6

BÖSES BLUT

 

Ein Schwindelgefühl erfasste Clary, als wäre dem Raum auf einen Schlag sämtliche Luft entzogen worden. Sie versuchte, einen Schritt zurückzuweichen, stolperte jedoch und stieß mit der Schulter gegen die Tür, die daraufhin mit einem lauten Knall ins Schloss fiel. Ruckartig fuhren Jace und das Mädchen auseinander.

Clary blieb wie angewurzelt stehen. Die beiden starrten sie mit großen Augen an. Mit einem kurzen Blick registrierte Clary, dass das Mädchen schulterlange dunkle Haare hatte und ausgesprochen hübsch war. Die oberen Knöpfe ihrer Bluse standen offen und darunter kam ein Spitzen-BH zum Vorschein. Clary hatte das Gefühl, als müsste sie sich jeden Moment übergeben.

Hastig tastete das Mädchen nach der Bluse, um die Knöpfe zu schließen. Sie wirkte alles andere als erfreut. »Entschuldige mal«, sagte sie stirnrunzelnd. »Wer bist du?«

Clary reagierte nicht auf ihre Frage; stattdessen schaute sie Jace unverwandt an, der sie seinerseits ungläubig anstarrte. Sein Gesicht hatte sämtliche Farbe verloren, wodurch die dunklen Ringe unter seinen Augen besonders deutlich zum Vorschein kamen. Er sah Clary mit einem Blick an, als schaute er in die Mündung eines Gewehrlaufs.

»Aline.« Jace’ Stimme klang tonlos, ohne jede Farbe oder Wärme. »Das ist meine Schwester, Clary.«

»Oh. Oh.« Alines Gesicht entspannte sich zu einem leicht verlegenen Lächeln. »Entschuldige! Wie peinlich, dass wir uns auf diese Weise kennenlernen … Hi, ich bin Aline.«

Noch immer lächelnd ging sie mit ausgestreckter Hand auf Clary zu. Ich glaube nicht, dass ich sie berühren kann, dachte Clary mit wachsendem Entsetzen. Sie sah zu Jace hinüber, der den Ausdruck in ihren Augen zu lesen schien. Mit finsterer Miene nahm er Aline bei den Schultern und flüsterte ihr etwas ins Ohr, woraufhin das Mädchen ein überraschtes Gesicht zog, die Achseln zuckte und ohne ein weiteres Wort die Bibliothek verließ. 

Clary blieb mit Jace allein im Raum zurück - allein mit jemandem, der sie noch immer auf eine Weise anstarrte, als wäre sie sein schlimmster Albtraum.

»Jace«, setzte Clary an und ging einen Schritt auf ihn zu.

Doch er wich vor ihr zurück, als wäre sie von einer Giftwolke umgeben. »Was im Namen des Erzengels machst du hier, Clary?«, fragte er.

Trotz ihrer Verärgerung traf sie der schroffe Ton in seiner Stimme sehr. »Du könntest wenigstens so tun, als würdest du dich freuen, mich zu sehen. Wenigstens ein kleines bisschen.«

»Ich freue mich nicht, dich zu sehen«, erwiderte Jace. Sein Gesicht hatte wieder etwas Farbe bekommen, aber die Ringe unter seinen Augen zeichneten sich noch immer als graue Schatten gegen seine Haut ab. Clary wartete darauf, dass er weiterredete, irgendetwas sagte, doch er schien sich damit zu begnügen, sie mit unverhohlenem Entsetzen anzustarren. Mit abwesendem Blick registrierte Clary, dass Jace einen schwarzen Pullover trug, der um seine Handgelenke schlackerte, als hätte er stark abgenommen, und dass seine Fingernägel bis zum Fleisch abgekaut waren. »Ich freue mich nicht im Geringsten«, fügte er hinzu. 

»Das bist doch nicht du«, protestierte Clary. »Ich hasse es, wenn du dich so verhältst…«

»Ach, du hasst es also? Na, dann sollte ich wohl besser damit aufhören, was? Schließlich tust du ja alles, worum ich dich bitte.« 

»Du hattest kein Recht, das zu verlangen!«, fauchte Clary ihn plötzlich wütend an. »Mich einfach so anzulügen. Du hattest kein Recht…«

»Ich hatte jedes Recht dazu!«, brüllte er zurück. Clary konnte sich nicht erinnern, dass er sie jemals so angebrüllt hatte. »Ich hatte jedes Recht, du dummes, kleines Mädchen. Ich bin dein Bruder und ich …«

»Und was? Du meinst, deshalb hättest du über mich zu bestimmen? Nein, du hast nicht über mich zu bestimmen, ob du nun mein Bruder bist oder nicht!«

Im selben Moment flog die Tür hinter Clary auf und Alec stürmte in die Bibliothek. Seine schwarzen Haare waren vollkommen zerzaust. Er trug einen langen dunkelblauen Mantel über schlammbespritzen Stiefeln und starrte die beiden mit einem ungläubigen Ausdruck an. »Was in drei Teufels Namen ist hier los?«, fragte er und schaute verwirrt von Jace zu Clary. »Wollt ihr zwei euch vielleicht umbringen?«

»Keineswegs«, erwiderte Jace. Wie von Zauberhand waren die Wut und die Panik aus seinem Gesicht verschwunden und er wirkte wieder eisig ruhig. »Clary wollte sowieso gerade gehen.« 

»Prima«, sagte Alec, »denn ich muss unbedingt mit dir reden, Jace.«

»Wird man in diesem Haus denn überhaupt nicht mehr begrüßt?«, fauchte Clary, ohne irgendjemanden direkt anzusehen.

Alec ließ sich deutlich leichter ein schlechtes Gewissen einreden als Isabelle. »Wie schön, dich zu sehen, Clary«, sagte er, »natürlich abgesehen von der Tatsache, dass du wirklich nicht hier sein dürftest. Isabelle hat mir erzählt, dass es dir irgendwie gelungen ist, ganz allein hierherzukommen, und ich bin beeindruckt…«

»Könntest du vielleicht aufhören, sie auch noch zu ermutigen?«, fiel Jace ihm ins Wort.

»Aber ich muss jetzt wirklich dringend etwas mit Jace besprechen. Würdest du uns kurz allein lassen?«

»Ich muss auch dringend mit ihm reden«, sagte Clary. »Es geht um unsere Mutter…«

»Ich habe aber keine Lust zu reden«, entgegnete Jace, »mit keinem von euch beiden, um ehrlich zu sein.«

»Doch, du willst mit mir reden«, widersprach Alec. »Über das, was ich zu sagen habe, willst du unbedingt mit mir reden.«

»Das bezweifle ich«, konterte Jace und konzentrierte sich wieder auf Clary. »Du bist nicht allein hierhergekommen, richtig?«, fragte er langsam, als dämmerte ihm, dass die Situation noch viel schlimmer war, als er befürchtet hatte. »Wer hat dich begleitet?«

Clary erschien es sinnlos, in diesem Punkt zu lügen. »Luke«, sagte sie. »Luke hat mich begleitet.«

Jace erbleichte. »Aber Luke ist ein Schattenweltler. Weißt du überhaupt, was der Rat mit nicht angemeldeten Schattenwesen macht, die einfach in die Gläserne Stadt eindringen - die die Schutzschilde ohne Genehmigung überwinden? Es ist eine Sache, nach Idris einzureisen, aber etwas völlig anderes, unerlaubt Alicante zu betreten … ohne auch nur irgendjemanden zu informieren …«

»Nein, das weiß ich nicht«, erwiderte Clary fast im Flüsterton, »aber ich weiß, was du jetzt sagen willst…«

»Dass du es bald herausfinden wirst, wie der Rat reagiert, falls Luke und du … falls ihr beide nicht sofort nach New York zurückkehrt?« Jace schwieg einen Moment und ihre Blicke trafen sich. Die Verzweiflung in seinen Augen erschreckte Clary - immerhin war er derjenige, der ihr drohte, und nicht umgekehrt.

»Jace«, sagte Alec in die Stille hinein; ein Anflug von Panik hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Hast du dich nicht gefragt, was ich den ganzen Tag gemacht habe?«

»Der Mantel, den du da trägst, ist neu«, erwiderte Jace, ohne seinen Freund anzusehen. »Ich schätze, du warst einkaufen. Warum du allerdings so erpicht darauf bist, mich damit zu belästigen, ist mir vollkommen schleierhaft.«

»Ich war nicht einkaufen«, schnaubte Alec wütend. »Ich war…«

In dem Moment flog die Tür erneut auf und Isabelle wehte in einer Woge aus weißer Spitze herein und knallte die Tür hinter sich zu. Sie warf Clary einen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Ich hab dir doch gesagt, dass er ausflippen wird«, rief sie. »Hab ich’s nicht gleich gesagt?« 

»Ah, das gute, alte >Hab ich’s nicht gleich gesagt?<«, murmelte Jace. »Immer wieder ein gern gehörter Satz.«

Entsetzt schaute Clary ihn an. »Wie kannst du jetzt Witze reißen?«, flüsterte sie. »Du hast gerade Luke bedroht. Luke, der dich mag und der dir vertraut. Du hast ihn bedroht, weil er ein Schattenweltler ist. Was ist los mit dir?« 

Isabelle zog ein bestürztes Gesicht. »Luke ist hier? Oh, Clary …«

»Er ist nicht hier«, erklärte Clary. »Er hat die Stadt heute Morgen verlassen … und ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Aber ich kapiere nun, warum er gehen musste.« Nur mit Mühe konnte sie Jace ansehen. »Okay. Du hast gewonnen. Wir hätten niemals hierherkommen dürfen. Ich hätte niemals das Portal erschaffen dürfen …«

»Ein Portal erschaffen?« Isabelle schaute verblüfft. »Clary, nur ein Hexenmeister kann ein Portal erschaffen. Und davon gibt es nicht gerade viele. Das einzige Portal hier in Idris befindet sich in der Garnison.« 

»Womit wir beim Thema wären! Darüber muss ich unbedingt mit dir reden«, zischte Alec Jace zu, der zu Clarys Überraschung jetzt noch bleicher wirkte. Er sah aus, als würde er jeden Moment das Bewusstsein verlieren. »Du weißt schon«, fuhr Alec fort, »die Sache, die ich gestern Abend erledigen sollte - das, was ich in der Garnison abliefern musste …«

»Alec, hör auf. Hör aufl«, stieß Jace hervor und die schiere Verzweiflung in seiner Stimme ließ seinen Freund verstummen. Alec schloss den Mund, biss sich auf die Lippe und starrte Jace schweigend an. Doch Jace schien ihn überhaupt nicht wahrzunehmen - stattdessen musterte er Clary mit finsterer Miene. »Du hast recht«, sagte er schließlich mit gepresster Stimme, als müsste er die Worte einzeln über seine Lippen bringen. »Du hättest tatsächlich niemals hierherkommen dürfen. Ich weiß, ich habe dir gesagt, du wärst in Idris nicht sicher, aber das war nur ein Vorwand. Die Wahrheit ist: Ich wollte dich nicht hier haben, weil du unbesonnen und leichtfertig bist und weil du alles vermasselst. So bist du nun mal. Du bist einfach nicht umsichtig genug, Clary.« 

»Ich … vermassele alles?« Clary bekam nicht genügend Luft, um mehr als ein Flüstern hervorzubringen. 

»Oh, Jace«,sagte Isabelle traurig, als wäre er derjenige, den man gekränkt hatte. Doch Jace schaute nicht zu ihr hinüber; sein Blick war fest auf Clary geheftet. 

»Du rennst immer einfach drauflos, ohne nachzudenken«, fuhr er fort. »Und das weißt du ganz genau, Clary. Wenn du nicht gewesen wärst, wären wir niemals im Hotel Dumort gelandet.«

»Und dann wäre Simon jetzt tot! Zählt das denn gar nicht? Möglicherweise war das ja unbesonnen, aber…«

»Möglicherweise?«, fuhr er sie mit erhobener Stimme an. 

»Aber es ist ja nicht so, als ob jede meiner Entscheidungen schlecht wäre! Du hast selbst gesagt… nach dem, was ich auf dem Schiff getan habe … du hast gesagt, ich hätte allen das Leben gerettet…«

Nun wich auch das letzte Quäntchen Farbe aus Jace’ Gesicht. Mit einer plötzlichen und erstaunlichen Brutalität stieß er hervor: »Halt den Mund, Clary, HALT DEN MUND …«

»Auf dem Schiff?« Alecs Blick wanderte zwischen Jace und Clary hin und her. »Was ist denn auf dem Schiff passiert?«, fragte er verwirrt. »Jace …?«

»Das habe ich nur gesagt, damit du aufhörst zu heulen!«, brüllte Jace und ignorierte Alec, ignorierte alles um sich herum bis auf Clary. Sie spürte, wie die Kraft seiner plötzlichen Wut sie wie eine Woge von den Füßen zu reißen drohte. »Du bist für uns eine Katastrophe, Clary! Du bist eine Irdische, wirst immer eine bleiben. Aus dir wird niemals eine Schattenjägerin werden. Du denkst nicht wie wir, denkst nicht daran, was das Beste für alle ist. Das Einzige, wofür du dich interessierst, bist du selbst! Aber da draußen herrscht Krieg - oder droht zumindest jeden Moment auszubrechen - und ich habe weder die Zeit noch die Lust, ständig hinter dir herzurennen und zu verhindern, dass durch deine Schuld irgendeiner von uns getötet wird!«

Clary starrte ihn nur stumm an; es fiel ihr nichts ein, was sie darauf hätte erwidern können. Noch nie zuvor hatte er so mit ihr geredet. Sie hätte sich nicht einmal vorstellen können, dass er ihr gegenüber jemals einen solchen Ton anschlagen würde. Ganz gleich, wie sehr sie ihn in der Vergangenheit auch aufgebracht hatte - noch nie hatte er mit ihr so geredet, als würde er sie hassen.

»Fahr nach Hause, Clary«, sagte er nun mit müder Stimme, als hätte es ihn seine ganze Kraft gekostet, ihr endlich zu sagen, was er wirklich empfand. »Fahr nach Hause.«

Von einem Moment auf den nächsten hatten sich Clarys Pläne allesamt in Luft aufgelöst: ihre Hoffnung, Ragnor Fell aufzustöbern, ihre Mutter zu retten und sogar Luke zu finden - nichts davon spielte noch eine Rolle. Schweigend ging sie zur Tür. Alec und Isabelle traten einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Keiner der beiden konnte ihr in die Augen sehen; stattdessen schauten sie bestürzt und betreten beiseite. Clary wusste, dass sie sich eigentlich gedemütigt und wütend fühlen musste, aber das war nicht der Fall. Sie empfand nur noch eine völlige Leere, so als wäre sie innerlich tot. 

An der Tür drehte sie sich noch einmal um und schaute zurück. Jace blickte ihr schweigend nach. Das Licht, das durch das Fenster hinter ihm fiel, tauchte sein Gesicht in Schatten; Clary konnte lediglich die hellen Sonnenstrahlen sehen, die seine blonden Haare aufleuchten ließen wie glitzernde Glasscherben.

»Als du mir zum ersten Mal gesagt hast, dass Valentin dein Vater sei, habe ich dir nicht geglaubt«, sagte sie tonlos. »Nicht weil ich das nicht wahrhaben wollte, sondern weil du ihm nicht im Geringsten geähnelt hast. Ich war nie der Ansicht, dass du ihm ähnelst… bis jetzt.«

Damit verließ sie den Raum und zog die Tür fest hinter sich zu.

 

»Die haben vor, mich verhungern zu lassen«, sagte Simon.

Er lag auf dem Zellenboden, dessen kalte Steine sich in seinen Rücken drückten. Andererseits konnte er aus diesem Winkel den Himmel durch das Gitterfenster sehen. In den Tagen nach seiner Verwandlung zum Vampir - als er annehmen musste, das Licht der Sonne nie wieder sehen zu können - hatte er unablässig an die Sonne und den Himmel gedacht. Und daran, wie sich dessen Farbe im Laufe des Tages veränderte: vom hellblauen Morgenhimmel über das kräftige Blau der Mittagszeit bis zum kobaltblauen Zwielicht der Abenddämmerung. Er hatte stundenlang in der Dunkelheit gelegen und vor seinem inneren Auge eine Parade von Blautönen vorbeimarschieren lassen. Doch nun fragte er sich, ob ihm das Schicksal das Tageslicht mit all seinen Schattierungen von Blau nur deshalb wiedergeschenkt hatte, damit er den kurzen, unerfreulichen Rest seines Lebens in dieser winzigen Zelle verbringen konnte, die ihm durch das vergitterte Fenster nur einen begrenzten Ausschnitt des Himmels zeigte.

»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe?«, fragte Simon mit erhobener Stimme. »Der Inquisitor will mich aushungern. Keine weiteren Blutrationen.«

Auf der anderen Seite der Mauer ertönte ein raschelndes Geräusch, dann ein vernehmliches Seufzen und schließlich meldete Samuel sich zu Wort: »Ja, ich habe dich gehört. Ich weiß nur nicht, was ich deiner Meinung nach dagegen unternehmen soll.« Er schwieg einen Moment. »Tut mir leid für dich, Tageslichtler, falls dich das irgendwie tröstet.«

»Nein, eigentlich nicht«, erwiderte Simon. »Der Inquisitor will, dass ich lüge. Er will, dass ich ihm sage, die Lightwoods würden mit Valentin gemeinsame Sache machen. Wenn ich das >gestehe<, lässt er mich frei und schickt mich umgehend nach Hause.« Er drehte sich auf den Bauch und spürte, wie sich kleine Steinchen und Dreck in seine Haut drückten. »Ach, schon gut. Ich weiß gar nicht, warum ich Ihnen all das erzähle. Wahrscheinlich haben Sie überhaupt keine Ahnung, wovon ich rede.«

Samuel stieß ein Geräusch aus, das wie eine Mischung aus Hüsteln und unterdrücktem Lachen klang. »Doch, das weiß ich. Ziemlich gut sogar. Ich kenne die Lightwoods. Wir waren zusammen im Kreis. Die Lightwoods, die Waylands, die Pangborns, die Herondales, die Penhallows. Sämtliche führenden Familien von Alicante.« 

»Und Hodge Starkweather«, fügte Simon hinzu, als er an den Privatlehrer der Lightwoods’ dachte. »Er gehörte ebenfalls dem Kreis an, oder?«

»Ja, das stimmt«, sagte Samuel. »Aber seine Familie konnte man wohl kaum zu den angesehenen Geschlechtern der Stadt zählen. Es gab eine Zeit, da war Hodge ein vielversprechender junger Mann, aber ich fürchte, er hat die in ihn gesetzten Erwartungen nie erfüllen können.« Samuel schwieg einen Moment und fuhr dann fort: »Aldertree hat die Lightwoods schon immer gehasst, seit unserer Kindheit. Er war weder reich noch intelligent noch attraktiv und die anderen waren … nun ja, nicht sehr nett zu ihm. Ich glaube nicht, dass er jemals darüber hinweggekommen ist.«

»Reich?«, fragte Simon. »Ich dachte, alle Schattenjäger werden vom Rat bezahlt. Wie im … ich weiß auch nicht… wie im Kommunismus oder so.«

»Theoretisch erhalten alle Schattenjäger denselben Sold«, erklärte Samuel. »Aber manche, wie diejenigen, die hohe Ämter im Rat bekleiden oder große Verantwortung tragen, also beispielsweise ein Institut leiten, beziehen höhere Gehälter. Und dann sind da noch diejenigen, die außerhalb Idris’ leben und sich entschlossen haben, ihren Lebensunterhalt in der Welt der Irdischen zu verdienen. Das ist keineswegs untersagt, solange sie einen Teil ihres Einkommens an den Rat abführen. Aber…« Samuel zögerte einen Augenblick, »aber du hast doch das Haus der Familie Penhallow gesehen, stimmt’s? Was hältst du davon?«

Simon versuchte, sich das Gebäude wieder in Erinnerung zu rufen. »Ziemlich beeindruckend.«

»Es zählt zu den schönsten Bauwerken von ganz Alicante«, sagte Samuel. »Und die Penhallows besitzen noch ein weiteres Haus, einen Gutshof auf dem Land. Fast alle wohlhabenden Familien haben so einen Herrensitz. Es gibt für Nephilim nämlich noch einen anderen Weg, zu Geld zu kommen. Man bezeichnet das als >Prise<, Siegesbeute. Sämtliche Besitztümer eines Dämons oder Schattenweltlers, der von einem Schattenjäger getötet wurde, gehen in das Eigentum des betreffenden Nephilim über. Wenn also ein wohlhabender Hexenmeister das Gesetz bricht und von einem Schattenjäger getötet wird …«

Simon erschauderte. »Dann ist das Töten von Schattenwesen also ein einträgliches Geschäft?«

»Es kann sich als ziemlich lukrativ erweisen«, erklärte Samuel bitter, »sofern man nicht allzu wählerisch dabei ist, wen man gerade tötet. Du verstehst jetzt sicher, warum sich so viel Widerstand gegen das Abkommen regt. Es bedeutet einen tiefen Einschnitt in die eigene Geldbörse, wenn man plötzlich vorsichtig sein muss und nicht einfach einen Schattenweltler umbringen kann. Vielleicht ist das ja auch der Grund, warum ich mich dem Kreis angeschlossen habe. Meine Familie war nie besonders wohlhabend und man hat auf uns herabgeblickt, weil wir kein Blutgeld annehmen wollten …« Samuel verstummte.

»Aber der Kreis hat doch auch Schattenwesen ermordet«, warf Simon ein.

»Weil wir dachten, es wäre unsere heilige Pflicht. Nicht aus Gier«, sagte Samuel. »Allerdings weiß ich heute nicht mehr, wie ich jemals auf die Idee kommen konnte, dass es da einen Unterschied gibt.«

Er klang erschöpft. »Das war Valentins besondere Begabung … Er hatte so etwas an sich … Er konnte sein Gegenüber von allem überzeugen. Ich erinnere mich, dass ich eines Tages neben ihm stand, mit blutverschmierten Händen, auf den Körper einer toten Frau hinabblickte und felsenfest davon überzeugt war, dass meine Bluttat gerecht wäre - nur weil Valentin es gesagt hatte.«

»Eine tote Schattenweltlerin?«

Samuel holte auf der anderen Seite der Mauer gequält Luft. »Du musst verstehen«, erklärte er schließlich, »dass ich alles getan hätte, was Valentin von mir verlangte. Jeder von uns hätte das, auch die Lightwoods. Und da der Inquisitor das weiß, versucht er, daraus Kapital zu schlagen. Aber dir sollte eines klar sein: Wenn du Aldertree erst einmal nachgegeben und die Lightwoods ans Messer geliefert hast, besteht das Risiko, dass er dich dann immer noch töten lässt, um einen unliebsamen Mitwisser loszuwerden. Es hängt ganz davon ab, ob ihm die Vorstellung, Gnade walten zu lassen, in dem Moment ein Gefühl der Macht schenkt.«

»Das spielt keine Rolle«, erwiderte Simon. »Denn ich habe nicht vor, ihm den Gefallen zu tun. Ich werde die Lightwoods nicht verraten.«

»Wirklich?« Samuel klang nicht sehr überzeugt. »Und gibt es dafür einen bestimmten Grund? Liegen dir die Lightwoods so sehr am Herzen?« 

»Alles, was ich Aldertree über sie erzählen soll, wäre eine Lüge.«

»Aber möglicherweise ist das genau die Lüge, die er hören will. Du möchtest doch nach Hause zurückkehren, oder nicht?«

Simon starrte angestrengt auf die Mauer, als könnte er auf diese Weise durch sie hindurch und dem Mann auf der anderen Seite ins Gesicht sehen. »Würden Sie das denn tun? Lügen?«

Samuel hustete - ein pfeifender Husten, als wäre er nicht gerade bester Gesundheit. Andererseits war es hier unten im Zellentrakt auch ziemlich feucht und kalt… was Simon natürlich nicht interessierte, aber einem normalen Menschen auf Dauer bestimmt stark zu schaffen machen konnte. »Zunächst einmal würde ich von mir keine moralischen Ratschläge annehmen«, sagte Samuel nach einer Weile keuchend. »Aber wahrscheinlich würde ich nachgeben und lügen. Es war mir schon immer das Wichtigste, meine eigene Haut zu retten.«

»Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt.«

»Leider doch«, sagte Samuel. »Wenn du erst einmal älter bist, Simon, wirst du feststellen, dass es meistens der Wahrheit entspricht, wenn die Leute dir etwas Unangenehmes über sich selbst erzählen.«

Aber ich werde nicht älter werden, dachte Simon. Dann sagte er laut: »Das war das erste Mal, dass Sie mich >Simon< genannt haben und nicht Tageslichtler.« 

»Da hast du wohl recht.«

»Und was die Lightwoods betrifft«, fuhr Simon fort, »es ist keineswegs so, dass ich sie besonders ins Herz geschlossen hätte. Ich meine, ich mag Isabelle … und irgendwie auch Alec und Jace. Aber da gibt es noch ein Mädchen. Und Jace ist ihr Bruder.«

Als Samuel darauf reagierte, klang er zum ersten Mal aufrichtig amüsiert: »Gibt es da nicht immer ein Mädchen?«

In dem Moment, in dem sich die Tür hinter Clary schloss, ließ Jace sich gegen die Wand sinken, als hätte man ihm die Beine unter dem Körper weggezogen. Er war aschfahl und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine Mischung aus Entsetzen, Schreck und … einer gewissen Erleichterung, als wäre die Katastrophe gerade noch einmal abgewendet worden.

»Jace«, setzte Alec an und ging einen Schritt auf seinen Freund zu. »Glaubst du wirklich …«

Sofort fiel Jace ihm ins Wort: »Raus«, sagte er mit leiser Stimme. »Raus, alle beide.«

»Damit du dann was machen kannst? Dein Leben noch mehr verpfuschen?«, konterte Isabelle. »Was zum Teufel sollte das eben?« 

Jace schüttelte den Kopf. »Ich habe Clary nach Hause geschickt. Das ist für sie das Beste.«

»Du hast verdammt viel mehr getan, als sie nur nach Hause zu schicken. Du hast sie am Boden zerstört. Hast du ihr Gesicht gesehen?« 

»Das war es wert. Aber du verstehst das nicht«, erwiderte Jace.

»Möglicherweise war es das Beste für Clary«, sagte Isabelle. »Aber ich hoffe, für dich erweist es sich auch als das Beste.«

Jace wandte das Gesicht ab. »Lass mich … lass mich einfach in Ruhe, Isabelle. Bitte.«

Isabelle warf ihrem Bruder einen bestürzten Blick zu: Jace sagte sonst nie Bitte. Beruhigend legte Alec seiner Schwester eine Hand auf die Schulter. »Ist schon gut, Jace«, sagte er so freundlich wie möglich. »Ich bin mir sicher, Clary wird darüber hinwegkommen.«

Jace hob den Kopf und schaute in Alecs Richtung, ohne seinen Freund jedoch richtig anzusehen - er schien in die Luft zu starren. »Nein, das wird sie nicht«, erwiderte er. »Aber das habe ich schließlich gewusst. Wo wir gerade davon reden: Was wolltest du mir eigentlich sagen? Du machtest den Eindruck, als wäre es ziemlich wichtig.« 

Alec nahm die Hand von Isabelles Schulter. »Ich wollte dir nicht vor Clary davon erzählen …«

Sofort heftete Jace seinen Blick auf Alec. »Du wolltest mir was nicht vor Clary erzählen?« 

Alec zögerte. Selten hatte er Jace so erschüttert gesehen und er konnte nur ahnen, welche Auswirkungen weitere unerfreuliche Überraschungen auf ihn haben würden. Aber er konnte ihm die Geschichte unmöglich verschweigen. Jace musste einfach davon erfahren. »Als ich Simon gestern zur Garnison gebracht habe«, setzte er mit leiser Stimme an, »hat Malachi mir gesagt, dass Magnus Bane auf der anderen Seite des Portals, in New York, auf Simon warten würde. Also habe ich Magnus eine Flammenbotschaft geschickt. Heute Morgen hat er sich bei mir gemeldet: Simon ist nicht bei ihm angekommen. Tatsächlich wurde seit Clarys Transfer in ganz New York nicht die geringste Portal-Aktivität verzeichnet.«

»Vielleicht hat Malachi sich ja geirrt«, mutmaßte Isabelle nach einem raschen Blick auf Jace’ aschfahles Gesicht. »Vielleicht hat irgendjemand anderes Simon drüben in Empfang genommen. Und Magnus könnte sich irren, was die Portal-Aktivität betrifft…«

Alec schüttelte den Kopf. »Ich habe Mom heute Morgen zur Garnison begleitet, weil ich Malachi persönlich danach fragen wollte. Aber als ich ihn im Innenhof sah, habe ich mich hinter eine Gebäudeecke geduckt - keine Ahnung, warum. Irgendwie hatte ich keine Lust auf eine Begegnung mit ihm. Und dann habe ich gehört, wie er mit den Wärtern sprach: Er erteilte ihnen den Befehl, den Vampir aus dem Zellentrakt zu holen, weil der Inquisitor ihn erneut befragen wollte.«

»Bist du sicher, dass Simon damit gemeint war?«, fragte Isabelle, doch aus ihrer Stimme klang wenig Hoffnung. »Vielleicht …« 

»Malachi und die Wärter haben sich darüber amüsiert, wie dumm der Schattenweltler gewesen sei, ernsthaft anzunehmen, dass man ihn ohne Verhör nach New York zurückschicken würde. Einer der Männer meinte, dass er gar nicht nachvollziehen könne, wie jemand die Frechheit besäße, den Tageslichtler überhaupt nach Alicante einschmuggeln zu wollen. Und daraufhin erwiderte Malachi: >Na ja, was kann man von Valentins Sohn auch anderes erwarten?<«

»Oh«, flüsterte Isabelle, »oh mein Gott.« Rasch schaute sie zu Jace hinüber. »Jace …«

Jace hatte die Hände zu Fäusten geballt; seine Augen lagen tief in den Höhlen, als drängte es sie tiefer in den Schädel. Unter anderen Umständen hätte Alec ihm eine Hand auf die Schulter gelegt, doch dieses Mal hielt er sich zurück; Jace hatte irgendetwas an sich, das ihn zögern ließ. 

»Wenn nicht ich derjenige gewesen wäre, der Simon durch das Portal gebracht hat, dann hätten sie ihn vielleicht einfach nach Hause geschickt«, sagte Jace in leisem, gesetztem Ton, als würde er etwas rezitieren. »Dann hätten sie vielleicht nicht geglaubt, dass…« 

»Nein«, unterbrach Alec ihn. »Nein, Jace, das ist nicht deine Schuld. Du hast Simon das Leben gerettet.«

»Ich habe ihn gerettet, damit der Rat ihn foltern kann«, erwiderte Jace. »Damit hab ich ihm echt einen Gefallen getan. Wenn Clary das herausfindet…« Er schüttelte den Kopf. »Sie wird denken, ich hätte ihn absichtlich hierhergebracht und dem Rat übergeben - wohl wissend, was der mit ihm anstellen würde.«

»Nein, das wird sie nicht denken. Du hättest doch gar keinen Grund, so etwas zu tun.«

»Mag sein«, sagte Jace gedehnt, »aber nach dem, wie ich sie eben behandelt habe …«

»Niemand könnte jemals glauben, dass du so etwas tun würdest, Jace«, pflichtete Isabelle ihrem Bruder bei. »Niemand, der dich kennt. Niemand, der …«

Doch Jace hörte gar nicht mehr zu. Stattdessen machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte zu dem Buntglasfenster, das auf den Kanal hinausging. Dort hielt er einen Moment inne, während das einfallende Licht seine Haarspitzen golden aufleuchten ließ. Und dann setzte er sich in Bewegung, derart schnell, dass Alec keine Zeit zum Reagieren blieb: Als er begriff, was Jace vorhatte, war es bereits zu spät. 

Ein lautes Krachen ertönte - das Klirren von splitterndem Glas - und ein plötzlicher Sprühnebel aus scharfen Glasscherben ergoss sich wie ein Regen gezackter Sterne in den Raum. Mit nüchternem Interesse schaute Jace auf seine linke Hand herab, aus deren Fingerknöcheln dickes scharlachrotes Blut quoll und auf den Boden tropfte.

Isabelle starrte von Jace zu dem Loch in der Glasscheibe: Von der leeren Fenstermitte breiteten sich dünne Strahlen in alle Richtungen aus - ein Spinnenetz feiner silberfarbener Risse. »Oh, Jace«, sagte sie leise - so leise, wie Alec seine Schwester noch nie hatte reden hören. »Wie um alles in der Welt sollen wir das den Penhallows erklären?«

 

Irgendwie schaffte Clary es, aus dem Haus herauszukommen. Sie hatte keine Ahnung, wie ihr das gelungen war - alles schien zu einer raschen Folge von Fluren und Treppen zu verschwimmen, bis sie schließlich atemlos auf den Stufen vor dem Haus der Penhallows stand und sich zu entscheiden versuchte, ob sie sich sofort in die Rosensträucher neben der Eingangstreppe übergeben musste.

Die Büsche waren dafür ideal platziert und Clarys Magen krümmte sich schmerzhaft zusammen, aber dann fiel ihr wieder ein, dass sie außer etwas Suppe nichts gegessen hatte und daher wohl nicht viel hochwürgen konnte. Langsam stieg sie die Stufen hinunter, ging durch das Gartentor und marschierte blind drauflos. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, aus welcher Richtung sie gekommen war oder wie sie zu Amatis’ Haus zurückfinden sollte, doch das schien alles überhaupt keine Rolle mehr zu spielen. Schließlich hatte sie nicht die geringste Lust, dorthin zurückzukehren und Luke zu erklären, dass sie Alicante sofort verlassen mussten, weil Jace sie sonst dem Rat melden würde. 

Vielleicht hatte Jace ja recht. Vielleicht war sie tatsächlich unbesonnen und leichtfertig. Vielleicht dachte sie ja wirklich nicht darüber nach, welche Auswirkungen ihre Handlungen auf die Menschen hatten, die sie liebte. Vor ihrem inneren Auge tauchte Simons Gesicht auf, gestochen scharf wie ein Foto, und dann Luke…

Clary hielt inne und stützte sich gegen einen Laternenpfahl. Der rechteckige Beleuchtungskörper erinnerte sie an die Gaslaternen, die in Park Slope noch vor vielen der Sandsteinbauten standen. Irgendwie beruhigte sie der Anblick.

»Clary!« Die besorgte Stimme eines Jungen schallte durch die Straße. Jace, dachte Clary sofort und wirbelte herum. 

Doch es war nicht Jace. Vor ihr stand Sebastian, der dunkelhaarige Junge aus dem Wohnzimmer der Penhallows; er wirkte leicht außer Atem, als wäre er ihr nachgelaufen.

Erneut wurde Clary von demselben Gefühl ergriffen, das sie bereits bei ihrer ersten Begegnung mit Sebastian gespürt hatte -eine Art Erkennen, vermischt mit einer Empfindung, die sie jedoch nicht genau benennen konnte. Dabei ging es nicht um Sympathie oder Antipathie: Es war vielmehr wie ein Sog, als zöge sie irgendetwas zu diesem Jungen, den sie doch gar nicht kannte. Vielleicht lag es ja an seinem Aussehen. Er wirkte umwerfend, so attraktiv wie Jace, doch im Gegensatz zu diesem schien er nur aus Blässe und Schatten zu bestehen. Allerdings konnte Clary nun erkennen, dass seine Ähnlichkeit mit ihrem imaginären Traumprinzen nicht ganz so groß war, wie sie zunächst gedacht hatte. Selbst die Haarfarbe schien anders. Aber da war etwas … irgendetwas an der Form seines Gesichts, an seiner Körperhaltung, an der dunklen Verschlossenheit seiner Augen… 

»Alles in Ordnung?«, fragte er sanft. »Du bist aus dem Haus gerannt wie eine …« Er verstummte, als er sie genauer betrachtete. Clary klammerte sich noch immer an den Laternenpfahl, als könnte sie sich ohne ihn nicht auf den Beinen halten. »Was ist passiert?«

»Ich habe mich mit Jace gestritten«, sagte sie und versuchte, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen. »Du weißt ja, wie das ist.«

»Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht«, erklärte er fast entschuldigend. »Ich habe keine Geschwister.«

»Sei froh!«, schnaubte Clary und wunderte sich über die Bitterkeit in ihrer Stimme.

»Das meinst du doch nicht ernst.« Sebastian trat einen Schritt auf sie zu und in dem Moment erwachte die Straßenlaterne flackernd zum Leben und tauchte sie beide in einen Kegel aus weißem Elbenlicht. Sebastian schaute zur Lampe hinauf und lächelte. »Das ist ein Zeichen.«

»Ein Zeichen wofür?«

»Ein Zeichen, dass du dich von mir nach Hause bringen lassen solltest.«

»Aber ich habe keine Ahnung, wo das ist«, gab Clary zu bedenken. »Ich hab mich aus dem Haus geschlichen, um hierherzukommen, und ich weiß nicht mehr, welchen Weg ich genommen habe.«

»Okay. Bei wem wohnst du denn?«

Clary zögerte damit, seine Frage zu beantworten.

»Ich werde es niemandem verraten«, versprach Sebastian. »Das schwöre ich beim Erzengel.«

Erstaunt starrte Clary ihn an: Für einen Schattenjäger war das ein schwerwiegender Eid. »Also gut«, sagte sie schließlich, ehe sie es sich anders überlegte. »Ich wohne bei Amatis Herondale.«

»Prima. Ich weiß genau, wo ihr Haus liegt.« Sebastian bot Clary seinen Arm. »Wollen wir?«

»Du bist ziemlich zielstrebig«, entgegnete Clary, brachte aber ein Lächeln zustande.

Sebastian zuckte die Achseln. »Ich habe nun mal eine Schwäche für junge Damen in Not.« . ;

»Sei nicht so sexistisch.«

»Keineswegs. Meine Dienste stehen auch jungen Gentlemen in Not zur Verfügung. Bei dieser Schwäche gilt Chancengleichheit für beide Geschlechter«, sagte er, machte eine elegante Verbeugung und bot ihr erneut seinen Arm an.

Dieses Mal hakte Clary sich bei ihm unter.

 

Alec schloss die Tür der kleinen Dachkammer hinter sich und wandte sich Jace zu. Die Augen des Achtzehnjährigen besaßen normalerweise die Farbe des Lyn-Sees, ein helles, klares Blau, das sich je nach Stimmungslage jedoch verändern konnte. In diesem Moment erinnerte Alecs Augenfarbe eher an den East River während eines Gewitters und auch der Ausdruck in seinem Gesicht ließ nichts Gutes ahnen. »Setz dich«, befahl er Jace und zeigte auf den niedrigen Hocker vor dem Dacherker. »Ich hol Verbandszeug.«

Jace ließ sich auf den Hocker sinken. Das Zimmer, das er sich mit Alec unter dem Dach der Penhallows teilte, war ziemlich klein und bot gerade mal Platz für zwei schmale Betten, die jeweils an die Wand geschoben waren. Die Kleidungsstücke der Jungen hingen an Wandhaken und durch das kleine Fenster im Giebel fiel trübes Licht. Die Dämmerung hatte bereits eingesetzt und der Himmel auf der anderen Seite der Glasscheibe schimmerte indigoblau.

Jace sah zu, wie Alec sich auf den Boden kniete, die Reisetasche unter dem Bett hervorzog und ungehalten den Reißverschluss aufriss. Geräuschvoll wühlte er im Inhalt der Tasche umher, bis er sich schließlich mit einem kleinen Kästchen in der Hand aufrichtete. Ein Blick darauf verriet Jace, dass es sich um den Verbandskasten handelte, der immer dann zum Einsatz kam, wenn Runen nicht weiterhalfen - er enthielt Verbandmaterial, ein Mittel gegen Wundinfektion, eine Schere und Gaze.

»Willst du keine Heilrune verwenden?«, fragte Jace, eher aus Neugierde.

»Nein. Zur Abwechslung kannst du mal…«Alec verstummte und warf den Verbandskasten mit einem unterdrückten Fluch aufs Bett. Dann ging er zu dem kleinen Waschbecken an der Stirnseite des Zimmers und wusch sich so vehement die Hände, dass das Wasser wie feiner Nebel aufspritzte. Jace beobachtete ihn mit distanzierter Neugier. Seine Hand hatte inzwischen schmerzhaft zu pochen begonnen.

Alec schnappte sich den Kasten, zog einen weiteren Hocker heran und ließ sich Jace gegenüber nieder. »Gib mir mal deine Hand«, kommandierte er.

Jace streckte ihm die Hand entgegen; er musste zugeben, dass sie ziemlich übel aussah: Alle vier Knöchel waren aufgeplatzt wie rote Feuerwerkskörper. Getrocknetes Blut klebte an seinen Fingern und bildete einen schuppigen rotbraunen Handschuh. 

Alec verzog das Gesicht. »Du bist ein Idiot.«

»Vielen Dank«, sagte Jace und sah geduldig zu, wie Alec sich mit einer Pinzette über seine Hand beugte und vorsichtig eine Glasscherbe herauszog, die sich in seine Haut gebohrt hatte. »Also, warum nicht?«

»Warum was nicht?«

»Warum verwendest du keine Heilrune? Das ist doch keine Dämonenverletzung.«

»Weil …«, setzte Alec an und nahm die blaue Flasche mit dem Antiseptikum aus dem Kasten, »weil ich glaube, dass es dir guttun würde, wenn du den Schmerz empfinden würdest. Zur Abwechslung kannst du mal wie ein Irdischer heilen - langsam und schmerzhaft. Vielleicht lernst du ja was daraus.« Schwungvoll kippte er die beißende Flüssigkeit über Jace’ Schnittwunden. »Obwohl ich das bezweifle«, fügte er hinzu.

»Ich kann mir jederzeit selbst eine Heilrune auftragen, das ist dir doch wohl klar, oder?«

Alec legte das Ende einer Mullbinde um Jace’ Gelenk und begann damit, die Hand zu umwickeln. »Nur wenn du willst, dass ich den Penhallows erzähle, was wirklich mit ihrem Fenster passiert ist - statt sie im Glauben zu lassen, es wäre ein Unfall gewesen.« Er verknotete das Ende der Binde und zog den Knoten mit einem Ruck fest, sodass Jace vor Schmerz zusammenzuckte. »Wenn ich geahnt hätte, dass du dir so was antun würdest, hätte ich dir niemals von Simon erzählt.«

»Doch, das hättest du.« Jace neigte den Kopf leicht zur Seite. »Mir war nicht bewusst, dass meine Attacke auf das Buntglasfenster dich derart mitnehmen würde.«

»Es ist nur so …«Alec schaute auf Jace’ Hand, die nun ordentlich verbunden war und die er noch immer festhielt. Sie sah aus wie eine weiße Pfote mit kleinen Blutflecken an den Stellen, an denen Alecs Finger sie berührt hatten. »Warum tust du dir so etwas an? Nicht nur die Geschichte mit dem Fenster, sondern auch, wie du mit Clary geredet hast. Wofür bestrafst du dich selbst? Du kannst doch nichts für deine Gefühle.«

Jace’ Stimme klang gleichmütig. »Was hab ich denn für Gefühle?«

»Ich habe gesehen, wie du sie ansiehst.« Alecs Blick war in die Ferne gerichtet, vorbei an Jace’ Kopf. »Aber du kannst sie nicht haben. Vielleicht hast du ja nie zuvor erfahren, wie es ist, etwas zu wollen, was man nicht haben kann.«

Jace schaute Alec ruhig an. »Was läuft eigentlich zwischen dir und Magnus Bane?«

Ruckartig hob Alec den Kopf. »Ich … da ist nichts …«

»Ich bin doch nicht blöd. Nach dem Gespräch mit Malachi hast du direkt Magnus kontaktiert, noch bevor du mit mir oder Isabelle oder sonst jemandem gesprochen hast…«

»Weil er der Einzige ist, der mir meine Frage beantworten konnte - deshalb! Zwischen uns ist nichts«, erwiderte Alec und fügte dann, als er den Ausdruck auf Jace’ Gesicht sah, widerstrebend hinzu: »Nicht mehr. Zwischen uns ist nichts mehr. Okay?«

»Ich hoffe, das ist nicht meinetwegen«, sagte Jace.

Alec wurde kreidebleich und wich zurück, als müsste er sich gegen einen Schlag wappnen. »Was meinst du damit?«

»Ich weiß, was du für mich zu empfinden glaubst«, erklärte Jace. »Aber das fühlst du nicht wirklich. Du magst mich einfach deshalb, weil ich >sicher< bin, unerreichbar. Bei mir besteht kein Risiko. Und dann brauchst du gar nicht erst zu versuchen, eine richtige Beziehung einzugehen, weil du mich ja vorschieben kannst.« Jace wusste, dass er grausam war, aber es interessierte ihn kaum. Es tat fast so gut, die Menschen zu verletzen, die er liebte, wie sich selbst zu verletzen - zumindest wenn er in dieser Stimmung war.

»Ah, ich verstehe«, sagte Alec scharf. »Zuerst Clary, dann deine Hand und jetzt ich. Scher dich zum Teufel, Jace.«

»Du glaubst mir nicht?«, fragte Jace. »Prima. Dann mal los - komm her und küss mich. Hier und jetzt.«

Entsetzt starrte Alec ihn an.

»Siehst du? Denn trotz meines umwerfenden Aussehens magst du mich auf diese Weise dann doch nicht. Und wenn du Magnus in den Wind schießt, dann tust du das nicht meinetwegen. Sondern deswegen, weil du Angst hast, demjenigen, den du wirklich liebst, deine Gefühle einzugestehen. Die Liebe macht die Liebenden zu Lügnern«, erklärte Jace. »Das hat mir die Feenkönigin gesagt. Also verurteile du mich nicht dafür, dass ich meine wahren Gefühle verberge. Das machst du nämlich auch.« Entschlossen erhob er sich von seinem Hocker. »Und jetzt möchte ich, dass du das noch mal machst.« 

Alecs Gesicht sah man an, wie verletzt er war. »Was meinst du damit?«

»Ich möchte, dass du für mich lügst«, sagte Jace, nahm seine Jacke vom Wandhaken und streifte sie über. »Die Sonne ist inzwischen untergegangen und die anderen müssten jeden Moment aus der Garnison zurückkehren. Ich möchte, dass du ihnen sagst, ich würde mich nicht wohlfühlen und deshalb nicht zum Essen nach unten kommen. Sag ihnen, mir war schwindlig und ich sei ausgerutscht und das Fenster sei deshalb zerbrochen.« 

Alec hob den Kopf und sah Jace fest an. »Also gut«, erwiderte er. »Aber nur, wenn du mir sagst, wohin du wirklich willst.«

»Hinauf zur Garnison«, verkündete Jace. »Ich werde Simon aus dem Gefängnis holen.«

 

Clarys Mutter hatte die Zeit zwischen der Abenddämmerung und der nächtlichen Dunkelheit immer als »die blaue Stunde« bezeichnet. Das Licht wäre dann besonders intensiv und ungewöhnlich und es sei die beste Zeit zum Malen, hatte sie erklärt. Clary hatte nie richtig verstanden, was sie damit meinte, doch jetzt, auf dem späten Heimweg durch Alicante, erkannte sie es plötzlich.

In New York war die blaue Stunde nicht wirklich blau - Straßenbeleuchtung und Neonreklame ließen sie verblassen. Jocelyn musste an Idris gedacht haben, überlegte Clary. Denn hier legte sich das Licht in blauvioletten Wogen über das goldene Mauerwerk der Stadthäuser und die Elbenlichtlaternen warfen weiße, kreisförmige Lichtkegel auf das Pflaster, die so hell waren, dass Clary fast erwartete, die Wärme der Leuchtquellen auf der Haut zu spüren. Sie wünschte inständig, ihre Mutter wäre hier bei ihr: Jocelyn hätte ihr verschiedene Sehenswürdigkeiten zeigen können, Orte, die sie noch von früher kannte und die einen festen Platz in ihrer Erinnerung besaßen.

Aber sie hat mir nie davon erzählt. Sie hat all diese Dinge bewusst vor mir geheim gehalten. Und jetzt werde ich sie womöglich niemals erfahren. Ein jäher Schmerz, eine Mischung aus Verärgerung und Bedauern, versetzte Clary einen Stich ins Herz. 

»Du bist ziemlich still«, sagte Sebastian, während sie eine Brücke überquerten, deren Steinbrüstung mit gemeißelten Runen versehen war.

»Ich frage mich nur, welcher Ärger mich gleich erwartet. Ich musste aus dem Fenster klettern, um aus dem Haus zu kommen, aber wahrscheinlich hat Amatis meine Abwesenheit inzwischen längst bemerkt.«

Sebastian runzelte die Stirn. »Warum hast du dich aus dem Haus schleichen müssen? Durftest du deinen Bruder denn nicht besuchen?«

»Eigentlich dürfte ich überhaupt nicht hier sein«, erläuterte Clary. »Ich sollte in New York hocken und das Geschehen aus sicherer Entfernung beobachten.«

»Ah. Das erklärt eine Menge.«

»Tatsächlich?« Clary warf ihm einen neugierigen Seitenblick zu: Blaue Schatten schimmerten zwischen seinen dunklen Haaren.

»Als am Nachmittag dein Name fiel, schienen sämtliche Lightwoods bleich zu werden. Daraus habe ich geschlossen, dass es zwischen deinem Bruder und dir irgendwie böses Blut gibt.«

»Böses Blut? Na ja, so könnte man es auch formulieren.«

»Du magst ihn nicht besonders?«

»Ob ich Jace mag?« In den vergangenen Wochen hatte Clary so viel darüber nachgedacht, ob und wie sehr sie Jace Wayland liebte, dass ihr der Gedanke, ob sie ihn mochte, überhaupt nicht in den Sinn gekommen war. 

»Tut mir leid. Er gehört ja zu deiner Familie - da stellt sich nicht die Frage, ob man jemanden mag oder nicht.«

»Aber ich mag ihn«, erklärte Clary zu ihrer eigenen Überraschung. »Ich mag ihn wirklich. Es ist nur so, dass er mich rasend macht. Er sagt mir ständig, was ich zu tun und zu lassen habe…«

»Aber das scheint nicht besonders gut zu funktionieren«, bemerkte Sebastian.

»Wie meinst du das?«

»Auf mich machst du den Eindruck, als ob du immer nur das tust, was du selbst willst.«

»Hm, schon möglich.« Diese Einschätzung eines nahezu fremden Menschen verblüffte Clary. »Aber offenbar hat es ihn erheblich wütender gemacht, als ich erwartet hatte.«

»Er wird schon darüber hinwegkommen«, erwiderte Sebastian abschätzig.

Erneut musterte Clary ihn neugierig. »Magst du ihn denn?« 

»Ja, schon, aber ich glaube, er mag mich nicht besonders.« Sebastian klang wehmütig. »Alles, was ich sage, scheint ihn total zu nerven.«

Sie bogen nun von der Straße auf einen großen kopfsteingepflasterten Platz ab, der von schmalen, hohen Häusern gesäumt war. In der Mitte stand die Bronzestatue eines Engels - des Erzengels Raziel, der sein Blut zur Erschaffung der Schattenjäger gegeben hatte. Am nördlichen Ende des Platzes ragte ein massives weißes Steingebäude auf. Breite Marmorstufen führten zu einem Arkadengang mit dicken Säulen, hinter dem eine riesige Doppelflügeltür zu erkennen war. Im Licht der Abenddämmerung bot das Bauwerk einen faszinierenden - und seltsam vertrauten - Anblick. Clary fragte sich, ob sie wohl schon einmal ein Gemälde dieses Platzes gesehen hatte. Hatte ihre Mutter ihn vielleicht gemalt? 

»Das ist der Platz des Erzengels«, erläuterte Sebastian, »und dieses Gebäude war früher die Halle des Erzengels. Dort wurde das erste Abkommen unterzeichnet, da Schattenwesen die Garnison nicht betreten dürfen - und jetzt heißt sie >Halle des Abkommens<. Sie dient als wichtigster Versammlungs- und Tagungsort, außerdem finden hier große Feiern statt, Hochzeiten, Bälle und so weiter. Dieser Platz ist das Herz der Stadt. Es heißt, alle Straßen führen zu dieser Halle.«

»Das Gebäude erinnert ein wenig an eine Kirche, aber ihr habt hier gar keine Gotteshäuser, oder?«

»Dafür besteht kein Bedarf«, sagte Sebastian. »Die Dämonentürme schützen uns. Mehr brauchen wir nicht. Deswegen komme ich auch so gern nach Alicante. Hier ist es so … friedlich.«

Clary schaute ihn überrascht an. »Dann wohnst du gar nicht hier?«

»Nein. Ich lebe in Paris. Ich bin bei den Penhallows nur zu Besuch; Aline ist meine Cousine. Meine Mutter und ihr Vater - mein Onkel Patrick - waren Geschwister. Alines Eltern haben jahrelang das Institut in Peking geleitet. Vor etwa zehn Jahren sind sie nach Alicante zurückgekehrt.«

»Waren sie … die Penhallows haben dem Kreis nicht angehört, oder?«

Ein bestürzter Ausdruck huschte über Sebastians Gesicht. Er schwieg einen Moment, während sie den Platz verließen und in ein Labyrinth von dunklen Gassen bogen. »Warum willst du das wissen?«, fragte er schließlich.

»Na ja … die Lightwoods waren immerhin Mitglieder des Kreises.«

Als sie unter einer Straßenlaterne hindurchgingen, musterte Clary den Jungen aus den Augenwinkeln. Mit seinem weißen Hemd unter dem langen dunklen Mantel wirkte er im weißen Elbenlicht wie die Schwarz-Weiß-Illustration eines Gentleman aus einem viktorianischen Roman. Seine dunklen Haare kringelten sich auf eine Art und Weise an den Schläfen, dass es Clary in den Fingern juckte, ihn mit Feder und Tusche zu zeichnen.

»Du musst wissen, dass über die Hälfte der jungen Schattenjäger aus Idris dem Kreis angehört haben, ebenso wie zahlreiche außerhalb des Landes«, erklärte er. »Ganz zu Anfang hat auch mein Onkel Patrick dazu gezählt. Aber als ihm bewusst wurde, wie ernst Valentin die Angelegenheit nahm, ist er aus dem Kreis ausgetreten und hat den Posten am Institut in Peking angenommen, um sich Valentins Einfluss zu entziehen. Dort hat er dann Alines Mutter kennengelernt. Als die Lightwoods und die anderen Mitglieder des Kreises wegen Hochverrats vor Gericht standen, haben die Penhallows dafür gestimmt, Gnade walten zu lassen. Dadurch wurden Robert und Maryse nach New York ins Exil geschickt, statt mit einem Fluch belegt zu werden, wofür sie den Penhallows ewig dankbar sind.«

»Und was ist mit deinen Eltern?«, fragte Clary. »Haben sie dem Kreis angehört?«

»Nein. Meine Mutter war jünger als Patrick; als er nach Peking ging, hat er sie nach Paris geschickt, wo sie dann meinen Vater kennengelernt hat.«

»Deine Mutter war jünger als Patrick?« 

»Sie ist tot«, sagte Sebastian. »Mein Vater ebenfalls. Ich bin bei meiner Tante Elodie aufgewachsen.«

»Oh«, murmelte Clary und kam sich ziemlich dumm vor. »Das tut mir leid.«

»Ach, ich kann mich kaum noch an sie erinnern«, winkte Sebastian ab. »Als ich kleiner war, hab ich mir immer gewünscht, ich hätte eine ältere Schwester oder einen älteren Bruder…jemanden, der mir erzählen könnte, wie sie als Eltern waren.« Nachdenklich musterte er Clary. »Kann ich dich mal was fragen? Warum bist du überhaupt nach Idris gekommen, wenn du gewusst hast, dass dein Bruder so sauer reagieren würde?«

Ehe Clary darauf antworten konnte, traten sie aus einer schmalen Gasse auf den unbeleuchteten kleinen Platz hinaus, in dessen Mitte ein Brunnen im Mondlicht schimmerte, den Clary wiedererkannte. »Der Zisternenplatz«, sagte Sebastian mit unüberhörbarer Enttäuschung in der Stimme. »Wir sind schneller angekommen, als ich dachte.«

Clary warf einen Blick über die steinerne Kanalbrücke. In der Ferne konnte sie Amatis’ Haus erkennen; sämtliche Fenster waren hell erleuchtet. Clary seufzte. »Von hier aus find ich den Weg allein, danke.«

»Du willst nicht, dass ich dich bis vor die Haustür begleite …?«

»Nein. Es sei denn, du möchtest auch Ärger bekommen.«

»Du glaubst, ich würde Ärger bekommen? Weil ich dich wie ein Gentleman nach Hause gebracht habe?« 

»Niemand darf wissen, dass ich in Alicante bin«, erklärte Clary. »Eigentlich sollte es ein Geheimnis bleiben. Und nimm es mir bitte nicht übel, aber du bist ein Fremder.«

»Das würde ich gern ändern«, sagte Sebastian. »Ich möchte dich gern näher kennenlernen.« Er musterte sie mit einer Mischung aus spöttischer Belustigung und einer gewissen Schüchternheit, als wäre er sich nicht sicher, wie Clary seine Worte aufnehmen würde.

»Sebastian«, setzte Clary an, die sich plötzlich unendlich müde fühlte. »Es freut mich, dass du mich näher kennenlernen möchtest. Aber im Augenblick habe ich einfach nicht die Energie dazu. Tut mir leid.«

»So habe ich das nicht gemeint…«

Aber Clary hatte sich bereits in Bewegung gesetzt und ging auf die Brücke zu. Nach ein paar Metern drehte sie sich noch einmal zu Sebastian um. Im hellen Mondlicht wirkte er seltsam verloren: Sein dunkles Haar war ihm tief ins Gesicht gefallen.

»Ragnor Fell«, sagte Clary.

Sebastian starrte sie verblüfft an. »Wie bitte?«

»Du hast mich doch gefragt, warum ich hierhergekommen bin, obwohl ich eigentlich zu Hause bleiben sollte«, erklärte Clary. »Meine Mutter ist krank. Ernsthaft krank. Möglicherweise wird sie sterben. Das Einzige, was ihr helfen könnte, der einzige Mensch, der ihr helfen könnte, ist ein Hexenmeister namens Ragnor Fell. Das Problem ist nur, ich habe nicht die geringste Ahnung, wo ich ihn finden kann.«

»Clary …«

Doch Clary drehte sich wieder um und ging weiter auf das Haus zu. »Gute Nacht, Sebastian«, rief sie über ihre Schulter hinweg.

 

Das Erklimmen des Spaliergitters erwies sich als deutlich schwieriger als das Hinabklettern. Clarys Stiefel rutschten an der feuchten Steinmauer mehrmals ab und sie war sehr erleichtert, als sie sich endlich über das Fenstersims hieven konnte und mit einer Mischung aus Sprung und Sturz im Zimmer landete.

Ihre Hochstimmung hielt jedoch nicht lange an: Kaum hatte ihr Fuß den Boden berührt, flackerte eine grelle Lampe auf und der Raum wurde in taghelles Licht getaucht.

Amatis saß auf der Bettkante, mit kerzengeradem Rücken und einem Elbenlichtstein in der Hand, dessen harsches Licht die harten Flächen ihres Gesichts und die tiefen Furchen in ihren Mundwinkeln noch deutlicher hervortreten ließen. Ein paar lange Augenblicke starrte sie Clary schweigend an, ehe sie sich schließlich räusperte und meinte: »In diesen Sachen siehst du aus wie Jocelyn.«

Hastig rappelte Clary sich auf. »Ich … tut mir leid … dass ich mich auf diese Weise verdrückt habe …«, murmelte sie.

Amatis schloss die Hand um den Elbenstein, dessen Licht daraufhin erlosch.

Clary blinzelte im plötzlichen Halbdunkel. »Zieh dir ein paar andere Sachen an und komm dann runter in die Küche«, sagte Amatis. »Und komm ja nicht auf die Idee, dich noch einmal aus dem Fenster zu stehlen. Denn sonst könnte es sein, dass du das Haus bei deiner nächsten Rückkehr verschlossen vorfindest.« 

Clary schluckte und nickte dann.

Langsam stand Amatis auf und verließ den Raum ohne ein weiteres Wort. Sofort sprang Clary aus der Schattenjägermontur und zog ihre eigenen Sachen an, die nun trocken über der Stange am Fußende des Betts hingen: Ihre Jeans fühlte sich zwar noch ein wenig steif an, aber es war schön, wieder eigene Kleidung tragen zu können. Nachdem sie ihr T-Shirt übergestreift hatte, schüttelte sie kurz die Haare aus und stieg danach die Treppe hinunter.

Das Erdgeschoss von Amatis’ Haus kannte sie nur im Fieberwahn: Sie erinnerte sich an scheinbar endlos lange Flure und eine riesige Standuhr, deren Ticken wie die Schläge eines im Sterben liegenden Herzens geklungen hatten. Doch jetzt fand sie sich in einem kleinen, behaglichen Wohnraum wieder, mit schlichtem Holzmobiliar und einem Flickenteppich auf dem Boden. Die überschaubare Größe und die hellen Farben erinnerten sie ein wenig an ihr eigenes Wohnzimmer in ihrem Haus in Brooklyn. Schweigend durchquerte Clary den Raum und betrat die Küche, in der ein knisterndes Holzfeuer im Kamin brannte und warmes gelbes Licht im Raum verteilte. Amatis saß am Küchentisch. Sie hatte ein blaues Umhängetuch um die Schultern gewickelt, das ihre Haare noch grauer erscheinen ließ.

»Hallo.« Clary blieb zögernd im Türrahmen stehen; sie konnte nicht abschätzen, ob Amatis immer noch verärgert war.

»Ich brauche dich wohl kaum zu fragen, wohin du gegangen bist«, sagte Amatis, ohne vom Tisch aufzuschauen. »Du hast Jonathan aufgesucht, stimmt’s? Vermutlich hätte ich nichts anderes erwarten dürfen. Wenn ich eigene Kinder hätte, wäre ich vielleicht in der Lage gewesen zu erkennen, wenn man mich belügt. Aber ich hatte so sehr gehofft, dass ich zumindest dieses Mal meinen Bruder nicht enttäuschen würde.« 

»Luke enttäuschen?«

»Weißt du, was geschehen ist, als er gebissen wurde?« Amatis starrte noch immer unverwandt geradeaus. »Als Lucian von einem Werwolf gebissen wurde … und das musste natürlich passieren, es war nur eine Frage der Zeit, weil Valentin immer die dümmsten Risiken eingegangen ist und sich und seine Anhänger in unnötige Gefahr gebracht hat… als mein Bruder gebissen worden war, ist er zu mir gekommen und hat mir erzählt, was passiert war und wie sehr er sich davor fürchtete, sich mit Lykanthropie infiziert zu haben. Und ich habe ihm geantwortet … ich habe gesagt…« 

»Amatis, du brauchst mir das nicht zu erzählen …«

»Ich habe ihm gesagt, er solle mein Haus verlassen und nicht eher zurückkehren, ehe er nicht genau wisse, dass er sich nicht angesteckt habe. Ich bin vor ihm zurückgewichen … ich konnte einfach nichts dagegen machen.« Ihre Stimme zitterte. »Er konnte sehen, wie angewidert ich war - es stand in meinem Gesicht. Lucian sagte, falls er sich die Krankheit zugezogen hätte, falls er sich in einen Werwolf verwandeln würde, müsste er damit rechnen, dass Valentin ihn auffordern würde, sich selbst das Leben zu nehmen. Und daraufhin habe ich gesagt … daraufhin habe ich gesagt, dass das vielleicht auch das Beste wäre.«

Unwillkürlich sog Clary scharf die Luft ein.

Amatis schaute rasch zu ihr auf. In ihren Augen war eine tiefe Abscheu gegen sich selbst zu erkennen. »Luke war immer ein grundguter Mensch gewesen, ganz gleich, wozu Valentin ihn auch überreden wollte. Manchmal habe ich gedacht, dass er und Jocelyn die einzig wirklich guten Menschen waren, die ich überhaupt kannte - und ich konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ausgerechnet er sich in irgendein Monster verwandeln würde …« 

»Aber so ist er doch gar nicht. Er ist kein Monster.«

»Das habe ich damals nicht gewusst. Nach seiner Verwandlung, nachdem er aus Alicante geflohen war, hat Jocelyn unermüdlich auf mich eingeredet, um mich davon zu überzeugen, dass er immer noch derselbe Mensch war, dass er immer noch mein Bruder war. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich niemals zugestimmt, ihn noch einmal zu treffen. Ich habe ihn hier übernachten lassen, als er vor dem Aufstand in die Stadt kam, hab ihn im Keller versteckt. Aber ich konnte sehen, dass er mir nicht hundertprozentig vertraute - nicht, nachdem ich mich derart von ihm abgekehrt hatte. Und ich glaube, er traut mir noch immer nicht.«

»Er vertraut dir immerhin so weit, dass er sich an dich gewandt hat, als ich krank war«, widersprach Clary. »Und er vertraut dir so sehr, dass er mich hier bei dir gelassen hat…«

»Er hatte ja auch niemand anderen, an den er sich wenden konnte«, sagte Amatis. »Und nun sieh dir mal an, wie gut ich auf dich aufgepasst habe. Nicht mal einen einzigen Tag habe ich dich im Haus halten können.«

Clary zuckte zusammen. Diese Selbstvorwürfe waren viel schlimmer als jede Strafpredigt. »Aber das ist doch nicht deine Schuld! Ich habe dich belogen und mich aus dem Haus geschlichen. Es gab nichts, was du dagegen hättest tun können.« 

»Ach, Clary«, sagte Amatis. »Begreifst du es denn nicht? Es besteht immer die Möglichkeit, etwas zu tun. Aber Menschen wie ich reden sich gern ein, dass es anders wäre. Ich habe mir selbst weisgemacht, dass es nichts gäbe, was ich wegen Luke unternehmen könnte. Ich habe mir eingeredet, dass ich nichts daran ändern könnte, als Stephen mich verlassen hat. Und ich lehne es sogar ab, an den Versammlungen des Rats teilzunehmen, weil ich mir einrede, dass ich keinerlei Einfluss auf seine Entscheidungen hätte, auch wenn ich diese aus tiefstem Herzen ablehne. Aber wenn ich dann doch einmal beschließe, etwas zu unternehmen … na ja, du siehst es ja selbst: Nicht einmal das bekomme ich richtig hin.« Im Schein des Kaminfeuers funkelten ihre Augen hart und strahlend. »Geh ins Bett, Clary«, beendete sie ihren Monolog. »Und von nun an kannst du kommen und gehen, wann du willst. Ich werde dich nicht daran hindern. Schließlich ist es so, wie du gesagt hast: Es gibt nichts, was ich dagegen tun könnte.«

»Amatis …«

»Nein, lass mich.« Amatis schüttelte den Kopf. »Geh einfach ins Bett. Bitte.« In ihrer Stimme lag etwas Endgültiges. Sie wandte sich ab, als hätte Clary die Küche bereits verlassen, und starrte gegen die Wand.

Clary machte auf dem Absatz kehrt und rannte die Treppe hinauf. Frustriert warf sie die Tür des Gästezimmers hinter sich ins Schloss und ließ sich auf das Bett fallen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, vor Selbstmitleid sofort zu weinen, doch die Tränen wollten nicht fließen. Jace hasst mich, dachte sie. Amatis hasst mich. Ich hab mich nicht von Simon verabschieden können. Meine Mutter liegt im Sterben. Und Luke hat mich im Stich gelassen. Ich bin allein. In meinem ganzen Leben war ich noch nie so einsam, und das ist alles meine eigene Schuld. Vielleicht war das der Grund, warum sie nicht weinen konnte, erkannte sie allmählich, während sie mit geröteten, aber trockenen Augen an die Decke starrte. Denn welchen Sinn hatte es zu weinen, wenn es niemanden gab, der einen trösten konnte? Schlimmer noch: Wenn man sich nicht einmal selbst trösten konnte? 

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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