Avenue in Brooklyn - deren Belag übrigens schon seit Jahren nicht mehr erneuert wurde. Ich weiß nicht, was Sie sich von dieser Geschichte erhoffen …« 

»Erhoffen?«, wiederholte Aldertree. »Ich hoffe nicht, Schattenweltler, ich weiß. Ich weiß, dass es meine heilige Pflicht ist, den Rat zu retten.« 

»Mit einer Lüge?«, fragte Simon.

»Mit einer Geschichte«, sagte Aldertree. »Große Politiker ersinnen Geschichten, um ihr Volk zu inspirieren.«

»Daran ist überhaupt nichts inspirierend, wenn Sie den Lightwoods die Schuld an allem in die Schuhe schieben …«

»Es müssen Opfer erbracht werden«, entgegnete Aldertree. Schweißperlen glänzten auf seinem Gesicht. »Hat die Schattenjägerkongregation erst einmal einen gemeinsamen Feind und einen Grund, dem Rat wieder zu vertrauen, wird sie sehr schnell wieder zueinanderfinden. Was wiegt schon der Verlust einer einzelnen Familie, wenn so viel auf dem Spiel steht? Ich bezweifle sogar, dass den Kindern der Lightwoods irgendetwas geschehen wird. Ihnen wird man keine Vorwürfe machen. Nun ja, vielleicht dem ältesten Sohn. Aber nicht den anderen …«

»Das können Sie nicht tun!«, protestierte Simon. »Diese Geschichte wird Ihnen niemand glauben.«

»Die Menschen glauben, was sie glauben wollen«, sagte Aldertree, »und der Rat will einen Sündenbock. Den kann ich ihm liefern. Dazu brauche ich nichts weiter als dich.«

»Mich? Was hat das Ganze denn mit mir zu tun?«

»Gestehe!« Vor Aufregung und Vergnügen leuchtete das Gesicht des Inquisitors nun scharlachrot. »Gestehe, dass du ein Diener der Lightwoods bist, dass ihr alle Verbündete Valentins seid. Gestehe und ich werde Milde walten lassen. Ich schicke dich zurück zu deinem Volk. Das schwöre ich. Aber ich brauche dein Geständnis, damit der Rat mir glaubt.« 

»Sie wollen, dass ich eine Lüge gestehe«, knurrte Simon. Er wusste, dass er lediglich wiederholte, was der Inquisitor bereits gesagt hatte, aber sein Verstand schien wie benebelt - er konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen. Vor seinem inneren Auge tauchten die Gesichter der Lightwoods auf: Alec, der auf dem Weg zur Garnison bestürzt die Luft angehalten hatte; Isabelle, die ihre dunklen Augen auf ihn richtete; Max, der mit einem Buch in der Hand am Fenster saß.

Und Jace. Jace war ebenso einer von ihnen, als wenn in seinen Adern tatsächlich das Blut der Lightwoods fließen würde. Der Inquisitor hatte seinen Namen nicht erwähnt, doch Simon wusste, dass Jace zusammen mit den anderen büßen würde. Und was immer er erdulden musste, würde auch Clary erdulden. Wie hatte es nur geschehen können, dass er an diese Leute gebunden war, überlegte Simon - an diese Leute, die ihn nur als Schattenwesen betrachteten, bestenfalls als Halbmenschen?

Langsam schaute er den Inquisitor an. Aldertrees Augen waren kohlschwarz; Simon hatte das Gefühl, als würde er in tiefe Finsternis blicken. »Nein«, sagte er schließlich. »Nein, ich werde nicht gestehen.«

»Das Blut, das ich dir vorhin gegeben habe, wird das letzte sein, das du zu sehen bekommst, solange du mir keine andere Antwort gibst«, sagte Aldertree ohne jede Freundlichkeit in der Stimme - nicht einmal seine falsche, aufgesetzte Freundlichkeit schwang darin mit. »Und du wirst überrascht sein, wie durstig du werden kannst.«

Simon schwieg.

»Das bedeutet dann also eine weitere Nacht in der Zelle«, fuhr der Inquisitor fort, erhob sich vom Sofa und griff nach der Glocke, um die Wachen herbeizurufen. »Dort unten ist es wunderbar ruhig, nicht wahr? Und ich war schon immer der Ansicht, dass eine ruhige Atmosphäre dabei helfen kann, ein kleines Gedächtnisproblem zu lösen. Meinst du nicht auch?«

Obwohl Clary sich einzureden versuchte, sie würde sich an den Weg erinnern, den Luke und sie am Abend zuvor genommen hatten, entpuppte sich das als ein Irrtum. Nachdem sie beschlossen hatte, zur Stadtmitte zu laufen, um sich von dort aus weiter zu orientieren, konnte sie nach dem kleinen Platz mit dem Brunnen nicht mehr mit Sicherheit sagen, ob sie nun nach links oder rechts abbiegen musste. Ratlos schlug sie den Weg zu ihrer Linken ein, der sie jedoch in ein Labyrinth kleiner, gewundener Gassen brachte, die einander zum Verwechseln ähnlich sahen und sie nur noch weiter in die Irre führten.

Endlich erreichte sie eine breitere Straße mit vielen Geschäften. Passanten hasteten an ihr vorbei, schenkten ihr jedoch keine Beachtung. Manche trugen ebenfalls eine Kampfmontur, aber die meisten hatten sich zum Schutz vor dem kalten Wind in einen langen, altmodischen Umhang gehüllt. Mit einem Anfall von Bedauern dachte Clary an ihr grünes Samtcape, das noch in Amatis’ Gästezimmer hing.

Luke hatte ihr keine Märchen erzählt, als er meinte, dass zu der Vollversammlung Schattenjäger aus aller Welt zusammenkommen würden. Clary begegnete einer Inderin in einem hinreißenden goldfarbenen Sari, um deren Hüfte eine Kette mit zwei Krummdolchen geschlungen war. Und vor einem Schaufenster mit allen möglichen Sorten von Waffen stand ein hochgewachsener dunkelhäutiger Mann mit einem kantigen, aztekisch anmutenden Gesicht und betrachtete die Auslagen; Armbänder aus demselben harten, schimmernden Material wie die Dämonentürme baumelten an seinen Handgelenken. Wenige Meter weiter studierte ein Mann in einem weißen Nomadengewand einen Stadtplan. Sein Anblick machte Clary Mut, eine vorbeieilende Frau in einem schweren Brokatmantel anzusprechen und sie nach dem Weg zur Princewater Street zu fragen. Denn wenn es einen Zeitpunkt gab, zu dem die Bewohner der Stadt nicht sofort Verdacht schöpften, wenn sich jemand nicht auskannte, dann jetzt.

Ihr Instinkt trog Clary nicht: Ohne Zögern erklärte die Frau ihr den Weg. »Am Ende des Oldcastle Canal rechts und dann über die Brücke. Von da aus kommst du direkt in die Princewater Street.« Sie schenkte Clary ein freundliches Lächeln. »Suchst du dort jemanden Bestimmtes?«

»Ja, die Familie Penhallow.«

»Ach, das ist das blaue Haus mit den goldenen Türbeschlägen, das direkt an den Kanal angrenzt. Es ist ein ziemlich großes Gebäude - du kannst es gar nicht verfehlen.«

Doch die Frau sollte nicht in allen Punkten recht behalten: Beim Haus der Penhallows handelte es sich zwar tatsächlich um ein großes Gebäude, aber Clary lief zunächst daran vorbei, ehe sie ihren Fehler erkannte, auf dem Absatz kehrtmachte und einen zweiten Blick darauf warf. Genau genommen war das Haus in einem Indigoton gestrichen und nicht mit blauer Farbe, aber andererseits sahen nicht alle Menschen Farben auf die gleiche Weise wie sie selbst. 

Viele Leute konnten noch nicht einmal zwischen Zitronengelb und Safrangelb unterscheiden. Als ob die beiden Farben auch nur annähernd beieinanderlägen! Und die Türbeschläge waren auch nicht aus Gold, sondern aus Bronze - ein attraktiver dunkler Bronzeton, als existierte das Haus schon seit vielen Jahren. Was vermutlich auch stimmte, überlegte Clary, denn alles an diesem Ort war uralt…

Jetzt reicht’s, ermahnte sie sich. Das tat sie immer, wenn sie nervös war - ihren Gedanken freien Lauf lassen. Aufgeregt rieb sie ihre verschwitzten, feuchten Hände an der Hose ab; das Material fühlte sich rau und trocken an, wie Schlangenhaut. 

Dann stieg sie die Stufen hinauf und griff nach dem schweren Türklopfer. Er besaß die Gestalt von zwei Engelsschwingen, und als Clary ihn fallen ließ, hörte sie, wie sein Klang dröhnend wie eine riesige Glocke durch das Hausinnere hallte. Einen Moment später wurde die Tür aufgerissen und Isabelle Lightwood erschien auf der Schwelle und riss vor Schreck die Augen weit auf.

»Clary?«

Clary lächelte matt. »Hi, Isabelle.«

Isabelle lehnte sich gegen den Türrahmen und zog ein klägliches Gesicht. »Oh verdammt!«

 

Nachdem man ihn in die Zelle zurückgebracht hatte, ließ Simon sich auf die Pritsche sinken und lauschte auf das Geräusch der sich entfernenden Wachen. Eine weitere Nacht. Eine weitere Nacht in diesem Gefängnis, während der Inquisitor daraufwartete, dass Simon sich »erinnerte«. Du siehst doch sicherlich, welchen Eindruck das erweckt. In seinen schlimmsten Befürchtungen und übelsten Albträumen war es Simon nie in den Sinn gekommen, dass irgendjemand denken könnte, er wäre ein Verbündeter Valentins. Bekanntermaßen hasste Valentin alle Schattenweltler. Valentin hatte ihm die Kehle aufgeschlitzt, ihm fast sämtliches Blut entzogen und ihn zum Sterben in einem eisigen Raum zurückgelassen. Obwohl der Inquisitor von diesen Details natürlich nichts wusste, überlegte Simon. 

Plötzlich ertönte auf der anderen Seite der Zellenwand ein Rascheln. »Ich muss gestehen, dass ich meine Zweifel hatte, ob du noch einmal hierher zurückkommen würdest«, sagte die heisere Stimme, die ihn in der Nacht zuvor schon angesprochen hatte. »Dann gehe ich wohl recht in der Annahme, dass du dem Inquisitor das, was er wollte, nicht gegeben hast?«

»Nein, ich glaub nicht«, murmelte Simon, stand auf und ging zur Zellenwand. Tastend fuhr er mit den Fingern über das Mauerwerk, als suchte er nach einem Riss oder Spalt, durch den er hindurchschauen konnte - doch es ließ sich nichts erkennen. »Wer sind Sie?«

»Er ist ziemlich hartnäckig … Aldertree«, fuhr die Stimme fort, als hätte Simon überhaupt nichts gesagt. »Er wird es wieder versuchen.«

Simon lehnte sich gegen die feuchte Mauer. »Dann werde ich wohl eine ganze Weile hier unten sein.«

»Ich nehme nicht an, dass du mir verraten möchtest, was er von dir will?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

Das unterdrückte Lachen, das auf Simons Frage folgte, klang wie kratzendes Metall auf Stein. »Ich sitze in dieser Zelle schon wesentlich länger als du, Tageslichtler, und wie du ja selbst weißt, gibt es hier unten nicht viel Zerstreuung. Jede kleinste Neuigkeit ist da sehr willkommen.«

Vorsichtig verschränkte Simon die Hände über seinem Magen. Das Hirschblut hatte den schlimmsten Hunger gestillt, aber die Menge war nicht annähernd genug, um seinen noch immer vor Durst schmerzenden Körper zu beruhigen. »Tageslichtler? Warum nennen Sie mich eigentlich dauernd so?«, fragte er. ‘ . ,

»Ich habe gehört, wie die Wachen von dir gesprochen haben: ein Vampir, der am helllichten Tage herumspazieren kann. So etwas hat noch niemand zuvor zu sehen bekommen.«

»Und trotzdem haben Sie einen Begriff dafür. Wie praktisch.«

»Das ist ein Schattenwesen-Ausdruck, kein Begriff des Rats. Die Schattenwelt kennt diverse Mythen und Sagen von Kreaturen wie dir. Ich bin überrascht, dass du noch nie davon gehört hast.«

»Ich bin noch nicht sehr lange ein Schattenweltler«, räumte Simon ein. »Aber Sie scheinen verdammt viel über mich zu wissen.«

»Die Wachen tratschen gern«, erklärte die Stimme. »Und die Tatsache, dass die Lightwoods mit einem blutenden, im Sterben liegenden Vampir durch das Portal hierhergekommen sind … das ergibt schon ganz ordentlichen Gesprächsstoff. Allerdings muss ich gestehen, dass ich nicht damit gerechnet habe, dich hier unten zu sehen - jedenfalls nicht bis zu dem Moment, als die Wachen mit den Vorbereitungen für deine Zelle begannen. Es wundert mich, dass die Lightwoods das einfach so hingenommen haben.« 

»Warum sollten sie auch nicht?«, erwiderte Simon bitter. »Ich bin ein Niemand. Ein Schattenweltler.«

»Vielleicht in den Augen des Konsuls«, sagte die Stimme. »Aber die Lightwoods …«

»Was soll mit ihnen sein?«

Es entstand eine kurze Stille, dann setzte die Stimme erneut an: »Die Schattenjäger, die außerhalb Idris’ leben - vor allem diejenigen, die ein Institut leiten -, sind in der Regel toleranter. Dagegen sind die örtlichen Ratsmitglieder wesentlich… engstirniger.«

»Und was ist mit Ihnen?«, hakte Simon nach. »Sind Sie auch ein Schattenweltler?«

»Ein Schattenweltler?« Simon war sich nicht ganz sicher, glaubte aber, eine verhaltene Wut in der Stimme des Fremden zu hören, als nähme er diese Frage übel. »Ich heiße Samuel. Samuel Blackburn. Ich bin ein Nephilim. Einst gehörte ich dem Kreis an, zusammen mit Valentin. Während des Aufstands habe ich etliche Schattenwesen abgeschlachtet. Ich bin keiner von ihnen.« 

»Oh.« Simon musste schlucken. Er hatte einen salzigen Geschmack im Mund. Die Mitglieder von Valentins Kreis waren allesamt gefangen genommen und vom Rat bestraft worden, erinnerte er sich - bis auf diejenigen, die wie die Lightwoods eine Abmachung mit dem Rat aushandeln konnten und ein Leben im Exil akzeptierten. »Dann sitzen Sie seit dieser Zeit hier unten?«

»Nein. Nach dem Aufstand habe ich Idris verlassen, ehe man mich schnappen konnte. Jahrelang bin ich im Ausland gewesen, jahrelang, bis ich Narr eines Tages zurückkehrte, in der Annahme, man hätte mich längst vergessen. Und natürlich wurde ich in dem Moment gefasst, in dem ich einen Fuß über die Grenze setzte. Der Rat hat Mittel und Wege, seine Feinde aufzuspüren. Man hat mich vor den Inquisitor geschleift und tagelang verhört. Als sie mit mir fertig waren, haben sie mich in diese Zelle geworfen.« Samuel seufzte. »In der französischen Sprache bezeichnet man diese Art von Gefängnis als oubliette. Das bedeutet wörtlich >ein vergessener Ort<. Dorthinein wirft man den Abschaum, an den man sich nicht mehr erinnern möchte, sodass dieser vor sich hin rotten kann, ohne die feinen Herren mit seinem Gestank zu belästigen.« 

»Na prima. Ich bin ein Schattenweltler, also bin ich Abschaum. Aber das sind Sie nicht. Sie sind ein Nephilim.«

»Ich bin ein Nephilim, der mit Valentin unter einer Decke gesteckt hat. Das macht mich nicht besser als dich. Schlimmer noch: Es macht mich zu einem Abtrünnigen.«

»Aber es gibt doch zahlreiche andere Schattenjäger, die einst dem Kreis angehörten - die Lightwoods und die Penhallows …«

»Sie alle haben ihre Gefolgschaft widerrufen. Valentin den Rücken zugekehrt. Das habe ich nicht getan.«

»Ach nein? Aber warum denn nicht?«

»Weil ich mich vor Valentin viel mehr fürchte als vor dem Rat«, sagte Samuel, »und wenn du auch nur ein bisschen Verstand besitzt, Tageslichtler, dann sollte es dir nicht anders ergehen.« 

 

»Aber du solltest doch in New York sein!«, rief Isabelle. »Jace hat gesagt, du hättest deine Reisepläne geändert. Er meinte, du wolltest bei deiner Mutter bleiben!«

»Jace hat gelogen«, erwiderte Clary nüchtern. »Er wollte nicht, dass ich hierherkomme. Deshalb hat er mich belogen, was eure Abreise betraf, und hat euch erzählt, ich hätte meine Meinung geändert. Erinnerst du dich, dass du mir mal gesagt hast, er würde niemals lügen? Da hast du dich verdammt geschnitten.« 

»Normalerweise lügt er wirklich nicht«, murmelte Isabelle, die ganz bleich geworden war. »Hör mal, bist du hierhergekommen … ich meine, hat das irgendetwas mit Simon zu tun?«

»Mit Simon? Nein. Simon sitzt wohlbehalten in New York, Gott sei Dank. Obwohl er ziemlich sauer sein wird, dass ich mich nicht von ihm verabschiedet habe.« Isabelles verdutzter Gesichtsausdruck ging Clary allmählich auf die Nerven. »Jetzt, komm schon, Isabelle. Lass mich rein. Ich muss mit Jace reden.« 

»Dann … dann bist du also ganz allein hierhergekommen? Hattest du eine Einreiseerlaubnis? Bitte sag mir, dass der Rat dir eine Genehmigung erteilt hat.«

»Nicht direkt…«

»Du hast das Gesetz gebrochen?« Isabelles Stimme schwoll erst an und brach dann ab. Schließlich fuhr sie fast im Flüsterton fort: »Wenn Jace das herausfindet, flippt er aus. Clary, du musst sofort nach Hause zurückkehren.« 

»Nein. Ich habe das Recht und die Pflicht, hier zu sein«, erwiderte Clary, obwohl nicht einmal sie selbst wusste, woher ihre Hartnäckigkeit stammte. »Und ich muss unbedingt mit Jace reden.«

»Das ist jetzt kein günstiger Zeitpunkt.« Sehnsüchtig schaute Isabelle sich um, als hoffte sie, dass ihr jemand zu Hilfe eilen und sie dabei unterstützen würde, Clary abzuwimmeln. »Bitte, kehr einfach nach New York zurück, ja? Bitte!«

»Ich dachte, du würdest mich mögen, Izzy.« Clary versuchte, dem Mädchen Schuldgefühle zu machen. 

Isabelle biss sich auf die Lippe. Sie trug ein weißes Kleid und hatte die Haare hochgesteckt, wodurch sie jünger als sonst wirkte. Hinter ihr konnte Clary einen großen Eingangsbereich mit hoher Decke und zahlreichen antiken Gemälden an den Wänden erkennen. »Natürlich mag ich dich. Es ist nur so, dass Jace … oh, mein Gott, was hast du denn da an? Woher hast du diese Schattenjägerkluft?«, fragte Isabelle. 

Clary schaute an sich herab. »Ach, das ist eine lange Geschichte.«

»Du kannst in dieser Kleidung unmöglich ins Haus kommen. Wenn Jace dich sieht…« 

»Na und, dann sieht er mich eben! Isabelle, ich bin wegen meiner Mutter nach Idris gekommen - für meine Mutter. Jace mag es vielleicht nicht gefallen, dass ich hier bin, aber er kann mich nicht zwingen, zu Hause zu bleiben. Ich musste einfach herkommen. Meine Mutter erwartet von mir, dass ich das für sie tue. Das würdest du doch auch für deine Mutter tun, oder etwa nicht?« 

»Natürlich würde ich das«, wand Isabelle sich. »Aber Clary, Jace hat seine Gründe …«

»Dann würde ich sie mir zu gern einmal anhören.« Geschickt tauchte Clary unter Isabelles Arm hindurch und schlüpfte in den Eingangsbereich.

»Clary!«, quietschte Isabelle und stürzte hinter ihr her, doch Clary hatte bereits die Mitte des Raums erreicht. Während sie einerseits Isabelle auswich, die ihr nachstellte, registrierte sie andererseits, dass der Aufbau des Hauses dem von Amatis’ ähnelte: Es war hoch und schmal, aber bedeutend größer und prächtiger dekoriert. Der Eingangsbereich öffnete sich zu einem Raum mit hohen Fenstern, die auf einen breiten Kanal hinausgingen. Boote mit weißen Segeln trieben auf den Wellen wie Pusteblumen im Wind. Vor einem der Fenster saß ein dunkelhaariger Junge auf einem Sofa, offenbar in ein Buch vertieft.

»Sebastian!«, rief Isabelle. »Lass sie nicht nach oben!« Verwirrt schaute der Junge auf - und stand einen Sekundenbruchteil später vor Clary und versperrte ihr den Weg zur Treppe. Clary blieb abrupt stehen; nie zuvor hatte sie jemanden gesehen, der sich so schnell bewegen konnte - abgesehen von Jace. Der Junge war noch nicht einmal außer Atem; genau genommen lächelte er sie sogar an.

»Dann ist das also die berühmte Clary.« Das Lächeln ließ sein Gesicht aufleuchten und Clary spürte, wie sie unwillkürlich die Luft anhielt. Jahrelang hatte sie ihren eigenen Comicstrip gezeichnet - die Geschichte eines Königssohns, der mit einem Fluch belegt war: Jeder, den er liebte, musste sterben. Clary hatte sich richtig ins Zeug gelegt und mit viel Herzblut ihren dunkelhaarigen, romantischen, düsteren Traumprinzen erschaffen - und nun stand er vor ihr: dieselbe blasse Haut, dieselben zerzausten Haare, dieselben hohen Wangenknochen und tief in den Höhlen liegende Augen, die so dunkel waren, dass die Pupillen mit der Iris zu verschmelzen schienen. Clary wusste, dass sie diesen Jungen noch nie zuvor gesehen hatte, und dennoch … 

Der Junge schaute verwirrt. »Ich glaube nicht, dass wir … Sind wir uns schon mal begegnet?«

Sprachlos schüttelte Clary den Kopf.

»Sebastian!« Isabelles Haar hatte sich gelöst und war ihr über die Schultern gefallen. Wütend funkelte sie den Jungen an. »Du sollst nicht nett zu ihr sein! Sie hat hier nichts zu suchen. Clary, fahr nach Hause!«

Mühsam riss Clary sich von Sebastians Antlitz los und warf Isabelle einen verärgerten Blick zu. »Was? Zurück nach New York? Und wie soll ich das deiner Meinung nach anstellen?«

»Wie bist du denn hierhergekommen?«, fragte Sebastian neugierig. »Es ist eine echte Leistung, sich unbemerkt in die Stadt einzuschleichen.« 

»Ich bin durch ein Portal gekommen«, sagte Clary.

»Ein Portal?« Isabelle starrte sie erstaunt an. »Aber in New York gibt es doch überhaupt kein Portal mehr. Valentin hat beide zerstört…«

»Ich bin dir keinerlei Rechenschaft schuldig«, entgegnete Clary. »Nicht, solange du mir nicht deinerseits ein paar Dinge erklärst. Da wäre zum Beispiel die Frage: Wo ist Jace?«

»Er ist nicht hier«, verkündete Isabelle - zeitgleich mit Sebastian, der »Er ist oben« erwiderte.

Sofort fuhr Isabelle ihn an. »Sebastian! Halt die Klappe!« 

Sebastian zog ein verdutztes Gesicht. »Aber sie ist doch seine Schwester. Würde er sie denn nicht sehen wollen?«

Isabelle öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Clary erkannte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie überlegte, ob es klug wäre, einem vollkommen ahnungslosen Sebastian Clarys komplizierte Beziehung zu Jace zu erläutern, oder ob es ratsamer schien, Jace eine unliebsame Überraschung zu bereiten. Schließlich riss Isabelle entnervt die Arme hoch. »Na schön, Clary«, sagte sie mit einem für sie ungewohnt verärgerten Ton in der Stimme. »Geh und tu, was du nicht lassen kannst. Ganz gleich, wen du damit verletzt. Das ist dir ja sowieso egal, oder?«

Autsch. Clary warf Isabelle einen vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich dann wieder Sebastian zu, der schweigend einen Schritt beiseitetrat. Clary stürmte an ihm vorbei und die Treppe hinauf, während sie von unten vage Isabelles aufgebrachte Stimme wahrnahm, die den unglückseligen Sebastian anfauchte. Aber so war Isabelle nun mal: Wenn zufällig ein Junge herumstand und sie jemanden brauchte, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben konnte, dann kannte sie keine Gnade. 

Die Treppe führte zu einem breiten Flur mit einem Erkerfenster, das auf die Stadt hinausging. Im Erker saß ein kleiner Junge und las. Als Ciary die Stufen hinaufkam, schaute er auf und blinzelte verwirrt. »Dich kenn ich doch.«

»Hi Max. Ich bin’s, Clary. Erinnerst du dich noch an mich?«

Max’ Augen leuchteten auf. »Ja klar, du hast mir gezeigt, wie man Mangas liest«, sagte er und streckte ihr das Heft entgegen. »Hier, sieh mal. Ich hab mir noch eins besorgt. Dieses Heft heißt…«

»Max, ich hab jetzt keine Zeit zum Reden. Aber ich verspreche dir, ich schaue es mir später an. Weißt du zufällig, wo Jace ist?«

Max verzog das Gesicht. »In dem Raum da«, sagte er und zeigte auf die letzte Tür am Ende des Ganges. »Eigentlich wollte ich auch dort rein, aber er meinte, er hätte Erwachsenendinge zu erledigen. Dauernd versuchen alle, mich loszuwerden.«

»Tut mir leid«, murmelte Clary, doch in Gedanken war sie schon nicht mehr bei Max. Stattdessen fragte sie sich, was sie Jace wohl sagen sollte, wenn sie ihm begegnete. Und was würde er ihr sagen? Während sie den Flur entlang zur letzten Tür hastete, überlegte sie fieberhaft: Wahrscheinlich wäre es besser, erst mal freundlich zu bleiben, statt wütend zu werden. Anschreien würde ihn nur in die Defensive drängen. Er muss kapieren, dass ich hierhergehöre, genau wie er selbst auch. Ich brauche nicht beschützt zu werden wie ein Porzellanpüppchen. Ich bin nämlich auch stark… 

Mit Schwung riss Clary die Tür auf. Bei dem Raum dahinter schien es sich um eine Art Bibliothek zu handeln; die Wände waren bis zur Decke mit Regalen und Büchern gefüllt. Helles Tageslicht strömte durch ein großes Buntglasfenster. In der Mitte des Raums stand Jace. Allerdings war er nicht allein -ganz im Gegenteil: Bei ihm befand sich ein dunkelhaariges Mädchen, ein Mädchen, das Clary noch nie zuvor gesehen hatte. Und dieses Mädchen und Jace hielten einander in leidenschaftlicher Umarmung umschlungen.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
titlepage.xhtml
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_000.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_001.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_002.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_003.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_004.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_005.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_006.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_007.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_008.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_009.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_010.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_011.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_012.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_013.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_014.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_015.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_016.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_017.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_018.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_019.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_020.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_021.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_022.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_023.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_024.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_025.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_026.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_027.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_028.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_029.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_030.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_031.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_032.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_033.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_034.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_035.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_036.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_037.html
Chroniken_der_Unterwelt_Bd._3_split_038.html