7

WO ENGEL NICHT 

AUFZUTRETEN WAGEN

 

Der Klang einer Stimme ließ Simon aus einem wirren Traum mit spritzendem Blut und gleißendem Sonnenlicht hochschrecken - eine Stimme, die seinen Namen rief.

»Simon«, zischte die Stimme. »Simon, wach auf!« 

Im Bruchteil einer Sekunde war Simon auf den Beinen - manchmal überraschte es ihn selbst, wie schnell er sich inzwischen bewegen konnte. Suchend sah er sich in der Dunkelheit der Zelle um. »Samuel?«, flüsterte er und starrte in das Dunkel. »Samuel, bist du das?«

»Dreh dich um, Simon.« In der entfernt vertrauten Stimme schwang nun eine leicht gereizte Note mit. »Und komm zum Fenster.«

In dem Moment wusste Simon, wer ihn da rief. Er spähte durch das Gitter. Auf dem Rasen vor dem Fenster kniete Jace, ein Elbenlicht in der Hand, und musterte ihn mit angespanntem Blick.

»Was ist? Hast du gedacht, du hättest einen Albtraum gehabt?«, fragte er mürrisch.

»Vielleicht ist er ja noch nicht vorbei und ich befinde mich noch mittendrin«, konterte Simon. Er hörte ein Rauschen in den Ohren - wenn er noch einen Herzschlag gehabt hätte, hätte er angenommen, es wäre Blut, das durch seine Adern strömte. Doch es musste sich um etwas anderes handeln, etwas, das weniger körperlich, aber dafür elementarer als Blut war. 

Der Elbenstein warf ein bizarres Muster aus Licht und Schatten auf Jace’ blasses Gesicht. »Also hier haben sie dich hineingesteckt. Ich hätte nicht gedacht, dass diese Zellen überhaupt noch genutzt werden.« Er warf einen Blick auf die Nachbarzelle. »Ich hab mich zuerst im Fenster geirrt … und deinem Freund nebenan wohl einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Übrigens ein echt attraktiver Zeitgenosse, mit dem Bart und den Lumpen … erinnert mich irgendwie an die Obdachlosen in New York.«

Plötzlich erkannte Simon, worum es sich bei dem Rauschen in seinen Ohren handelte: Wut, rasende Wut. Tief in seinem Inneren registrierte er, dass er die Zähne bleckte und wie die Spitzen seiner Fangzähne über seine Unterlippe streiften. »Freut mich, dass du das alles hier so amüsant findest«, stieß er hervor.

»Dann bist du etwa nicht froh, mich zu sehen?«, fragte Jace. »Ich muss sagen, das überrascht mich jetzt aber doch. Man hat mir immer versichert, meine Anwesenheit würde jeden Raum erhellen. Und man sollte doch annehmen, dass dies für feuchte, unterirdische Verliese erst recht gilt.« 

»Du hast gewusst, was passieren würde, oder etwa nicht? >Sie werden dich direkt nach New York zurückschickem, hast du gesagt. Überhaupt kein Problem. Aber der Rat hatte nie die Absicht, mich gehen zu lassen.«

»Das habe ich nicht gewusst.« Jace’ Blick traf den von Simon - er schaute ihn ruhig und fest an. »Ich weiß, dass du mir das nicht glaubst, aber ich dachte wirklich, man wolle dich zurückschicken.« 

»Entweder lügst du oder du bist unglaublich naiv …«

»Dann bin ich eben naiv.«

»… oder beides«, beendete Simon seinen Satz. »Ich tippe ja auf Letzteres.«

»Ich habe keinen Grund, dich anzulügen. Jedenfalls nicht im Moment.« Jace musterte ihn weiterhin ruhig. »Und hör endlich auf, die Zähne zu fletschen. Das macht mich ganz nervös.«

»Gut so«, sagte Simon. »Falls du wissen willst, warum meine Fangzähne zum Vorschein gekommen sind, kann ich dir das gern verraten: Du riechst nach Blut.«

»Das ist mein Bau de Cologne. Eau de Frische Wunden.« Jace hob seine linke, vollständig in Bandagen gewickelte Hand - ein weißer Handschuh mit roten Flecken an den Knöcheln, wo Blut hindurchgesickert war. 

Simon runzelte die Stirn. »Ich dachte, Typen wie du würden keine Verletzungen davontragen. Jedenfalls keine von langer Dauer.«

»Ich habe mit der Hand ein Fenster zerschlagen«, erklärte Jace, »und Alec zwingt mich, wie ein Irdischer zu heilen, um mir eine Lektion zu erteilen. Da hast du’s: Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Und, bist du jetzt beeindruckt?«

»Nein«, erwiderte Simon. »Ich habe größere Probleme als du. Der Inquisitor stellt mir dauernd Fragen, die ich nicht beantworten kann. Er wirft mir vor, ich hätte meine Fähigkeiten als Tageslichtler von Valentin erhalten. Und dass ich für ihn spionieren würde.« 

Ein beunruhigter Ausdruck huschte über Jace’ Gesicht. »Das hat Aldertree gesagt?«

»Aldertree hat durchblicken lassen, der gesamte Rat würde das denken.«

» »Das ist schlecht. Wenn der Rat nämlich zu dem Schluss kommt, dass du ein Spion bist, dann gelten die im Abkommen vereinbarten Regeln für dich nicht. Jedenfalls nicht, solange sie davon ausgehen, dass du das Gesetz gebrochen hast.« Jace sah sich rasch um, ehe er sich Simon wieder zuwandte. »Wir sollten besser zusehen, dass wir dich hier rausholen.«

»Und was passiert dann?« Simon konnte kaum glauben, dass er diese Frage stellte. Er wünschte sich so sehr, aus dieser Zelle herauszukommen, dass er es fast körperlich spürte, und dennoch konnte er sich nicht zurückhalten. »Wo willst du mich dann verstecken?«

»Hier in der Garnison gibt es ein Portal. Wenn wir es finden, könnte ich dich zurückschicken …«

»Und dann weiß jeder, dass du mir geholfen hast. Jace, ich bin nicht der Einzige, hinter dem der Rat her ist. Im Grunde bezweifle ich sogar, dass er sich für einen Schattenweltler mehr oder weniger überhaupt interessiert. Die Ratsmitglieder versuchen vielmehr, Beweise gegen deine Familie zu sammeln. Sie wollen beweisen, dass die Lightwoods irgendwie mit Valentin unter einer Decke stecken. Dass sie den Kreis nie wirklich verlassen haben.«

Selbst in der Dunkelheit konnte Simon erkennen, wie sich Jace’ Wangen vor Wut röteten. »Aber das ist doch lächerlich. Sie haben gegen Valentin gekämpft… auf dem Schiff… Robert wäre fast gestorben …«

»Der Inquisitor zieht es vor zu glauben, dass die Lightwoods das Leben der anderen Nephilim auf dem Schiff geopfert haben, um die Illusion zu wahren, sie wären gegen Valentin. Aber sie haben nun mal das Engelsschwert verloren und das ist das Einzige, wofür Aldertree sich interessiert. Du hast doch noch versucht, den Rat zu warnen, aber das hat die Mitglieder nicht interessiert. Und jetzt sucht der Inquisitor nach einem Sündenbock, jemandem, dem er die Schuld in die Schuhe schieben kann. Wenn es ihm gelingt, deine Familie als Verräter abzustempeln, dann wird niemand dem Rat einen Vorwurf machen für das, was geschehen ist. Und der Inquisitor kann schalten und walten, wie er will - und zwar ohne jeden Widerspruch.«

Jace fuhr sich über das Gesicht und spielte nachdenklich an seinen Haaren. »Aber ich kann dich doch nicht einfach hierlassen. Wenn Clary das herausfindet…«

»Ich hätte wissen müssen, dass es dir nur darum geht.« Simon lachte freudlos. »Na, dann erzähl ihr doch einfach nicht davon. Sie ist ja sowieso in New York, dank dem Her…« Simon verstummte - er konnte das Wort einfach nicht über die Lippen bringen. »Du hast recht gehabt«, sagte er stattdessen. »Ich bin froh, dass Clary nicht hier ist.«

Jace hob den Kopf. »Wie bitte?«

»Der Rat ist vollkommen durchgeknallt. Wer weiß, was er mit ihr anstellen würde, wenn herauskäme, wozu sie fähig ist. Du hast recht gehabt«, wiederholte Simon. Als Jace nicht reagierte, fügte er hinzu: »Und von mir aus kannst du deinen Triumph ruhig genießen. Denn wahrscheinlich wirst du so was nie wieder von mir zu hören bekommen.«

Jace starrte ihn mit ausdrucksloser Miene an und Simon fühlte sich auf unangenehme Weise an den Moment erinnert, als Jace auf dem Metallboden von Valentins Schiff gelegen hatte, blutverschmiert und dem Tod nahe. Schließlich fing Jace sich wieder. »Dann willst du mir also wirklich sagen, dass du hierbleiben möchtest? In diesem Gefängnis? Und wie lange?«

»Bis wir eine bessere Idee haben«, erklärte Simon. »Aber da ist noch etwas anderes.«Jace zog die Augenbrauen hoch. »Und das wäre?« 

»Blut«, sagte Simon. »Der Inquisitor versucht, mich auszuhungern, damit ich rede. Und ich fühle mich schon jetzt ziemlich geschwächt. Morgen wird es mir noch … na ja, ich weiß nicht, wie es mir morgen gehen wird. Aber ich will mich nicht geschlagen geben. Und ich will auch nicht noch mal dein Blut trinken oder das von irgendjemand anderem«, fügte er hastig hinzu, ehe Jace ihm dieses Angebot machen konnte. »Tierblut wäre prima.«

»Das kann ich dir besorgen«, sagte Jace. Doch dann fragte er zögernd: »Hast du … hast du dem Inquisitor erzählt, dass ich dich von meinem Blut habe trinken lassen? Dass ich dir das Leben gerettet habe?«

Simon schüttelte den Kopf.

In Jace Augen spiegelte sich das Licht des Elbensteins. »Und warum nicht?«

»Ich schätze, ich wollte dich nicht in noch größere Schwierigkeiten bringen.«

»Hör zu, Vampir«, sagte Jace. »Beschütze von mir aus die Lightwoods. Aber versuch nicht, mich zu schützen.«

Simon hob den Kopf. »Warum nicht?«

»Weil…«, setzte Jace an - und einen Moment lang hatte Simon fast das Gefühl, er selbst befände sich in Freiheit und Jace säße hinter Gittern - »weil ich es nicht verdiene.«

 

Ein dumpfes Geräusch wie von Hagelkörnern auf einem Wellblechdach riss Clary aus dem Schlaf. Sie setzte sich auf und sah sich benommen um. Das Geräusch ertönte erneut - ein lautes Prasseln, das vom Fenster kam. Widerstrebend schlug sie die Decke zurück und stand auf, um nachzusehen.

Als sie das Fenster aufstieß, wehte ein kalter Windstoß ins Zimmer und fuhr schneidend wie ein Messer durch ihren dünnen Schlafanzug. Fröstelnd beugte Clary sich über das Fensterbrett.

Irgendjemand stand unten im Garten und ihr Herz machte einen Sprung, weil sie glaubte, den schlanken, hochgewachsenen Schatten mit den jungenhaften, zerzausten Haaren zu erkennen. Doch dann hob er den Kopf und sie sah, dass er dunkle, nicht blonde Haare hatte. Und zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden wurde ihr bewusst, dass sie auf Jace gehofft hatte, stattdessen nun aber Sebastian bekam.

Sebastian hielt eine Handvoll Kieselsteinchen in der Hand. Als er sah, wie Clary den Kopf aus dem Fenster streckte, lächelte er, deutete dann auf sich und anschließend auf das Rosenspalier. Klettere nach unten. 

Clary schüttelte den Kopf und zeigte zur Vorderseite des Hauses. Komm zur Haustür. Dann schloss sie das Fenster und lief die Treppe hinunter. Der Morgen war bereits angebrochen und die Morgensonne schimmerte schon golden durch die Fenster, während im Haus sämtliche Lichter ausgeschaltet waren und alles vollkommen ruhig war. Amatis schläft wohl noch, überlegte Clary. 

Rasch ging sie zur Haustür, zog den Riegel zur Seite und öffnete sie. Sebastian stand bereits auf der obersten Stufe der Treppe und ein weiteres Mal überkam Clary dieses merkwürdige Gefühl, dass sie ihn von irgendwoher kannte - allerdings schien das Gefühl dieses Mal weniger stark ausgeprägt als bei ihrer ersten Begegnung. Sie schenkte Sebastian ein mattes Lächeln. »Du hast Steinchen gegen mein Fenster geworfen«, sagte sie. »Ich dachte, das würde man nur in Filmen so machen.«

Sebastian grinste. »Hübscher Schlafanzug. Habe ich dich geweckt?«

»Könnte sein.«

»Tut mir leid«, sagte er, obwohl er nicht den Anschein erweckte, als täte es ihm wirklich leid. »Aber diese Geschichte duldet keinen Aufschub. Ich schlage vor, du läufst eben nach oben und ziehst dir was an. Wir werden den ganzen Tag zusammen verbringen.«

»Wow. Du bist ja ganz schön selbstsicher!«, erwiderte Clary, überlegte dann aber, dass Jungen mit solch einem umwerfenden Aussehen wie Sebastian vermutlich keinen Grund hatten, etwas anderes als selbstsicher zu sein. Bedauernd schüttelte sie den Kopf. »Tut mir leid, aber ich kann nicht. Ich sollte besser im Haus bleiben. Jedenfalls heute.«

Zwischen Sebastians Augen erschien eine dünne Sorgenfalte. »Aber du bist doch gestern auch nicht im Haus geblieben.«

»Ich weiß, aber das war, bevor …« Bevor Amatis mich zur Schnecke gemacht hat. »Ich kann einfach nicht. Und bitte versuch nicht, mich davon abzubringen, okay?« 

»Okay«, sagte Sebastian, »das werde ich nicht versuchen. Aber lass mich dir wenigstens erzählen, warum ich hergekommen bin. Wenn du danach immer noch willst, dass ich gehe, werde ich sofort verschwinden. Versprochen.«

»Also gut, worum geht’s?«

Sebastian hob das Gesicht und Clary fragte sich, wie es möglich war, dass dunkle Augen genau so funkeln konnten wie goldbraune. »Ich weiß, wo du Ragnor Fell finden kannst«, verkündete er.

 

Clary benötigte weniger als zehn Minuten, um nach oben zu stürmen, in ihre Sachen zu schlüpfen, eine hastig niedergeschriebene Nachricht für Amatis zu hinterlassen und zu Sebastian zurückzukehren, der am Ufer des Kanals auf sie wartete. Als sie atemlos auf ihn zugerannt kam, das grüne Cape eilig über den Arm geworfen, musste er grinsen.

»So, da bin ich«, rief Clary. »Können wir jetzt aufbrechen?«

Doch Sebastian bestand darauf, ihr erst einmal das Cape umzulegen. »Ich glaube nicht, dass mir schon jemals irgendjemand in den Mantel geholfen hat«, bemerkte Clary und zog ihre Haare hervor, die unter dem Kragen eingeklemmt waren. »Abgesehen von einem Kellner vielleicht. Warst du früher mal Kellner?«

»Nein, aber ich wurde von einer französischen Tante erzogen«, half Sebastian Clarys Gedächtnis auf die Sprünge. »Und dazu gehörte ein äußerst strenges Trainingsprogramm.«

Trotz ihrer Nervosität musste Clary lächeln. Sebastian gelang es ziemlich gut, sie zum Lächeln zu bringen, stellte sie leicht überrascht fest. Fast schon zu gut. »Wo wollen wir hin?«, fragte sie unvermittelt. »Liegt Fells Haus hier in der Nähe?« 

»Nein, er wohnt außerhalb der Stadt«, erklärte Sebastian und setzte sich so abrupt in Bewegung, dass Clary sich beeilen musste, um mit ihm Schritt zu halten.

»Ist es weit bis dorthin?«, fragte sie, während sie die Brücke überquerten.

»Zu weit zum Laufen. Wir werden uns bringen lassen.«

»Bringen lassen? Von wem?« Abrupt hielt Clary inne. »Sebastian, wir müssen vorsichtig sein. Wir dürfen niemandem anvertrauen, was wir vorhaben … was ich vorhabe. Es ist ein Geheimnis.« 

Sebastian betrachtete sie aus nachdenklichen dunklen Augen. »Ich schwöre beim Erzengel Raziel, dass der Freund, der uns zu Fell bringen wird, niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen verraten wird.«

»Bist du sicher?«

»Ich bin mir absolut sicher.« 

Ragnor Fell, dachte Clary, während sie sich einen Weg durch die belebten Straßen bahnten. Ich werde Ragnor Fell sehen. Fieberhafte Aufregung paarte sich mit beklommener Nervosität - Madeleine hatte den Hexenmeister als äußerst schwierig beschrieben. Was wäre, wenn er kein Interesse hatte, sie zu empfangen, keine Zeit? Oder wenn es ihr nicht gelang, ihn davon zu überzeugen, dass sie wirklich die Person war, die man ihm angekündigt hatte? Oder wenn er sich nicht einmal mehr an ihre Mutter erinnerte? 

Und die Tatsache, dass sie bei jedem blonden Mann und jedem Mädchen mit langen dunklen Haaren, die ihnen auf der Straße begegneten, innerlich zusammenzuckte, trug auch nicht gerade zur Beruhigung von Clarys Nerven bei - denn jedes Mal glaubte sie Jace oder Isabelle zu sehen. Aber Isabelle würde sie wahrscheinlich einfach ignorieren, überlegte sie niedergeschlagen, und Jace war zweifellos noch bei den Penhallows und knutschte mit seiner neuen Freundin herum. 

»Machst du dir Sorgen, dass uns jemand folgen könnte?«, fragte Sebastian, als sie in eine Seitenstraße einbogen, die vom Stadtzentrum fortführte. »Du drehst dich dauernd um.«

»Ich bilde mir ständig ein, ich würde jemanden sehen, den ich kenne«, räumte Clary ein. »Jace oder die Lightwoods.«

»Ich glaube nicht, dass Jace das Haus der Penhallows seit seiner Ankunft auch nur einmal verlassen hat. Meistens drückt er sich in seinem Zimmer herum. Außerdem hat er sich gestern übel an der Hand verletzt…«

»An der Hand verletzt? Wie ist das denn passiert?«, fragte Clary und stolperte über einen Stein, da sie überhaupt nicht mehr auf den Weg geachtet hatte. Irgendwie hatte sich die Straße unbemerkt von Kopfsteinpflaster in einen Kiesweg verwandelt. »Autsch«, stieß sie hervor.

»Wir sind da«, verkündete Sebastian und blieb vor einem hohen Lattenzaun stehen. Weit und breit war kein Haus zu sehen - Clary und Sebastian hatten das Wohngebiet relativ abrupt hinter sich gelassen. Auf der einen Straßenseite ragte lediglich ein Lattenzaun auf und auf der anderen Seite stieg das Gelände langsam zu einem Waldstück an.

In der Mitte des Zauns befand sich ein Tor, das jedoch mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Sebastian holte einen schweren Stahlschlüssel aus seiner Tasche und öffnete das Schloss. »Ich bin gleich wieder zurück, mit unserem Freund«, sagte er und warf das Tor hinter sich zu. Clary presste ein Auge gegen den Zaun und spähte zwischen den Latten hindurch: Auf der anderen Seite stand eine Art niedriges Fachwerkhaus, das aber weder eine Tür noch ein Fenster hatte … 

Im nächsten Moment öffnete sich das Tor und Sebastian erschien, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. In der Hand hielt er einen Zügel und hinter ihm kam ein riesiges grau-weiß geschecktes Pferd mit einer sternförmigen Blesse auf der Stirn zum Vorschein, das ihm sanftmütig folgte.

»Ein Pferd? Du hast ein Pferd?« Verwundert starrte Clary ihn an. »Wieso hast du ein Pferd?« 

Sebastian streichelte dem Tier liebevoll über das Schulterblatt. »Eine ganze Reihe von Schattenjägerfamilien besitzen Pferde, die hier in den Stallungen am Rand von Alicante untergebracht sind. Wie dir ja sicher schon aufgefallen ist, gibt es in Idris keine Autos. Die starken Schutzwälle beeinträchtigen irgendwie die Motoren«, erklärte er und tätschelte den hellen Ledersattel, auf dem ein Wappen prangte - eine Wasserschlange, die in einer gewundenen Spirale aus einem See aufstieg. Darunter stand der Name Verlac in feinen Lettern geschrieben. »Okay. Steig auf!« 

Clary wich zurück. »Ich bin noch nie geritten.«

»Ich werde Wayfarer reiten«, versicherte Sebastian ihr. »Du brauchst nichts anderes zu tun, als einfach nur vor mir zu sitzen.« 

Das Pferd schnaubte leise. £5 hat riesige Zähne…fast so groß wie PEZ-Bonbonspender, stellte Clary beunruhigt fest und malte sich aus, wie diese Hauer sich in ihr Bein gruben. Beim Gedanken an ihre früheren Klassenkameradinnen, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatten als ein eigenes Pony, fragte Clary sich, ob sie allesamt verrückt gewesen waren. 

Sei tapfer, ermahnte sie sich. Dos ist genau das, was deine Mutter jetzt tun würde. 

Entschlossen holte sie tief Luft. »Also gut, dann mal los.«

 

Clarys Entschluss, tapfer zu sein, hielt exakt bis zu dem Augenblick, als Sebastian ihr in den Sattel half, sich hinter ihr auf das Pferd schwang und ihm die Sporen gab. Wayfarer preschte los wie eine Kanonenkugel und galoppierte mit solch einer Kraft über den Kiesweg, dass Clary die Wucht der Hufschläge bis ins Rückenmark spürte. Verbissen klammerte sie sich an den Sattelknauf, der vor ihr aufragte, und grub die Nägel tief in das Leder.

Als sie die Stadt hinter sich ließen, verengte sich die Straße zu einem schmalen Pfad mit dichten Bäumen auf beiden Seiten, die wie eine grüne Mauer aufragten und jede Sicht in die Ferne versperrten. Sebastian zügelte Wayfarer, der daraufhin seinen wilden Galopp beendete und ein gemäßigteres Tempo anschlug, wodurch sich auch Clarys Herzschlag allmählich beruhigte. Als die Panik langsam abebbte, wurde sie sich Sebastians Gegenwart hinter ihr immer stärker bewusst: Er hielt die Zügel links und rechts von ihr und schuf damit eine Art Käfig um sie herum, der dafür sorgte, dass sie nicht das Gefühl bekam, jeden Moment vom Pferd hinunterzurutschen. Plötzlich spürte sie seine Anwesenheit sehr deutlich - nicht nur die starken, muskulösen Arme, die sie hielten, sondern auch seine Brust, gegen die sie lehnte, und seinen Geruch, der aus irgendeinem Grund an schwarzen Pfeffer erinnerte. Allerdings nicht auf unangenehme Weise, vielmehr würzig und aromatisch - ganz anders als Jace’ Duft nach Seife und Sonne. Wobei Sonnenstrahlen natürlich keinen Geruch hatten, aber wenn sie einen besäßen …

Clary biss die Zähne zusammen: Sie befand sich hier mit Sebastian auf dem Weg zu einem mächtigen Hexenmeister, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Jace und zu seinem Geruch ab. Resolut zwang sie sich, stattdessen die Gegend in Augenschein zu nehmen: Die grünen Baumreihen dünnten allmählich aus und dahinter entdeckte sie auf beiden Seiten des Wegs eine marmorierte, atemberaubend schöne Landschaft - ein grüner Flickenteppich, durchbrochen von grauen Feldstraßen und schwarzen Felsspitzen, die aus den Wiesenflächen aufragten. Dazwischen wuchsen runde Büschel feiner weißer Blüten, die Clary bereits auf dem Weg nach Alicante in der Nekropolis gesehen hatte und die wie kleine Schneekuppen die Hügel bedeckten.

»Wie hast du herausgefunden, wo Ragnor Fell wohnt?«, fragte Clary, während Sebastian das Pferd geschickt um ein Schlagloch in der Straße herumführte.

»Über meine Tante Elodie. Sie verfügt über ein erstaunliches Netzwerk an Informanten und ist über alles, was in Idris geschieht, bestens informiert - auch wenn sie selbst nie hierherkommt. Sie verlässt das Institut nur äußerst ungern.«

»Und was ist mit dir? Kommst du häufig nach Idris?«

»Nein, eigentlich nicht. Bei meinem letzten Besuch war ich fünf Jahre alt. Und da ich meine Tante und meinen Onkel in der Zwischenzeit nicht gesehen habe, bin ich froh, jetzt wieder hier zu sein. Das gibt mir die Gelegenheit, mir die ganzen Familiengeschichten erzählen zu lassen, die sich inzwischen ereignet haben. Außerdem vermisse ich Idris, wenn ich nicht hier bin. Kein Land der Welt kann sich damit vergleichen. Die Erde hier hat irgendetwas Besonderes an sich. Nach einer Weile beginnt man es zu spüren, und wenn man dann fort ist, vermisst man dieses Gefühl.«

»Ich weiß, dass Jace Idris vermisst hat«, sagte Clary. »Aber ich dachte, das läge daran, dass er lange in diesem Land gelebt hat. Er ist hier aufgewachsen.«

»Auf dem Herrensitz der Waylands«, bestätigte Sebastian. »Übrigens gar nicht weit von dem Ort entfernt, wohin wir reiten.«

»Du scheinst einfach alles zu wissen.«

»Nein, nicht alles«, erwiderte Sebastian mit einem leisen Lachen, das Clary durch ihren Rücken spürte. »Jaja, Idris übt seinen Zauber auf jeden aus - sogar auf diejenigen, die wie Jace allen Grund haben, das Land zu hassen.« 

»Warum sagst du so was?«

»Na ja, er wurde doch von Valentin erzogen, oder etwa nicht? Und das muss ziemlich übel gewesen sein.«

»Ich weiß nicht recht«, entgegnete Clary zögernd. »Tatsache ist, dass er mit gemischten Gefühlen an die Zeit in Idris zurückdenkt. Ich glaube schon, dass Valentin ein schrecklicher Vater gewesen ist, aber andererseits sind die wenigen Anzeichen von Zuneigung, die er Jace gegenüber gezeigt hat, auch die einzige Form der Liebe, die Jace je kennengelernt hat.« Beim Gedanken daran wurde Clary von einer Woge der Trauer erfasst. »Ich glaube, dass er sich mit großer Zuneigung an Valentin erinnert hat… für einen ziemlich langen Zeitraum zumindest.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Valentin Jace gegenüber jemals Zuneigung oder Liebe gezeigt hat. Valentin ist ein Monster.«

»Das mag sein, aber Jace ist sein Sohn. Und damals war er noch ein kleiner Junge. Ich glaube schon, dass Valentin ihn geliebt hat, auf seine eigene Art und Weise …«

»Nein.« Sebastians Stimme klang scharf und angespannt. »Ich fürchte, das ist vollkommen unmöglich.«

Clary blinzelte verwirrt und hätte sich fast zu Sebastian umgedreht, um sein Gesicht zu sehen, besann sich dann aber eines Besseren. Wenn es um Valentin ging, reagierten alle Schattenjäger irgendwie verrückt - mit Schaudern erinnerte sie sich an die Inquisitorin. Und sie konnte ihnen deswegen wohl kaum einen Vorwurf machen. »Wahrscheinlich hast du recht«, räumte sie ein.

»Wir sind da«, sagte Sebastian abrupt - so abrupt, dass Clary sich fragte, ob sie ihn vielleicht irgendwie gekränkt hatte - und sprang vom Pferd. Als er jedoch zu ihr aufschaute, lächelte er wieder. »Wir sind erstaunlich schnell vorwärtsgekommen«, fügte er hinzu und band die Zügel um den unteren Ast eines nahe stehenden Baums. »Viel schneller, als ich gedacht hätte.«

Mit einer ausladenden Handbewegung forderte er Clary auf abzusteigen, woraufhin sie sich nach kurzem Zögern aus dem Sattel und in seine Arme gleiten ließ. Als er sie auffing, hielt sie sich an ihm fest, da ihre Knie nach dem langen Ritt noch etwas wacklig waren, »’tschuldigung«, murmelte sie verlegen. »Ich wollte mich nicht an dir festklammern.«

»Dafür brauchst du dich doch nicht zu entschuldigen.« Warm streifte sein Atem über ihren Hals und ein Schaudern ging durch ihren Körper. Seine Hände verweilten einen Moment länger als nötig auf ihrem Rücken, ehe er sie widerstrebend freigab.

Diese Gesten trugen nicht unbedingt dazu bei, dass Clary sich wiedersicherer auf den Beinen fühlte. »Danke«, sagte sie, wobei ihr bewusst wurde, dass sie rot anlief, und sie sich inständig wünschte, ihre helle Haut würde ihr Erröten nicht so schnell verraten. »So, das ist also Fells Wohnort?« Erstaunt sah sie sich um. Sie befanden sich in einem kleinen Tal zwischen niedrigen Hügeln. Um eine Lichtung herum standen mehrere knorrige Bäume - vor dem stahlblauen Himmel strahlten ihre krummen Äste eine skulpturale Schönheit aus. Doch ansonsten war nichts zu sehen. »Hier ist doch gar nichts«, stellte Clary stirnrunzelnd fest.

»Clary. Konzentrier dich.« 

»Du meinst, es liegt ein Zauberglanz über dem Gelände? Aber normalerweise brauche ich mich doch nicht anzustrengen …«

»Zauberglanz in Idris ist häufig stärker als an anderen Orten. Möglicherweise musst du dir mehr Mühe geben als sonst.« Sanft legte er ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie behutsam. »Sieh dir mal die Lichtung genauer an.«

Schweigend vollzog Clary die geistige Übung, die es ihr erlaubte, den falschen Glanz von dem verborgenen Objekt zu entfernen: Sie entspannte sich und stellte sich vor, wie sie einen Terpentinlappen nahm und eine Leinwand abtupfte, um damit den Zauberglanz wegzuwischen wie alte Farbe von einem Gemälde. Und da war er, der wirkliche Anblick: ein kleines Steinhaus mit einem steilen Giebeldach, aus dessen Schornstein elegante Rauchkringel aufstiegen. Ein gewundener Pfad mit Steinplatten führte zur Eingangstür. Als Clary genauer hinschaute, sandte der Kamin plötzlich keine bauschigen Rauchwolken mehr gen Himmel - stattdessen nahm der Rauch die Gestalt eines wabernden schwarzen Fragezeichens an. Sebastian lachte. »Ich denke, das bedeutet >Wer da?<« Fröstelnd zog Clary ihren Umhang fester um sich. Obwohl der Wind, der über das kurze Gras strich, gar nicht so frisch war, spürte sie, wie eine Eiseskälte sie bis ins Mark durchdrang. »Das sieht aus wie in einem Märchen«, murmelte sie.

»Ist dir kalt?«, fragte Sebastian und legte einen Arm um sie. Sofort verwandelte sich der fragezeichenförmige Rauch aus dem Kamin in unsymmetrische Herzchen, die stoßweise in den Himmel gesandt wurden. Clary tauchte unter Sebastians Arm hindurch und drehte sich von ihm fort - irgendwie war ihr die Situation peinlich. Außerdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, als hätte sie etwas falsch gemacht. Hastig marschierte sie den Steinpfad hinauf, der zum Haus führte, dicht gefolgt von Sebastian. Sie hatten gerade die Hälfte des Wegs zurückgelegt, als die Eingangstür mit Schwung aufflog.

Obwohl Clary seit dem Moment, in dem Madeleine ihr den Namen des Hexenmeisters verraten hatte, von der Idee besessen gewesen war, Ragnor Fell zu finden, hatte sie sich nicht ein einziges Mal ausgemalt, wie er wohl aussehen mochte - und wenn, dann hätte sie auf einen großen, alten Mann mit Bart getippt. Jemand, der wie ein Wikinger aussah, mit massigen, breiten Schultern. 

Doch die Gestalt, die nun aus der Haustür trat, war hochgewachsen und hager, mit kurzen, stachligen dunklen Haaren. Der Mann trug ein goldenes Netzhemd und eine Pyjamahose aus Seide. Nachdenklich sog er an einer unglaublich großen Pfeife und betrachtete Clary mit freundlichem Interesse. Er war alles andere als ein Wikinger; dafür war er Clary aber bestens vertraut.

Magnus Bane.

»Aber…«, setzte Clary an und schaute verwirrt zu Sebastian, der mindestens so überrascht schien wie sie selbst.

Mit leicht geöffnetem Mund starrte er Magnus an und stammelte schließlich: »Bist du … Ragnor Fell? Der Hexenmeister?«

Magnus nahm die Pfeife aus dem Mund: »Na, ich bin ganz sicher nicht Ragnor Fell, der Stripteasetänzer.«

»Ich …«Sebastian schienen die Worte zu fehlen. Clary wusste nicht, was er erwartet hatte, aber Magnus war ein Anblick, den man erst einmal verdauen musste. »Wir hatten gehofft, du könntest uns helfen. Ich heiße Sebastian Verlac und das hier ist Clarissa Morgenstern - Jocelyn Fairchild ist ihre Mutter…«

»Mir egal, wer ihre Mutter ist«, erwiderte Magnus. »Ihr könnt hier nicht einfach so hereinschneien, ohne jeden Termin. Versucht es später noch mal. Anfang März würde mir passen.«

»März?« Sebastian starrte ihn entsetzt an.

»Du hast recht«, räumte Magnus ein. »Viel zu regnerisch. Wie war’s mit Juni?«

Sebastian richtete sich kerzengerade auf. »Ich habe den Eindruck, du verstehst nicht ganz, wie wichtig diese Angelegenheit ist …«

»Lass nur, Sebastian«, warf Clary empört ein. »Er macht sich nur über dich lustig. Außerdem kann er uns sowieso nicht helfen.«

Sebastian wirkte nun noch verwirrter. »Ich verstehe nicht ganz … Warum kann er uns nicht…«

»Also gut, das reicht jetzt«, sagte Magnus und schnippte einmal mit den Fingern.

Sofort erstarrte Sebastian zur Salzsäule, den Mund noch immer halb geöffnet und die Hand leicht ausgestreckt.

»Sebastian!« Entsetzt berührte Clary ihn am Arm, doch er war so reglos wie eine Statue. Nur seine Brust, die sich langsam hob und senkte, deutete daraufhin, dass er noch lebte. »Sebastian?«, fragte Clary erneut, aber es war zwecklos: Sie wusste instinktiv, dass er sie weder sehen noch hören konnte. Entrüstet wandte sie sich an Magnus: »Wie konntest du das tun? Was zum Teufel ist mit dir los? Hat das Zeug, das du da in deiner Pfeife rauchst, deinen Verstand vollends vernebelt? Sebastian steht auf unserer Seite.« 

»Ich vertrete keine Seite, Clary-Herzchen«, erwiderte Magnus und wedelte abschätzig mit der Pfeife. »Und außerdem ist es deine eigene Schuld, dass ich ihn für einen Moment einfrieren musste. Du warst verdammt nah dran, ihm mitzuteilen, dass ich nicht Ragnor Fell bin.«

»Was wahrscheinlich daran liegt, dass du ja auch nicht Ragnor Fell bist.« 

Magnus blies eine Rauchwolke gegen das Vordach und betrachtete sie nachdenklich durch den blauen Dunst. »Komm mal mit«, sagte er. »Ich will dir was zeigen.« Er hielt die Tür des kleinen Hauses auf und bedeutete ihr, ihm ins Innere zu folgen. Mit einem letzten zweifelnden Blick auf Sebastian setzte Clary sich in Bewegung.

Im Haus brannte keine einzige Lampe und das durch die winzigen Fenster einfallende, schwache Tageslicht reichte gerade aus, dass Clary einen großen Raum mit vielen dunklen Schatten erkennen konnte. In der Luft lag ein seltsamer Geruch, wie von brennendem Müll, der Clary würgen ließ. Magnus schnippte ein weiteres Mal mit den Fingern und sofort erschien ein grelles blaues Licht an seinen Fingerspitzen.

Clary hielt unwillkürlich die Luft an: Der Raum glich einem Schlachtfeld - das Mobiliar war zertrümmert, sämtliche Schubladen standen offen und ihr Inhalt lag über den gesamten Boden verstreut. Aus Büchern herausgerissene Seiten schwebten wie Asche in der Luft. Selbst die Fenster waren eingeschlagen.

»Ich habe letzte Nacht eine Nachricht von Fell erhalten«, erklärte Magnus. »Er bat mich, ihn hier zu treffen. Doch als ich heute hier auftauchte, habe ich dieses Chaos vorgefunden … sämtliche Sachen zerstört und über allem der Gestank von Dämonen.«

»Dämonen? Aber Dämonen können doch gar nicht nach Idris hinein …«

»Ich habe ja auch nicht gesagt, dass sie das getan hätten. Ich erzähle dir nur, was passiert ist«, sagte Magnus ohne Veränderung der Stimmlage. »Das ganze Haus stank nach irgendetwas, das dämonischen Ursprungs ist. Ragnors Leiche lag auf dem Boden. Er hat noch gelebt, als man ihn zurückgelassen hat, doch als ich hier eintraf, war er bereits tot.« Magnus schaute Clary scharf an. »Wer wusste davon, dass du ihn finden wolltest?«

»Madeleine«, wisperte Clary. »Aber sie ist tot. Sebastian, Jace und Simon. Die Lightwoods …«

»Aha«, sagte Magnus, »wenn die Lightwoods davon wussten, kann es gut sein, dass die Ratsmitglieder inzwischen auch informiert sind. Und Valentin hat seine Spitzel im Rat.«

»Ich hätte niemandem davon erzählen dürfen, statt jedermann nach Fell zu fragen«, flüsterte Clary bestürzt. »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte Fell warnen müssen …«

»Darf ich vielleicht kurz darauf hinweisen, dass du Fell nicht finden konntest und dass dies überhaupt erst der Grund dafür war, warum du die Leute nach ihm gefragt hast?«, gab Magnus zu bedenken. »Madeleine und du, ihr beide habt geglaubt, dass Fell jemand ist, der deiner Mutter hätte helfen können. Und nicht jemand, an dem Valentin aus einem anderen Grund interessiert sein könnte. Aber da steckt noch mehr dahinter. Valentin wusste vielleicht nicht, wie man deine Mutter aufwecken kann, aber offenbar hat er gewusst, dass es eine Verbindung zwischen ihrem selbst erwählten Koma und einem Gegenstand gibt, den er unbedingt in seinen Besitz bringen wollte. Ein ganz besonderes Zauberbuch.«

»Woher weißt du das alles?«, fragte Clary.

»Ragnor hat es mir erzählt.«

»Aber…«

Magnus schnitt ihr mit einer Handbewegung das Wort ab. »Hexenmeister besitzen spezielle Kommunikationskanäle. Wir haben unsere eigenen Mittel und Wege, unsere eigenen Sprachen.« Langsam hob er die Hand mit der blauen Flamme. »Lagos.« 

Buchstaben aus tanzenden Flammen, jeweils fünfzehn Zentimetergroß, erschienen an den Wänden, als wären sie mit flüssigem Gold in die Steine geätzt. Die Buchstaben rasten über die Flächen und fügten sich zu Worten, die Clary jedoch nicht lesen konnte. Ratlos wandte sie sich an Magnus. »Was steht da?«

»Ragnor hat diese Nachricht hinterlassen, als er im Sterben lag. Somit konnte er jedem Hexenmeister mitteilen, was geschehen ist.« Als Magnus sich umdrehte, ließ der Schein der brennenden Buchstaben seine Katzenaugen golden aufleuchten. »Er wurde hier von mehreren Schergen Valentins angegriffen. Sie forderten von ihm die Herausgabe des Weißen Buchs. Neben dem Grauen Buch ist es das berühmteste Werk über die Welt des Übernatürlichen, das jemals verfasst wurde. Und es enthält sowohl die Rezeptur für den Schlaftrunk, den Jocelyn genommen hat, als auch die Anleitung für das Gegenmittel.«

Sprachlos riss Clary den Mund auf. »Dann hat das Buch sich also hier in Fells Haus befunden?«, stammelte sie schließlich.

»Nein. Es gehörte deiner Mutter. Ragnor hatte ihr lediglich einen Rat gegeben, wo sie es vor Valentin verstecken sollte.«

»Das bedeutet also …«

»Das bedeutet, dass es sich im Landhaus der Familie Wayland befindet. Die Waylands wohnten nicht weit von Jocelyn und Valentin entfernt; sie waren die nächsten Nachbarn. Ragnor empfahl ihr, das Buch in deren Haus zu verstecken, an einem Ort, wo Valentin niemals danach suchen würde. In der Bibliothek, um genau zu sein.«

»Aber Valentin hat danach doch viele Jahre im Haus der Waylands gelebt«, protestierte Clary. »Wie kann es sein, dass er es innerhalb dieser Zeit nicht gefunden hat?«

»Das Weiße Buch ist in einem anderen Wälzer versteckt… in einem, bei dem das Risiko, dass Valentin es aufschlagen würde, ziemlich gering war.« Magnus grinste breit. »Einfache Rezepte für die junge Hausfrau. Man kann deiner Mutter nun wirklich nicht nachsagen, sie hätte keinen Humor gehabt.« 

»Dann … dann warst du also im Haus der Waylands? Hast du das Buch gefunden?«

Magnus schüttelte den Kopf. »Clary, um den Landsitz herum sind Irrleitungs-Schutzschilde errichtet. Und sie halten nicht nur den Rat auf Abstand, sondern auch alle anderen. Und ganz besonders Schattenweltler. Wenn ich Zeit hätte, mich genauer damit zu beschäftigen, dann könnte ich sie vielleicht knacken, aber…« 

»Dann kann also niemand in das Haus hinein?« Verzweiflung erfasste Clary. »Es ist vollkommen unmöglich?«

»Das habe ich nicht gesagt«, erwiderte Magnus. »Mir fällt da auf Anhieb wenigstens ein Mensch ein, der mit ziemlicher Sicherheit in das Landhaus hineingelangen könnte.«

»Du meinst Valentin?«

»Ich meine Valentins Sohn.«

Clary schüttelte den Kopf. »Jace wird mir nicht helfen, Magnus. Er wollte mich gar nicht hierhaben. Und ehrlich gesagt, bezweifle ich, dass er überhaupt noch mal mit mir redet.«

Magnus betrachtete sie nachdenklich. »Ich glaube nicht, dass es viel gibt, das Jace nicht für dich tun würde, wenn du ihn darum bittest.«

Clary öffnete den Mund und schloss ihn dann wieder. Sie dachte daran, wie gut Magnus bisher Alecs Gefühle für Jace hatte einschätzen können oder Simons Gefühle für sie. Auch das, was sie für Jace empfand, musste in diesem Moment auf ihrem Gesicht zu sehen sein, und Magnus war ein exzellenter Menschenkenner. Verlegen schaute Clary zur Seite. »Mal angenommen, ich kann Jace tatsächlich überreden, mich zum Landsitz zu begleiten und das Buch zu holen - was passiert dann als Nächstes?«, fragte sie. »Ich weiß nicht, wie man zaubert oder ein Gegenmittel braut…« 

Magnus schnaubte. »Hast du etwa geglaubt, ich würde dir diese ganzen Informationen vollkommen umsonst überlassen? Wenn du das Weiße Buch erst einmal in deinen Besitz gebracht hast, erwarte ich, dass du es mir sofort bringst.«

»Das Buch? Du willst das Buch haben?« 

»Das Weiße Buch ist eines der mächtigsten Zauberbücher der Welt. Natürlich möchte ich es haben. Außerdem steht es rechtmäßig Liliths Kindern zu und nicht den Kindern des Erzengels Raziel. Es ist ein Hexenmeisterbuch und gehört wieder in die Hände eines Hexenmeisters.«

»Aber ich brauche es … um meine Mutter zu heilen …« 

»Du brauchst nur eine einzige Seite daraus, die du von mir aus behalten kannst. Der Rest gehört mir. Im Gegenzug dafür werde ich für dich das Gegenmittel brauen und es Jocelyn verabreichen - sobald du mir das Buch gebracht hast. Du kannst nicht behaupten, dass das kein fairer Deal wäre.« Magnus streckte ihr die Hand entgegen. »Schlag ein!«

Nach kurzem Zögern nahm Clary seine Hand. »Wehe, wenn ich das jemals bereuen muss.«

»Das würde ich keinem von uns wünschen«, erwiderte Magnus und drehte sich dann vergnügt zur Haustür um; die Flammenbuchstaben an den Wänden begannen bereits zu erlöschen. »Reue ist solch eine sinnlose Gefühlsregung, findest du nicht auch?«

Nach der Dunkelheit, die in dem kleinen Haus herrschte, erschien Clary das Sonnenlicht vor der Tür besonders strahlend. Einen Moment lang blieb sie stehen und blinzelte, bis sie wieder klar sehen konnte: die Berge in der Ferne, Wayfarer, der friedlich etwas Gras rupfte, und Sebastian, der reglos wie eine Gartenstatue vor sich hin starrte, eine Hand noch immer halb ausgestreckt. Flehentlich wandte Clary sich an Magnus: »Könntest du ihn jetzt bitte wieder freigeben?«

Magnus betrachtete sie amüsiert. »Ich war ziemlich überrascht, als ich Sebastians Nachricht heute Morgen erhielt, worin stand, er wolle dir einen Gefallen tun. Wie hast du ihn überhaupt kennengelernt?«, fragte er interessiert. 

»Er ist der Cousin von Bekannten der Lightwoods oder so ähnlich. Sebastian ist wirklich nett, ehrlich.«

»Nett? Pah! Er ist anbetungswürdig.« Magnus warf einen verträumten Blick zu dem noch immer versteinerten Jungen. »Du solltest ihn hierlassen. Dann könnte ich ihn als Garderobenständer für Hüte und andere Dinge verwenden.«

»Nein. Du kannst ihn nicht haben.«

»Warum nicht? Magst du ihn denn?« Magnus’ Augen glitzerten. »Er scheint dich jedenfalls zu mögen. Ich habe gesehen, wie er eben nach deiner Hand greifen wollte, wie ein Eichhörnchen, das hinter einer Nuss her ist.« 

»Warum reden wir zur Abwechslung nicht mal über dein Liebesleben?«, konterte Clary. »Was ist denn jetzt mit Alec und dir?« 

»Alec weigert sich, davon Notiz zu nehmen, dass wir eine Beziehung haben, also weigere ich mich, von ihm Notiz zu nehmen. Vor ein paar Tagen hat er mir eine Flammenbotschaft geschickt und mich um einen Gefallen gebeten. Die Nachricht war an >Hexenmeister Bane< adressiert, als wäre ich für ihn ein vollkommen Fremder. Ich denke, er steht immer noch auf Jace, obwohl diese Beziehung ja wohl überhaupt keine Zukunft haben dürfte - ein Problem, das dir gänzlich unbekannt ist, oder?« 

»Ach, halt den Mund.« Genervt musterte Clary den Hexenmeister. »Hör zu, wenn du Sebastian nicht wieder freigibst, komme ich hier nicht weg und dann wirst du das Weiße Buch niemals bekommen.«

»Okay, okay. Aber darf ich vielleicht einen Vorschlag machen? Erzähl ihm nichts von dem, was ich dir gerade anvertraut habe - ob er nun ein Freund der Lightwoods ist oder nicht.« Bockig schnippte Magnus mit den Fingern.

Sebastians Gesicht erwachte umgehend zum Leben, wie ein Video, das nach dem Drücken der Pausentaste weiter abgespielt wird.»… helfen?«, fragte er. »Das ist doch nicht irgendeine Lappalie. Hier geht es um Leben und Tod.«

»Ihr Nephilim denkt, dass all eure Probleme eine Frage von Leben und Tod sind«, erwiderte Magnus. »So, und jetzt verschwindet. Ihr fangt wirklich an, mich zu langweilen.«

»Aber…«

»Verschwindet«, knurrte Magnus, mit einem gefährlichen Ton in der Stimme. Blaue Funken tanzten an den Spitzen seiner langen Finger und plötzlich lag ein unangenehmer Brandgeruch in der Luft. Magnus’ Katzenaugen glühten. Obwohl Clary wusste, dass er nur eine Show aufführte, wich sie unwillkürlich zurück.

»Ich denke, wir sollten besser gehen, Sebastian«, sagte sie.

Sebastian kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Aber, Clary …«

»Wir gehen. Sofort«, beharrte sie, packte ihn am Arm und zog ihn beinahe hinter sich her. Widerstrebend folgte er ihr, wobei er die ganze Zeit leise vor sich hin fluchte. Erleichtert schaute Clary sich noch einmal zu Magnus um, der weiterhin mit verschränkten Armen in der Tür von Fells Haus stand. Als er ihren Blick auffing, grinste er und zwinkerte ihr mit einem seiner golden funkelnden Augen zu.

 

»Es tut mir leid, Clary.« Sebastian legte Clary eine Hand auf die Schulter und die andere an ihre Taille, während er ihr auf Wayfarers breiten Rücken hinaufhalf. Tapfer unterdrückte sie die leise Stimme in ihrem Kopf, die ihr davon abriet, dieses Pferd - oder irgendein anderes Reittier - jemals wieder zu besteigen, und ließ sich von Sebastian hochhieven. Vorsichtig schwang sie ein Bein über Wayfarer und versuchte, sich einzureden, sie säße auf einem großen, schwankenden Sofa und nicht auf einem Lebewesen, das sich jeden Moment umdrehen und sie beißen konnte.

»Was tut dir leid?«, fragte sie Sebastian, als er sich mit fast aufreizender Leichtigkeit hinter ihr in den Sattel schwang. Es schien beinahe, als würde er tanzen - enervierend, aber irgendwie auch beruhigend. Er scheint genau zu wissen, was er tut, überlegte Clary, während Sebastian um sie herum nach den Zügeln griff. Und vermutlich ist das gar nicht mal so schlecht… dann hat wenigstens einer von uns einen Plan. 

»Die Geschichte mit Ragnor Fell tut mir leid. Ich hatte nicht erwartet, dass er uns nicht würde helfen wollen. Andererseits sind Hexenmeister ja immer ein wenig launisch. Du bist doch schon mal einem begegnet, oder?« 

»Ich kenne Magnus Bane.« Clary drehte sich kurz um und schaute an Sebastian vorbei in Richtung des Hauses, das hinter ihnen immer kleiner wurde. Der Rauch stieg nun in Form kleiner tanzender Gestalten aus dem Kamin auf. Tanzende Magnusse? Aus dieser Entfernung ließ sich das unmöglich sagen. »Er ist der Oberste Hexenmeister von Brooklyn.«

»Und, besitzt er irgendwelche Ähnlichkeit mit Fell?«

»Erschreckend große. Aber mach dir keine Sorgen wegen Fell. Ich wusste, dass das Risiko bestand, dass er uns vielleicht nicht helfen würde.«

»Aber ich habe versprochen, dir zu helfen.« Sebastian klang aufrichtig bedrückt. »Na, wenigstens gibt es noch etwas anderes, das ich dir zeigen kann, sodass der Tag nicht völlig vergeudet ist.«

»Was denn?« Erneut drehte Clary sich um und schaute Sebastian an. Die Sonne stand hoch hinter ihm am Himmel und ließ die Spitzen seiner dunklen Haare golden aufleuchten.

Sebastian grinste. »Das wirst du gleich sehen.«

 

Als sie sich weiter von Alicante entfernten, gaben die dichten Laubwälder auf beiden Seiten des Wegs in regelmäßigen Abständen den Blick auf die dahinterliegende, unfassbar schöne Landschaft frei: eisblaue Seen, grüne Täler, graue Berge, silbern schimmernde Flüsse und Bäche mit blumenbewachsenen Ufern. Clary fragte sich, wie es wohl wäre, in solch einem Land zu leben. Ohne den beruhigenden Wall hoher Gebäude und Wolkenkratzer verspürte sie eine gewisse Nervosität, fühlte sich fast schon ausgesetzt und ungeschützt. 

Natürlich gab es auch hier Gebäude: Hin und wieder tauchte über den Baumwipfeln das Dach eines großen Gutshofs auf-Landsitze wohlhabender Schattenjägerfamilien, wie Sebastian ihr erklärte. Sie erinnerten Clary an die großen, alten Herrenhäuser am Hudson River im Norden Manhattans, wo reiche New Yorker früher ihre Sommerfrische verbracht hatten.

Inzwischen hatte sich der Boden unter Wayfarers Hufen von einem Kiesweg in einen Pfad verwandelt. Als sie einen Hügel erklommen und Sebastian das Pferd zum Stehen brachte, wurde Clary abrupt aus ihren Tagträumen gerissen. »Wir sind da«, verkündete er laut.

Clary starrte sprachlos auf die Szenerie: In einer Talsenke vor ihr lag ein riesiger Haufen schwarzer verkohlter Steine - Überreste niedergebrannter Mauern, die nur noch ahnen ließen, dass hier einst ein Haus gestanden hatte. Sie entdeckte die Ruinen eines Kaminzugs, der noch immer in den Himmel aufragte, und ein Stück Außenwand mit einer glaslosen Fensteröffnung in der Mitte. Zwischen den Grundmauern wucherte Unkraut - Grün zwischen Schwarz. »Ich versteh nicht ganz«, sagte sie. »Warum sind wir hierhergekommen?«

»Das weißt du nicht?«, fragte Sebastian. »Hier haben deine Eltern gelebt. Hier wurde dein Bruder geboren. Dies war das Herrenhaus der Familie Fairchild.«

Nicht zum ersten Mal hörte Clary Hodges Stimme in ihrem Kopf. Valentine hat sein Haus angezündet und sich und seine Familie verbrannt, seine Frau und sein Kind. Sein Land ist verkohlt. Noch immer will niemand dort wohnen. Es heißt, es sei verflucht. 

Wortlos glitt Clary von Wayfarers Rücken. Sie hörte, wie Sebastian ihren Namen rief, doch sie rannte bereits den flachen Hügel hinunter. Dort, wo einst das Haus gestanden hatte, war das Gelände wieder eben; geschwärzte Steinplatten eines ehemaligen Pfads knirschten unter ihren Füßen. Und zwischen den wuchernden Pflanzen erkannte sie ein paar Stufen, die wenige Meter über dem Boden abrupt endeten.

»Clary …« Sebastian folgte ihr durch das hohe Unkraut, doch sie nahm seine Anwesenheit kaum noch wahr. Langsam drehte sie sich im Kreis, um sich jedes Detail zu merken: Verkohlte, halb abgestorbene Bäume. Die Überreste einer einst schattigen Wiese, die sich über einen flachen Abhang erstreckte. In der Ferne - knapp oberhalb der Baumwipfel - das Dach eines vermutlich benachbarten Gutshofs. Sonnenstrahlen, die sich in den Glasscherben der zerbrochenen Fensterscheibe der letzten verbliebenen Mauer spiegelten. Vorsichtig stieg Clary über einen Sockel schwarzer Steine und trat in die Mitte der Ruinen. Sie erkannte die Umrisse von Räumen, die Konturen von Türschwellen und entdeckte sogar einen versengten, noch fast intakten Schrank, der auf der Seite lag. Helle Porzellanscherben mischten sich mit der schwarzen Erde um ihn herum.

Dies war einst ein richtiges Haus gewesen, bewohnt von lebenden, atmenden Menschen. Ihre Mutter hatte hier gelebt, hatte hier geheiratet, hatte ein Kind zur Welt gebracht. Und dann war Valentin gekommen und hatte all das in Schutt und Asche gelegt, hatte Jocelyn im Glauben gelassen, ihr Sohn sei tot, und sie veranlasst, die Wahrheit über ihre Vergangenheit vor ihrer Tochter zu verbergen … Ein Gefühl durchdringender Trauer überkam Clary. Mehr als nur ein Menschenleben war an diesem Ort vergeudet worden. Als sie die Hand an ihr Gesicht führte, stellte sie beinahe überrascht fest, dass es feucht war: Sie hatte geweint, ohne es zu merken.

»Clary, es tut mir so leid. Ich dachte, du würdest das hier gern sehen wollen.« Sebastian kam auf sie zu; seine Schuhe knirschten auf den Scherben und ließen kleine Aschewolken aufsteigen. Besorgt musterte er sie.

»Ja, das ist richtig. Das wollte ich auch. Danke.« Clary drehte sich zu ihm um.

Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt und wehte dem Jungen Strähnen dunkler Haare übers Gesicht. Sebastian schenkte ihr ein wehmütiges Lächeln. »Es muss schwer sein, darüber nachzudenken, was hier alles passiert ist … an Valentin zu denken … an deine Mutter. Sie ist unglaublich mutig gewesen.«

»Ich weiß«, sagte Clary. »Das war sie. Das ist sie noch immer.«

Behutsam berührte Sebastian Clarys Gesicht. »Genau wie du.«

»Sebastian, du weißt doch überhaupt nichts über mich.«

»Das stimmt nicht.« Er hob seine andere Hand und hielt ihr Gesicht nun mit beiden Händen. Seine Berührung war sanft, fast zaghaft. »Ich weiß alles über dich, Clary. Wie du gegen deinen Vater gekämpft hast, um den Kelch der Engel vor ihm zu bewahren; wie du in das vampirverseuchte Hotel eingedrungen bist, um deinen Freund zu retten. Isabelle hat mir viele Dinge erzählt, außerdem habe ich eine Menge Gerüchte gehört. Und seit der ersten Geschichte … seit dem Moment, in dem erstmals dein Name fiel, habe ich dich kennenlernen wollen. Ich wusste gleich, dass du etwas ganz Besonderes sein musstest.«

Clary lachte unsicher. »Ich hoffe, du bist nicht zu enttäuscht.«

»Nein«, stieß er leise hervor und ließ seine Fingerspitzen unter ihr Kinn gleiten. »Nein, kein bisschen.« Dann hob er ihr Gesicht an. Clary war zu überrascht, um zu reagieren, als er sich vorbeugte und sie erkannte - zu spät erkannte -, was er vorhatte: Reflexartig schloss sie die Augen, als seine Lippen sanft über ihre streiften und einen Schauer durch ihren Körper jagten. Ein plötzliches Verlangen erfasste sie - das Verlangen, festgehalten und auf eine Weise geküsst zu werden, die sie alles andere vergessen ließe. Sie schlang die Arme um Sebastians Hals, um Halt zu finden und um ihn näher zu sich heranzuziehen.

Seine Strähnen kitzelten sie an den Fingerspitzen. Fein und weich, nicht seidig wie Jace’ Haare, schoss es ihr durch den Kopf. Aber ich sollte endlich aufhören, ständig an Jace zu denken!, ermahnte sie sich. Energisch schob sie jeden Gedanken an ihn beiseite, als Sebastian über ihre Wangen strich und die Konturen ihres Kiefers nachzeichnete. Seine Berührung war sanft, trotz der Hornhaut an seinen Fingerspitzen. Jace hatte natürlich die gleichen Schwielen … ein Zeichen der vielen Kämpfe … vermutlich besaßen alle Schattenjäger diese Hautverdickungen … 

Erneut versuchte Clary, jeden Gedanken an Jace zu unterdrücken, doch es war zwecklos. Sie konnte ihn sogar mit geschlossenen Augen sehen: die kantigen Konturen und Flächen seines Gesichts, das sie vermutlich niemals vernünftig würde zeichnen können, ganz gleich, wie stark sich das Bild in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte; seine feinen Handknöchel, die vernarbte Haut seiner Schultern … 

Das heftige Verlangen, das sie erfasst hatte, ließ so plötzlich wieder nach, wie es gekommen war. Im nächsten Moment spürte Clary, wie in ihr alles taub wurde, selbst als Sebastians Lippen sich auf ihre pressten und seine Hände in ihren Nacken wanderten. Eine eisige Gefühllosigkeit breitete sich in ihr aus, hervorgerufen von dem deutlichen Eindruck, dass hier etwas schrecklich schieflief, etwas, das weit über ihre hoffnungslose Sehnsucht nach jemandem hinausging, der für sie unerreichbar war: Eine Woge des Entsetzens raste durch ihren Körper, als hätte sie vertrauensvoll einen Schritt nach vorne gemacht und würde nun haltlos in einen finsteren, gähnenden Abgrund stürzen.

Keuchend schnappte Clary nach Luft und wich mit solcher Vehemenz zurück, dass sie beinahe taumelte. Hätte Sebastian sie nicht festgehalten, sie wäre mit Sicherheit gefallen.

»Clary.« Sein Blick wirkte verschwommen und seine Wangen waren stark gerötet. »Clary, was ist?«

»Nichts.« Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme unnatürlich dünn. »Nichts … es ist nur… ich hätte nicht… ich bin noch nicht bereit dafür…«

»Sind wir zu weit gegangen? Wir können es ruhiger angehen lassen …« Er versuchte, sie wieder an sich zu ziehen, doch Clary zuckte unwillkürlich zurück. Wie vom Donner gerührt musterte er sie. »Ich werde dir nicht wehtun, Clary.«

»Ich weiß.«

»Ist irgendetwas passiert?« Er hob die Hände und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Clary musste den Drang unterdrücken, sich loszureißen. »Hat Jace …«

»Jace?« Hatte Sebastian gespürt, dass sie an Jace gedacht hatte? War es ihr anzusehen? Andererseits … »Jace ist mein Bruder. Warum bringst du ihn jetzt zur Sprache? Was meinst du damit?« 

»Ich dachte ja nur …« Er schüttelte den Kopf. Schmerz und Verwirrung wechselten sich auf seinem Gesicht ab. »Ich dachte, dass vielleicht jemand anderes dir wehgetan hat.«

Seine Hand lag noch immer an ihrer Wange. Clary griff danach, löste sie sanft, aber entschlossen und führte sie wieder an seine Seite. »Nein. Nein, nichts dergleichen. Es ist nur…« Sie zögerte. »Es hat sich einfach falsch angefühlt.«

»Falsch?« Der Schmerz in seiner Stimme schwand schlagartig und wich einem ungläubigen Ausdruck. »Clary, uns beide verbindet etwas Besonderes. Das weißt du ganz genau. Seit dem Moment unserer ersten Begegnung …« 

»Sebastian, nicht…« 

»… hatte ich das Gefühl, dass du jemand bist, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe. Und ich habe gesehen, dass du genau dasselbe empfunden hast. Erzähl mir nicht, dass das nicht stimmt.«

Aber das war nicht das, was Clary gespürt hatte. Ihre Empfindung ließ sich eher mit einem Spaziergang durch eine fremde Stadt vergleichen, bei dem sie unerwartet auf ihr eigenes Haus gestoßen war, das plötzlich vor ihr aufragte. Ein überraschendes und nicht gänzlich angenehmes Wiedererkennen, das die Frage aufwarf: Wie war das möglich? 

»Nein, das habe ich nicht empfunden«, sagte sie schließlich.

Die Wut, die abrupt, düster und unbeherrscht in seinen Augen aufflammte, überrumpelte sie. Im nächsten Moment packte er ihre Handgelenke und hielt sie eisern fest. »Das ist nicht wahr!«

Clary versuchte, sich ihm zu entziehen. »Sebastian …«

»Das ist nicht wahr.« Das Schwarz in seinen Augen schien seine Pupillen zu verschlingen und sein Gesicht wirkte wie eine weiße Maske, starr und steif. 

»Sebastian«, sagte Clary so ruhig wie nur möglich. »Du tust mir weh.«

Widerstrebend ließ er sie los. Seine Brust hob und senkte sich in raschem Wechsel. »Tut mir leid«, stieß er hervor. »Es tut mir leid. Ich dachte …«

Ja, aber da hast du dich geirrt, dachte Clary, sprach die Worte aber nicht laut aus. Sie hatte keine Lust, noch einmal diesen Ausdruck auf seinem Gesicht zu sehen. »Wir sollten zurückreiten«, sagte sie stattdessen. »Es wird bald dunkel werden.« 

Benommen nickte er, scheinbar genauso bestürzt über seinen Wutausbruch wie sie. Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zu Wayfarer zurück, der im langen Schatten eines Baumes etwas Gras rupfte.

Clary zögerte einen Moment und folgte ihm dann - sie hatte nicht den Eindruck, dass ihr irgendeine andere Wahl blieb. Verstohlen blickte sie auf ihre Hände hinab: Die Gelenke waren stark gerötet von seinem eisernen Griff- aber viel merkwürdiger erschien ihr die Tatsache, dass ihre Fingerspitzen schwarz verschmiert waren, als hätte sie mit Tinte herumgekleckst.

Sebastian schwieg, während er ihr auf Wayfarers Rücken half »Tut mir leid, dass ich Jace irgendetwas unterstellt habe«, sagte er schließlich, nachdem er sich hinter ihr in den Sattel geschwungen hatte. »Er würde nichts unternehmen, was dir wehtun könnte. Ich weiß, dass er den Vampir im Gefängnis der Garnison nur deinetwegen besucht…«

In diesem Moment hatte Clary das Gefühl, als würde die Welt ruckartig stehen bleiben. Sie hörte ihren eigenen pfeifenden Atem und sah ihre Hände, die erstarrt wie die steinernen Hände einer Statue auf dem Sattelknauf ruhten. »Ein Vampir? Im Gefängnis?«, flüsterte sie.

Sebastian warf ihr einen überraschten Blick zu. »Ja«, bestätigte er, »Simon, dieser Vampir, den die Lightwoods aus New York mitgebracht haben. Ich dachte… das heißt, ich war mir sicher, dass du davon wüsstest. Hat Jace dir das denn nicht erzählt?«

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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