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FEUER UND SCHWERT

 

»Es ist verdammt spät«, sagte Isabelle gereizt und zog die Spitzengardine wieder vor das hohe Wohnzimmerfenster. »Er sollte längst zurück sein.«

»Nun sei mal vernünftig, Isabelle«, bemerkte Alec in seinem typischen Großer-Bruder-Ton, der immer so klang, als wäre sie ständig einem hysterischen Anfall nahe, er dagegen jederzeit die Ruhe in Person. Selbst seine Haltung - er lümmelte in einem der schweren Polstersessel neben dem Kamin, als hätte er keinerlei Sorgen - schien nur demonstrieren zu wollen, wie unbekümmert er war. »Jace macht das doch jedes Mal, wenn er sich über irgendetwas ärgert… dann marschiert er los und läuft durch die Gegend. Er hat doch gesagt, er würde spazieren gehen. Er wird schon wiederkommen.«

Isabelle seufzte. Fast wünschte sie, ihre Eltern wären da, doch sie befanden sich noch immer in der Garnison. Worüber die Schattenjägerkongregation auch immer diskutieren mochte, die Tagung zog sich verdammt in die Länge. »Aber Jace kennt sich in Alicante doch gar nicht aus …«, überlegte Isabelle weiter.

»Wahrscheinlich kennt er die Stadt besser als du«, warf Aline ein, die auf der Couch saß und ein Buch auf dem Schoß balancierte, das in dunkelrotes Leder gebunden war. Ihre schwärzen Haare hatte sie nach hinten gekämmt und zu einem französischen Zopf geflochten, den Blick fest auf den Wälzer geheftet.

Isabelle, die nie eine begeisterte Leseratte gewesen war, hatte andere Leute immer um deren Fähigkeit beneidet, vollkommen in ein Buch eintauchen zu können. Es gab viele Dinge, um die sie Aline früher beneidet hätte - zum Beispiel darum, dass sie ein zartes, hübsches Mädchen war und nicht so amazonenhaft und groß wie sie selbst, die in hochhackigen Schuhen fast jeden Jungen überragte. Allerdings hatte Isabelle auch erst kürzlich begriffen, dass andere Mädchen gar nicht dazu da waren, dass man sie beneidete, ihnen aus dem Weg ging oder sie nicht mochte.

»Jace hat doch bis zu seinem zehnten Lebensjahr hier gelebt, während ihr nur ein paarmal zu Besuch in der Stadt wart«, nahm Aline den Faden wieder auf.

Stirnrunzelnd griff Isabelle sich an die Kehle: Der Anhänger an ihrer Halskette hatte einen plötzlichen, heftigen Elektroimpuls ausgesandt. Normalerweise schlug er nur in Gegenwart von Dämonen aus, aber sie befanden sich doch in Alicante - hier konnten unmöglich irgendwelche Dämonen auftauchen. Vielleicht hatte der Anhänger ja eine Funktionsstörung. »Ich glaube sowieso nicht, dass Jace ziellos umherwandert. Meines Erachtens ist es ziemlich offensichtlich, wohin er gegangen ist«, erwiderte Isabelle.

Alec zog die Augenbrauen hoch. »Du meinst, er besucht Clary?«

»Ach, Jace’ Schwester ist noch immer hier? Ich dachte, sie sollte nach New York zurückkehren.« Aline schlug das Buch zu. »Bei wem wohnt sie überhaupt?«

Isabelle zuckte die Achseln. »Frag ihn doch«, sagte sie und schaute demonstrativ zu Sebastian. 

Sebastian lag ausgestreckt auf dem Sofa gegenüber von Aline. Auch er hielt ein Buch in der Hand, in das er völlig vertieft schien. Fragend hob er die Augen, als könnte er Isabelles Blick förmlich spüren.

»Habt ihr von mir geredet?«, fragte er mild. Alles an Sebastian war mild, dachte Isabelle mit einem Anflug von Verärgerung. Anfangs war sie von seinem Äußeren ja sehr beeindruckt gewesen - seinen scharf gezeichneten Wangenknochen und den schwarzen, unergründlichen Augen -, doch sein sanfter, sympathischer Charakter ging ihr inzwischen auf die Nerven. Sie mochte keine Jungen, die so aussahen, als würden sie sich niemals über irgendetwas aufregen. In Isabelles Welt bedeutete Wut Leidenschaft und Leidenschaft eine Menge Spaß.

»Was liest du da?«, fragte sie, schärfer als sie beabsichtigt hatte. »Ist das eines von Max’ Comicbüchern?«

»Ja.« Sebastian schaute auf den Band aus der Mangaserie Angel Sanctuary, den er auf der Sofalehne abgelegt hatte. »Mir gefallen die Bilder.« 

Als Isabelle aufgebracht schnaubte, warf Alec ihr einen warnenden Blick zu und wandte sich dann an Sebastian: »Hör mal, es geht um heute Mittag … Weiß Jace, wo du gewesen bist?«

»Du meinst, dass ich mit Clary unterwegs war?« Sebastian wirkte amüsiert. »Das ist doch kein Geheimnis. Ich hätte es Jace erzählt, wenn ich ihn danach gesehen hätte.«

»Ich wüsste nicht, warum er sich überhaupt dafür interessieren sollte«, bemerkte Aline spitz und legte ihr Buch ebenfalls beiseite. »Es ist ja nicht so, als ob Sebastian irgendetwas falsch gemacht hätte. Was ist denn schon dabei, dass er Clarissa etwas von Idris zeigen will, ehe sie zurück nach Hause muss? Jace sollte sich darüber freuen, dass seine Schwester nicht gelangweilt herumsitzt.« 

»Sein Beschützerinstinkt kann manchmal sehr … ausgeprägt sein«, murmelte Alec nach kurzem Zögern.

Aline runzelte die Stirn. »Dann sollte er sich mal ein wenig zurücknehmen. Es ist nicht gut für sie, so überbehütet aufzuwachsen. Wenn ich nur an den Ausdruck auf ihrem Gesicht denke, als sie uns in der Bibliothek überrascht hat… sie hat uns angestarrt, als hätte sie noch nie zwei Menschen gesehen, die sich küssen. Na ja, wer weiß - vielleicht hat sie das ja auch nicht.«

»Doch, das hat sie«, erwiderte Isabelle und musste daran denken, wie Jace Clary am Hof des Lichten Volkes geküsst hatte. Aber sie hatte keine Lust, sich länger damit zu beschäftigen - sie badete nicht gern in ihrem eigenen Kummer und noch weniger in dem anderer Leute. »Nein, darum geht es nicht.«

»Worum geht es denn dann?« Sebastian setzte sich auf und schob sich eine schwarze Locke aus den Augen. Dabei blitzte etwas an seiner Hand auf - eine rote Linie, die sich wie eine Narbe über seine Handfläche erstreckte. »Oder liegt es vielleicht daran, dass er mich nicht ausstehen kann? Allerdings wüsste ich nicht, was ich ihm je getan hätte …«

»Das ist mein Buch.« Ein dünnes Stimmchen unterbrach Sebastians Redefluss. Max stand in der Wohnzimmertür; ertrug einen grauen Schlafanzug und seine braunen Haare waren zerzaust, als wäre er gerade aufgewacht. Verärgert starrte er auf das Mangaheft, das neben Sebastian lag.

»Was, das hier?« Sebastian hielt den Band hoch. »Hier, da hast du es wieder, Kleiner.«

Eingeschnappt stolzierte Max durch den Raum, riss das Buch an sich und musterte Sebastian mit finsterer Miene. »Nenn mich nicht >Kleiner<.«

Sebastian lachte und erhob sich. »Ich werd mal Kaffee aufsetzen«, sagte er und ging in Richtung Küche. Ehe er durch die Tür verschwand, drehte er sich noch einmal um. »Kann ich irgendjemandem etwas mitbringen?«

Als die anderen dankend ablehnten, marschierte Sebastian achselzuckend in die Küche und ließ die Tür hinter sich zufallen.

»Sei nicht so unhöflich, Max«, tadelte Isabelle den kleinen Jungen in scharfem Ton.

»Aber ich mag es nun mal nicht, wenn andere Leute einfach meine Sachen nehmen.« Max drückte das Comicbuch fest an sich.

»Jetzt benimm dich nicht so kindisch. Er hat es sich doch nur geborgt.« Isabelles Stimme klang ärgerlicher als beabsichtigt. Sie machte sich noch immer Sorgen wegen Jace und wusste, dass sie das an ihrem kleinen Bruder ausließ. »Außerdem solltest du längst im Bett sein. Es ist schon spät.«

»Oben auf dem Hügel waren irgendwelche laute Stimmen. Die haben mich aufgeweckt.« Max blinzelte; ohne seine Brille konnte er nicht besonders gut sehen. »Isabelle …«

Der fragende Unterton in seiner Stimme weckte ihre Aufmerksamkeit. Isabelle drehte sich vom Fenster fort und schaute ihn an. »Was ist denn?«

»Klettern eigentlich viele Leute auf die Dämonentürme?«

Aline schaute von ihrem Buch auf, das sie wieder aufgeschlagen hatte. »Auf die Dämonentürme klettern?« Sie lachte. »Nein, niemand klettert dahinauf. Zum einen ist es strikt verboten und zum anderen: Warum sollte jemand so was wollen?«

Aline besitzt nicht gerade viel Fantasie, überlegte Isabelle. Ihr selbst fielen auf Anhieb etliche Gründe ein, warum jemand auf einen der Dämonentürme klettern wollte - und sei es nur, um ahnungslose Passanten von dort oben mit Kaugummi zu bespucken. 

Max runzelte die Stirn. »Aber da ist jemand hinaufgeklettert. Ich hab es ganz deutlich gesehen …«

»Das musst du geträumt haben«, schnaubte Isabelle.

Als Max verärgert das Gesicht verzog, spürte Alec einen möglichen Streit aufkommen und stand rasch auf. »Komm, Max«, sagte er nicht unfreundlich und streckte seinem Bruder eine Hand entgegen. »Wir bringen dich wieder ins Bett.«

»Wir sollten alle ins Bett gehen«, meinte Aline, erhob sich vom Sofa und ging hinüber zu Isabelle, um die Vorhänge zuzuziehen. »Es ist schon fast Mitternacht. Wer weiß, wie lange die Sitzung in der Garnison noch dauert. Es hat keinen Zweck, länger aufzubleiben und zu wart…«

In dem Moment schlug der Anhänger an Isabelles Kehle erneut heftig aus und einen Sekundenbruchteil später zersplitterte das Fenster, vor dem Aline stand, mit ohrenbetäubendem Klirren. Entsetzt schrie Aline auf, als irgendetwas durch die Öffnung in der Scheibe griff- keine Hände, sondern riesige, schuppige Klauen, wie Isabelle mit schockierender Klarheit erkannte. Blut klebte daran und eine schwarze Flüssigkeit. Die Klauen packten Aline und zerrten sie durch die zerschlagene Fensterscheibe, ehe sie auch nur einen zweiten Schrei ausstoßen konnte.

Sofort stürzte Isabelle zum Beistelltisch neben dem offenen Kamin, wo ihre Peitsche lag. Dabei konnte sie Sebastian gerade noch ausweichen, der aus der Küche angestürmt kam. »Hol die Waffen!«, schrie sie ihm zu, als er sich verblüfft im Raum umsah. »Nun mach schon/«, brüllte sie und rannte zum Fenster. 

Alec, der neben dem Kamin gestanden hatte, schnappte sich Max, der sich laut protestierend aus der Umklammerung seines Bruders zu befreien versuchte, und zog ihn zur Tür.

Gut, dachte Isabelle. Bring Max hier weg. 

Kalte Luft wehte durch die zerbrochene Scheibe herein. Isabelle schürzte den Rock ihres Kleides und trat die restlichen Glasscherben aus dem Fensterrahmen, dankbar für die dicken Sohlen ihrer Stiefel. Dann duckte sie den Kopf, sprang durch die gähnende Öffnung und landete hart auf dem Gehweg hinter dem Haus.

Die Straße schien auf den ersten Blick leer zu sein. Entlang des Kanals gab es keine Laternen und das einzige Licht, das auf den Weg fiel, stammte aus den Fenstern eines nahe gelegenen Hauses. Vorsichtig bewegte Isabelle sich vorwärts, ihre Elektrumpeitsche aufgerollt in der Hand. Diese Waffe befand sich schon so lange in ihrem Besitz - sie hatte sie zu ihrem zwölften Geburtstag geschenkt bekommen -, dass sie sich wie ein Teil von ihr anfühlte, wie eine geschmeidige Verlängerung ihres rechten Arms.

Die Dunkelheit schien sich zu verdichten, als Isabelle sich vom Haus fortbewegte und in Richtung der Oldcastle-Brücke lief, die in einem seltsamen Winkel über den Princewater-Kanal zum Fußpfad führte. An ihren Pfeilern hatten sich tiefe schwarze Schatten gebildet, die reglos dalagen. Doch plötzlich bemerkte Isabelle eine Bewegung: Irgendetwas Weißes rührte sich blitzschnell.

Isabelle zögerte keine Sekunde und sprintete los: durch eine Reihe niedriger Hecken am Ende eines Gartens und hinunter auf den schmalen Ziegelsteinweg, der unter der Brücke verlief. Ihre Peitsche hatte zu glühen begonnen und sandte ein hartes silbernes Licht aus, in dessen schwachem Schein Isabelle Alines schlaffen Körper am Rand des Kanals erkannte. Ein wuchtiger Schuppendämon hockte auf ihr und drückte sie mit dem Gewicht seines massigen echsenartigen Rumpfes auf den Boden. Sein Gesicht war tief in Alines Hals vergraben …

Aber das konnte doch unmöglich ein Dämon sein!, schoss es Isabelle durch den Kopf. In Alicante hatte es noch nie Dämonen gegeben. Zu keinem Zeitpunkt. Während Isabelle schockiert auf die Szenerie vor ihr starrte, hob das Wesen den Kopf und prüfte schnüffelnd die Luft, als könne es ihre Anwesenheit wahrnehmen. Isabelle sah, dass die Kreatur blind war: Eine breite Reihe gezackter Zähne erstreckte sich wie ein Reißverschluss über die Stirn, dort, wo eigentlich die Augen hätten sitzen müssen. In der unteren Gesichtshälfte befand sich ein weiteres Maul mit spitzen Hauern, von denen eine dunkle Flüssigkeit tropfte. Im Schein der Elektrumpeitsche glitzerten die Flanken des langen, vor und zurück wippenden Echsenschwanzes, dessen Spitze mit rasierklingenscharfen Knochen besetzt war. 

Plötzlich zuckte Aline zusammen und stieß ein pfeifendes Wimmern aus. Aufatmend nahm Isabelle zur Kenntnis, dass das Mädchen entgegen ihrer Befürchtung nicht tot war, doch die Erleichterung dauerte nur kurz an: Als Aline sich bewegte, sah Isabelle, dass ihre Bluse vorne aufgerissen war. Tiefe Kratzer erstreckten sich über ihre Brust und die Kreatur hatte eine weitere Klaue in den Bund ihrer Jeans geschoben. 

Eine Woge der Übelkeit erfasste Isabelle. Der Dämon versuchte gar nicht, Aline zu töten - noch nicht. Wie das flammende Schwert eines Racheengels erwachte die Peitsche in ihrer Hand zum Leben. Ohne zu zögern, stürmte Isabelle vorwärts und zog dem Dämon die gleißende Peitsche über den Rücken.

Der Dämon kreischte auf und wälzte sich von Aline. Mit weit aufgerissenen Mäulern drehte er sich ruckartig zu Isabelle um und schlug mit den Klauen in Richtung ihres Gesichts. Doch Isabelle wich geschickt zurück und ließ gleichzeitig ihre Peitsche erneut nach vorne schnellen: Der scharfe Elektrumdraht schlitzte dem Dämon Gesicht, Brust und Beine auf. Sofort quollen Blut und eitrige Flüssigkeit aus unzähligen Wunden in der schuppigen Dämonenhaut und dann schoss eine lange gespaltene Zunge aus dem oberen Maul hervor und zielte auf Isabelles Gesicht. Am Ende der Zunge saß eine Art Stachel, wie von einem Skorpion. Doch eine rasche, kurze Bewegung ihrer Peitschenhand genügte und der dünne, geschmeidige Elektrumdraht wickelte sich um die Dämonenzunge. Die Kreatur schrie und schrie, während Isabelle die Peitsche immer fester zuzog und ihr dann einen letzten Ruck gab: Mit einem feuchten, ekelerregenden Geräusch klatschte die Zunge des Dämons auf den Ziegelsteinen des unteren Brückenwegs auf.

Isabelle riss die Peitsche zurück. Der Dämon wirbelte herum und versuchte zu fliehen - mit schnellen, schlängelnden Bewegungen wie eine Natter. Sofort setzte Isabelle ihm nach. Doch der Dämon hatte gerade die Hälfte der Strecke zum Kanalweg zurückgelegt, als plötzlich eine dunkle Gestalt vor ihm auftauchte. Etwas Metallisches blitzte in der Dunkelheit auf, dann wand sich der Dämon kreischend auf dem Boden.

Abrupt hielt Isabelle inne. Aline stand breitbeinig über dem Dämon, einen schlanken Dolch in der Hand - er musste an ihrem Gürtel gesteckt haben. Die Runen auf der Klinge leuchteten wie Zackenblitze, während sie dem Dämon den Dolch wieder und wieder in den zuckenden Rumpf rammte, bis er sich nicht mehr regte und dann in Luft auflöste.

Langsam schaute Aline auf und starrte Isabelle mit ausdruckslosem Blick an. Die Knöpfe ihrer Bluse waren abgerissen, sodass der dünne Stoff weit auseinanderklaffte, doch sie machte keine Anstalten, ihre Brust zu bedecken, aus deren tiefen Kratzwunden helles Blut quoll.

Isabelle stieß einen leisen Pfiff aus. »Aline … alles in Ordnung mit dir?«

Im nächsten Moment ließ Aline den Dolch klirrend zu Boden fallen, dann wirbelte sie ohne ein weiteres Wort herum und rannte los, verschwand in der Dunkelheit unter der Brücke.

Überrumpelt stieß Isabelle einen unterdrückten Fluch aus und setzte Aline nach, wobei sie inständig wünschte, sie hätte an diesem Abend etwas Praktischeres als ausgerechnet ein Samtkleid angezogen. Wenigstens trug sie ihre Stiefel - mit hochhackigen Schuhen hätte sie Aline ganz bestimmt nicht einholen können.

Auf der anderen Seite des Ziegelsteinwegs führte eine Eisentreppe zur Princewater Street, auf deren oberster Stufe Isabelle das andere Mädchen gerade noch verschwommen erkennen konnte. Entschlossen raffte sie den Saum ihres schweren Kleides und sprintete mit großen Schritten die Treppe hinauf, wobei ihre Stiefel einen metallischen Hall erzeugten. Als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, sah sie sich suchend nach Aline um …

Und erstarrte. Sie stand am Fuß der breiten Straße, an der das Haus der Penhallows lag. Aline war nirgends zu sehen - sie schien in der wogenden Menschenmenge vor ihr untergetaucht zu sein. Doch nicht nur Menschen drängten sich zwischen den Häusern: Auf den Straßen wimmelte es auch vor irgendwelchen Kreaturen - Dämonen … Dutzende, wenn nicht noch mehr… echsenähnliche Monster, wie der Schuppendämon, den Aline unter der Brücke erledigt hatte. Auf dem Pflaster lagen bereits zwei oder drei Tote, ein Leichnam nur wenige Schritte von Isabelle entfernt: ein Mann mit halb aufgerissenem Brustkorb. An seinen grauen Haaren erkannte Isabelle, dass es sich um einen der älteren Bewohner der Stadt gehandelt haben musste. Aber natürlich!, dämmerte es ihr allmählich, als ihr von Panik erfüllter Verstand langsam in Gang kam. Alle Erwachsenen sind in der Garnison. Hier unten in der Stadt sind nur die Kinder, die Alten und Kranken … 

Die rötlich gefärbte Luft war von Brandgeruch erfüllt; Schreie und Rufe zerrissen die Nacht. Überall standen Haustüren sperrangelweit offen. Leute stürmten in Panik nach draußen, blieben aber abrupt stehen, als sie die vor Monstern wimmelnden Straßen sahen.

Es war unglaublich, einfach unvorstellbar. In der ganzen Geschichte der Stadt hatte noch kein einziger Dämon je die Schutzschilde von Alicantes Türmen überwunden. Doch jetzt brandeten Dutzende, Hunderte, vielleicht noch mehr Dämonen wie eine giftige Flutwelle durch die Gassen. Isabelle hatte das Gefühl, hinter einer Glaswand zu stehen: Sie konnte zwar alles erkennen, war aber unfähig, sich zu rühren. Mit starrem Entsetzen sah sie, wie ein Dämon einen fliehenden Jungen packte, ihn in die Luft hob und ihm die gezackten Zähne tief in die Schulter schlug.

Der Junge kreischte vor Schmerzen, doch seine Schreie gingen im Lärm unter, der immer weiter anschwoll: das Heulen der Dämonen, die Schreie der Menschen, das Geräusch eiliger Schritte und das Splittern von Glas. Am Ende der Straße rief jemand etwas, das Isabelle kaum verstehen konnte - irgendetwas über die Dämonentürme. Sofort schaute sie zu den Bauwerken hinauf. Die hohen Türme wachten wie eh und je über die Stadt, aber sie hatten ihre reflektierende Eigenschaft eingebüßt. Weder das silberne Licht der Sterne noch der rötliche Feuerschein der brennenden Stadt spiegelte sich in den Oberflächen - sie wirkten so leichenblass wie die Haut eines Toten. Ihre Leuchtkraft war verschwunden. Ein eisiger Schauer jagte Isabelle über den Rücken. Kein Wunder, dass es in den Straßen vor Monstern wimmelte - aus irgendeinem unvorstellbaren Grund hatten die Dämonentürme ihre magischen Eigenschaften verloren. Die Schutzschilde, die Alicante Tausende von Jahren beschützt hatten, waren verschwunden. Samuel hatte schon seit Stunden nichts mehr gesagt, doch Simon war noch immer wach. Ruhelos starrte er in die Dunkelheit, als er plötzlich Schreie hörte. 

Ruckartig hob er den Kopf. Stille. Unbehaglich schaute er sich um - hatte er den Lärm vielleicht geträumt? Angestrengt spitzte er die Ohren, aber selbst mit seinem deutlich empfindlicheren Vampirgehör konnte er nichts ausmachen. Er wollte sich gerade wieder auf die Pritsche legen, als die Schreie erneut ertönten und ihn wie Nadeln in den Ohren stachen. Es klang, als stammten sie von jenseits der Garnisonsmauern.

Simon sprang auf, kletterte auf die Pritsche und schaute aus dem Fenster. Vor ihm erstreckte sich eine grüne Rasenfläche, doch in der Ferne konnte er den schwachen Lichtschein der Stadt erkennen. Beunruhigt verengte er die Augen zu Schlitzen - irgendetwas stimmte nicht mit den Lichtern … Sie erschienen ihm dunkler, als er sie in Erinnerung hatte, und irgendwelche kleinen Punkte schössen durch die Straßen, wie feurige Nadelspitzen. Über den Türmen erhob sich eine bleiche Wolke und die Luft war erfüllt von beißendem Qualm. 

»Samuel.« Simon konnte die große Unruhe in seiner eigenen Stimme hören. »Samuel, irgendetwas stimmt hier nicht!«

Im nächsten Moment drang das Schlagen von Türen und das Hallen hastig eilender Schritte an seine Ohren. Heisere Rufe zerrissen die Nachtstille. Simon presste das Gesicht gegen die Gitterstäbe, während auf der anderen Seite seines Fensters schwere Stiefel vorbeidröhnten und im Laufen Steine aufwarfen: Heerscharen von Schattenjägern stürmten unter lautem Rufen aus der Garnison, hinunter in die Stadt.

»Die Schutzschilde sind zusammengebrochen! Sie arbeiten nicht mehr!«

»Aber wir können die Garnison nicht im Stich lassen!«

»Die Garnison spielt keine Rolle! Unsere Kinder sind da unten!«

Ihre Rufe entfernten sich bereits, wurden immer leiser. Bestürzt stieß Simon sich vom Fenster ab. »Samuel! Die Schutzschilde …«

»Ich weiß. Ich hab’s gehört.« Samuels Stimme drang laut und kräftig durch die Mauer. Er klang nicht im Geringsten verängstigt, sondern resigniert und sogar ein wenig triumphierend, da er recht behalten hatte. »Valentin hat seinen Angriff gestartet, während der Rat tagte. Clever.«

»Aber die Garnison … sie ist doch stark befestigt. Warum bleiben sie nicht einfach hier oben?«

»Du hast sie doch selbst gehört. Weil all ihre Kinder unten in der Stadt sind. Kinder, betagte Eltern … sie können sie nicht einfach im Stich lassen.«

Die Lightwoods. Simon dachte an Jace und dann mit Schrecken an Isabelles kleines blasses Gesicht unter ihrer dunklen Haarmähne, an ihre Entschlossenheit im Kampf, an die vielen X und 0, die sie unter den Brief an ihn gesetzt hatte. »Aber du hast es ihnen doch gesagt… du hast den Ratsmitgliedern gesagt, was passieren würde. Warum haben sie dir nicht geglaubt?« 

»Weil die Schutzschilde ihre Religion sind. Nicht an die Macht der Schilde zu glauben, würde bedeuten, dass die Schattenjäger auch nicht daran glaubten, dass sie etwas Besonderes sind … die Auserwählten, die unter dem Schutz des Erzengels stehen. Dann könnten sie auch gleich glauben, dass sie nur ganz gewöhnliche Irdische sind.« 

Simon drehte sich wieder zum Gitter, um erneut hinauszuschauen, doch der Qualm war inzwischen dichter geworden und erfüllte die Luft mit einer gräulichen Fahlheit. Die Rufe vor dem Fenster waren verstummt; nur aus der Ferne drangen gedämpfte Schreie an seine gespitzten Ohren. »Ich glaube, die Stadt steht in Flammen.«

»Nein.« Samuels Stimme klang sehr leise. »Ich denke, die Garnison steht in Flammen. Vermutlich Dämonenfeuer. Valentin hat es auf die Garnison abgesehen.«

»Aber…« Simon geriet ins Stottern. »Aber es wird doch irgendjemand kommen und uns hier rausholen, oder? Der Konsul oder… oder Aldertree. Die können uns doch nicht einfach hier unten krepieren lassen.«

»Du bist ein Schattenweltler«, erwiderte Samuel. »Und ich bin ein Verräter. Glaubst du ernsthaft, dass sie irgendetwas anderes tun würden?«

 

»Isabelle! Isabelle!« Alec hatte ihr die Hände auf die Schultern gelegt und schüttelte sie. 

Langsam hob Isabelle den Kopf; das blasse Gesicht ihres Bruders schwebte vor einem dunklen Hintergrund. Hinter seiner rechten Schulter ragte ein geschwungenes Stück Holz hervor: Alec hatte seinen Bogen umgeschnallt, denselben Bogen, mit dem Simon den Dämonenfürsten Abbadon getötet hatte. Isabelle konnte sich nicht daran erinnern, dass ihr älterer Bruder auf sie zugekommen war; sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass sie ihn auf der Straße gesehen hatte. Es schien ihr, als wäre er plötzlich wie ein Geist aus dem Nichts vor ihr aufgetaucht. 

»Alec.« Ihre Stimme zitterte und gehorchte ihr nur langsam. »Alec, hör auf. Mir geht’s gut.« Sie befreite sich aus seinem Griff.

»Du hast aber nicht so ausgesehen.« Alec schaute sich rasch um und fluchte leise. »Wir müssen unbedingt von der Straße runter. Wo ist Aline?«

Isabelle blinzelte. In ihrer unmittelbaren Umgebung waren keine Dämonen zu sehen. Auf der anderen Straßenseite kauerte jemand auf den Stufen eines Hauses und kreischte und heulte und stieß schrille Schreie aus. Der Leichnam des alten Mannes lag noch immer auf dem Kopfsteinpflaster und über allem waberte der Gestank von Dämonen. »Aline … einer der Dämonen hat versucht … hat versucht, sie zu …« Isabelle hielt inne und holte tief Luft. Sie war eine Lightwood. Sie würde nicht hysterisch werden, unter keinen Umständen. »Wir haben ihn getötet, aber dann ist Aline fortgerannt. Ich hab noch versucht, ihr zu folgen, aber sie war zu schnell.« Bestürzt schaute sie zu ihrem großen Bruder auf. »Dämonen in der Stadt«, sagte sie. »Wie ist das möglich?«

»Ich weiß es nicht.« Alec schüttelte den Kopf. »Die Schutzschilde müssen zusammengebrochen sein. Als ich aus dem Haus kam, liefen hier vier oder fünf Oni-Dämonen herum. Einen, der in den Büschen lauerte, hab ich erwischt. Die anderen sind abgehauen, aber sie können jeden Moment zurückkommen. Los, wir müssen zurück ins Haus.«

Die Frau auf den Stufen schluchzte noch immer herzzerreißend. Ihr Wehklagen folgte ihnen, während sie zum Haus der Penhallows rannten. Auf dem Weg dorthin begegneten ihnen keine weiteren Dämonen,.doch aus anderen dunklen Gassen drangen der Lärm von Explosionen, Schreie und hallende, hastende Schritte. Als die beiden Geschwister die Stufen zur Haustür der Penhallows hinaufliefen, warf Isabelle einen kurzen Blick über die Schulter und konnte gerade noch erkennen, wie ein langer, zuckender Fangarm aus der Dunkelheit zwischen zwei Häusern hervorpeitschte und die schluchzende Frau von den Stufen ihres Hauses riss. Ihr Schluchzen verwandelte sich in schrilles Schreien. Sofort versuchte Isabelle umzukehren, doch Alec hatte sie bereits an den Schultern gepackt, drängte sie rasch ins Haus, warf krachend die Haustür hinter sich ins Schloss und verriegelte sie. Das Haus lag vollkommen dunkel vor ihnen. 

»Ich habe alle Lichter gelöscht. Ich wollte nicht noch mehr Dämonen anlocken«, erklärte Alec und schob Isabelle vor sich her bis ins Wohnzimmer.

Max saß auf dem Boden vor den Treppenstufen, die Arme um die Knie geschlungen. Sebastian stand am Fenster und nagelte lange Holzscheite, die neben dem offenen Kamin gelagert hatten, kreuz und quer über die klaffende Öffnung im Fensterrahmen.

»So, fertig«, sagte er, trat einen Schritt zurück und legte den Hammer auf ein Bücherregal. »Das sollte eine Weile halten.«

Isabelle hockte sich neben Max auf die unterste Treppenstufe und strich ihm über die Haare. »Alles in Ordnung?«, fragte sie besorgt.

»Nein.« Die Augen des kleinen Jungen wirkten riesig und verängstigt. »Ich hab versucht, aus dem Fenster zu schauen, aber Sebastian meinte, ich solle mich ducken.«

»Da hatte Sebastian recht«, sagte Alec. »Draußen auf der Straße wimmelte es vor Dämonen.«

»Sind sie noch da?«

»Nein, aber sie ziehen weiterhin durch die Stadt. Wir müssen uns überlegen, was wir jetzt machen sollen.«

Sebastian runzelte die Stirn. »Wo ist Aline?«

»Sie ist weggerannt«, erklärte Isabelle. »Es war mein Fehler. Ich hätte …«

»Das war nicht dein Fehler. Ohne dich wäre sie jetzt tot«, widersprach Alec kurz angebunden. »Wir haben im Moment keine Zeit für Selbstbeschuldigungen. Ich werde versuchen, Aline zu finden, und ich will, dass ihr drei hierbleibt. Isabelle, kümmere dich um Max. Sebastian, sorg dafür, dass das Haus vollständig verriegelt ist.« 

»Ich will nicht, dass du allein losziehst!«, protestierte Isabelle empört. »Nimm mich mit.«

»Ich bin hier der Erwachsene. Was ich sage, wird gemacht.« Alecs Ton klang ruhig. »Es kann gut sein, dass unsere Eltern jeden Moment aus der Garnison zurückkehren. Und je mehr von uns dann hier sind, desto besser. Die Gefahr ist einfach zu groß, dass wir da draußen voneinander getrennt werden. Dieses Risiko will ich nicht eingehen, Isabelle.«

Dann warf er Sebastian einen kurzen Blick zu. »Hast du das verstanden?«

Sebastian hatte bereits seine Stele gezückt. »Ich werde das Haus mit Runen verriegeln.«

»Danke.« Alec war fast an der Tür, drehte sich jedoch noch einmal zu Isabelle um. Ihre Blicke trafen sich einen kurzen Moment und dann war er auch schon verschwunden.

»Isabelle.« Max” Stimme klang dünn und leise. »Du blutest am Handgelenk.«

Erstaunt sah Isabelle an sich herab. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie sich an der Hand verletzt hatte, doch Max hatte recht: Das Blut hatte bereits den Ärmel ihrer weißen Jacke rot verfärbt. Langsam stand sie auf. »Ich hol nur eben meine Stele und bin gleich wieder zurück, damit ich dir bei den Runen helfen kann, Sebastian.«

Sebastian nickte. »Ich könnte durchaus Hilfe gebrauchen. Runen sind nicht gerade meine Stärke.«

Isabelle verkniff sich die Frage, wo denn seine Stärken lägen, und stieg müde die Stufen hinauf. Sie fühlte sich wie zerschlagen und brauchte dringend eine Kraft-Rune, die sie sich notfalls auch selbst auftragen konnte, obwohl Alec und Jace diese Sorte von Runen immer leichter von der Hand gegangen war.

In ihrem Zimmer angekommen, wühlte sie in ihren Sachen, auf der Suche nach ihrer Stele und zusätzlichen Waffen. Während sie sich zwei Seraphklingen in den Schaft ihrer Stiefel schob, verweilten ihre Gedanken bei Alec und dem Blick, den sie getauscht hatten, ehe er durch die Tür verschwunden war. Es war nicht das erste Mal, dass sie zusah, wie ihr Bruder das Haus verließ - wohl wissend, dass sie ihn möglicherweise nie wieder zu Gesicht bekommen würde. Diese Tatsache hatte sie schon vor vielen Jahren akzeptiert; sie war Teil ihres Lebens. Aber erst als sie Clary und Simon kennengelernt hatte, war ihr bewusst geworden, dass es den meisten Menschen vollkommen anders erging. Sie mussten nicht mit dem Tod als ständigem Begleiter leben, seinen kalten Atem im Nacken spüren, selbst an ganz normalen Tagen. Ihr ganzes Leben lang hatte Isabelle - wie alle Schattenjäger - nur Verachtung für die Irdischen übrig gehabt; sie war davon überzeugt gewesen, dass sie schwach, dumm und von schafsartiger Selbstzufriedenheit waren. Doch jetzt fragte sie sich, ob dieser Hass nicht vielmehr auf Eifersucht beruhte. Es musste wundervoll sein, sich nicht jedes Mal Sorgen machen zu müssen, dass ein aufbrechendes Familienmitglied vielleicht nicht mehr zurückkehrte. 

Isabelle hatte bereits die Hälfte der Treppe zurückgelegt, die Stele in der Hand, als sie spürte, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Das Wohnzimmer lag wie ausgestorben vor ihr.

Max und Sebastian waren nirgends zu sehen. Auf einem der Holzscheite, die Sebastian über das zerbrochene Fenster genagelt hatte, glühte eine nur halb fertig gestellte Schutz-Rune. Und der Hammer, den er verwendet hatte, war verschwunden.

Isabelle zog sich der Magen zusammen. »Max!«, rief sie, von plötzlicher Panik erfasst, und drehte sich im Kreis. »Sebastian! Wo seid ihr?«

Sebastians Stimme antwortete ihr aus der Küche. »Isabelle - wir sind hier.«

Isabelle fiel ein Stein vom Herzen. Erleichtert marschierte sie in Richtung Küche. »Sebastian, das ist nicht lustig. Ich hab schon gedacht, ihr wärt…«

Sie stieß die Tür auf und zögerte. In der Küche war es finster, dunkler als im Wohnzimmer. Angestrengt spähte sie in die Dunkelheit, doch statt Sebastian und Max sah sie nur Schatten.

»Sebastian?« Zweifel schlichen sich in ihre Stimme. »Sebastian, was macht ihr hier? Wo ist Max?«

»Isabelle.«

Isabelle glaubte, eine Bewegung zu erkennen, einen dunklen Schatten vor einem etwas helleren Hintergrund. Seine Stimme klang sanft, freundlich, fast liebenswert. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, was für eine wunderschöne Stimme er hatte. »Isabelle, es tut mir leid.«

»Sebastian, wieso benimmst du dich so merkwürdig? Hör auf damit!«

»Es tut mir leid, dass es dich trifft«, sagte er. »Denn du musst wissen, dass ich dich von allen Schattenjägern am meisten mochte.«

»Sebastian …«

»Von allen Schattenjägern«, wiederholte er mit derselben sanften Stimme, »dachte ich, würdest du mir am meisten ähneln.«

Und dann ließ er seine Faust auf sie niedergehen, die Faust mit dem Hammer darin.

 

Alec rannte durch die dunklen, ausgebrannten Gassen und rief wieder und wieder Alines Namen. Als er das Viertel um die Princewater Street verließ und sich dem Zentrum der Stadt näherte, beschleunigte sich sein Pulsschlag. Die Straßen wirkten wie ein Gemälde von Hieronymus Bosch, das zum Leben erwacht war: Es wimmelte vor grotesken und makabren Kreaturen und Szenen plötzlicher, grauenhafter Gewalt. Von Panik erfüllte Menschen schoben Alec blind aus dem Weg und rannten schreiend und offenbar ziellos durcheinander. Die Luft war erfüllt von Brandgeruch und dem Gestank von Dämonen. Einige Häuser standen in Flammen, bei anderen waren sämtliche Fenster eingeschlagen. Glasscherben glitzerten auf dem Kopfsteinpflaster. Als Alec sich einem der Gebäude näherte, erkannte er, dass es sich bei dem, was er für einen dunklen Farbfleck gehalten hatte, tatsächlich um eine riesige Blutlache handelte, die bis weit in die Straße hineingespritzt war. Entsetzt wirbelte er herum und schaute suchend in jede Richtung, konnte aber nirgends eine Erklärung für das frische Blut entdecken. Obwohl keine unmittelbare Gefahr zu erkennen war, machte er sich schleunigst wieder auf den Weg.

Als einziges der Lightwood-Kinder konnte er sich noch an Alicante erinnern. Beim Wegzug der Familie nach New York war er zwar ein Kleinkind gewesen, doch er hatte noch immer vage Bilder im Kopf: von den schimmernden Türmen, den verschneiten Straßen im Winter, den bunten Lichterketten, die sich um Häuser und Geschäfte gewunden hatten, den sprudelnden Wasserfontänen des Meerjungfrau-Brunnens in der Halle des Abkommens. Beim Gedanken an Alicante hatte er immer einen Stich im Herzen verspürt, die sehnsuchtsvolle Hoffnung, eines Tages mit der Familie an den Ort zurückzukehren, an den sie gehörten. Doch der Anblick der Stadt in diesem Zustand machte diese Hoffnung ein für alle Mal zunichte. Zutiefst erschüttert bog er in eine breitere Straße ein, die zur Halle des Abkommens führte, und entdeckte plötzlich eine Horde Belial-Dämonen, die fauchend und heulend durch einen Torbogen krochen, in ihrem Schlepptau eine zuckende und sich windende Gestalt, die sie über das Kopfsteinpflaster zerrten. Sofort stürzte Alec die Straße hinunter, doch die Dämonen waren bereits verschwunden. Und am Fuß einer Säule lehnte ein schlaffer Körper, aus dem ein dünnes Blutrinnsal auf den Boden sickerte. Glasscherben knirschten wie Kieselsteine unter Alecs Stiefeln, als er sich hinabbeugte, um den Leichnam umzudrehen. Nach einem kurzen Blick auf das violett verfärbte, verzerrte Gesicht wandte er sich schauernd ab, dankbar, dass es sich um niemanden handelte, den er kannte. 

Ein plötzliches Geräusch ließ ihn zusammenzucken; rasch richtete er sich auf. Den Gestank nahm er noch vor dem Schatten war - der Schatten einer riesigen, buckligen Kreatur, die sich schlängelnd vom unteren Ende der Straße auf ihn zubewegte. Ein Dämonenfürst? Alec hatte kein Interesse abzuwarten, um es herauszufinden. Er stürmte auf die andere Straßenseite zu einem der größeren Häuser und sprang auf das Sims eines Fensters, dessen Scheibe zerschlagen war. Wenige Minuten später zog er sich mit schmerzenden Händen und blutenden Knien an der Dachkante hoch. Schnaufend rappelte er sich auf, klopfte sich den Dreck von den Händen und schaute auf Alicante hinab.

Die defekten Dämonentürme warfen ein trübes, mattes Licht auf die wimmelnden Straßen, durch die Kreaturen sprangen, krochen und schlichen wie huschende Kakerlaken in einer heruntergekommenen Wohnung. Die kalte Nachtluft trug Schreie und Rufe zu ihm aufs Dach: das Schluchzen und Jammern von Menschen, aber auch das Kreischen und Johlen der Dämonen, ihre spitzen Freudenschreie, die Alecs menschliches Gehör wie Nadelstiche trafen. Rauch stieg über den sandsteinfarbenen Häusern auf und hüllte die Stadt in einen grauen Dunst, der sich bereits um die Türme der Abkommenshalle rankte. Als Alec zur Garnison hinaufschaute, entdeckte er ganze Heerscharen von Schattenjägern, die den Hügel hinunterstürmten, von den Elbenlichtsteinen in ihren Händen in helles Licht getaucht. Der Rat zog in die Schlacht.

Vorsichtig tastete Alec sich an den Rand des Dachs. Die Häuser standen in diesem Teil der Stadt so dicht beieinander, dass ihre Traufen sich fast berührten. Es war eine Kleinigkeit, von einem Dach auf das nächste und von dort weiter auf das übernächste zu springen. Mühelos balancierte Alec über die Dachfirste und schnellte über die tiefen, aber nicht sehr breiten Schluchten zwischen den Häusern. Es tat gut, den kalten Wind im Gesicht zu spüren und dem Gestank der Dämonen zu entkommen.

Auf diese Weise bewegte er sich ein paar Minuten vorwärts, bis ihm zwei Tatsachen bewusst wurden: Erstens rannte er in Richtung der weißen Türme der Abkommenshalle. Und zweitens stieg weiter vor ihm, auf einem Platz zwischen zwei Gassen, irgendetwas Flackerndes auf, etwas, das wie eine sprühende Wunderkerze aussah - allerdings mit einem blauen Funkenregen von der Farbe einer heißen Gasflamme. Solche blauen Funken hatte Alec schon einmal gesehen. Einen Moment lang starrte er wie gebannt auf die Lichterscheinung, dann rannte er los.

Das Dach des Hauses direkt am Platz besaß eine gefährlich steile Neigung. Bedachtsam rutschte Alec vom First zur Dachkante hinab, wobei seine Stiefel ein paar Pfannen lostraten, die krachend zu Boden gingen. Am Rand angekommen, warf er einen vorsichtigen Blick über die Kante.

Unter ihm lag der Zisternenplatz. Eine massive Metallstange, die etwa auf Höhe des ersten Stockwerks aus der Fassade des Gebäudes herausragte, versperrte ihm teilweise die Sicht. An der Stange war ein hölzernes Ladenschild befestigt, das in der Brise leise hin und her schaukelte. Auf dem Platz wimmelte es vor Iblis-Dämonen - Kreaturen mit menschlicher Gestalt, doch geformt aus wirbelndem schwarzem Qualm und mit glühenden gelben Augen ausgestattet. Sie hatten sich in einer Reihe aufgestellt und bewegten sich langsam auf eine einsame männliche Gestalt in einem wehenden grauen Mantel zu, die sich zu einem Rückzug genötigt sah, der allerdings von einer Mauer gestoppt wurde. Atemlos starrte Alec auf die Szenerie unter ihm. Der von den Dämonen bedrohte Mann kam ihm bekannt vor, sogar sehr bekannt - die schlanken Konturen seines Rückens, die wild zerzausten schwarzen Haare und die sprühenden Funken, die wie blaue Glühwürmchen von seinen Fingerspitzen in alle Richtungen zischten. 

Magnus. Der Hexenmeister schleuderte blaue Flammenspeere gegen die Iblis-Dämonen. Eine der Wurfwaffen traf einen sich nähernden Dämon mitten in die Brust, woraufhin er sich mit einem zischenden Geräusch - wie von Wasser ersticktem Feuer - zuckend wand und dann in einer Rauchsäule auflöste. Doch andere Dämonen nahmen sofort seinen Platz ein und Magnus feuerte eine weitere Salve glühender Flammenspeere. Mehrere Iblis gingen zu Boden, aber ein anderer Dämon, der gerissener war als die anderen, hatte sich um Magnus herumbewegt und näherte sich ihm schräg von hinten, bereit zuzuschlagen … 

Alec dachte nicht lange nach. Stattdessen machte er einen Satz, hielt sich an der Dachkante fest und sprang direkt nach unten, bis er die Metallstange zu fassen bekam. Dann schwang er sich einmal um ihre Achse, um seinen Sturz abzubremsen, ließ sie anschließend los und landete geschickt auf dem Boden. Überrumpelt fuhr der Dämon herum; seine gelben Augen glühten wie funkelnde Edelsteine. Wenn Jace jetzt an seiner Stelle gewesen wäre, dann hätte er bestimmt noch einen cleveren Spruch losgelassen, schoss es Alec durch den Kopf, eine sarkastische Bemerkung, ehe er die Seraphklinge gezückt und dem Dämon in den rauchigen Leib gerammt hätte. Aber das Ergebnis blieb das Gleiche: Mit einem schrillen Aufschrei löste sich der Dämon in Luft auf und ließ bei seinem gewaltsamen Verlassen dieser Dimension nur einen feinen Aschenregen zurück, der über Alec niederging.

»Alec?« Ungläubig starrte Magnus ihn an. Er hatte inzwischen die restlichen Iblis-Dämonen ins Jenseits befördert und der Platz war bis auf sie beide vollkommen leer. »Hast du … hast du mir gerade das Leben gerettet?« 

Alec wusste, dass er an dieser Stelle eigentlich etwas sagen sollte, etwas in der Art von Natürlich! Schließlich bin ich ein Schattenjäger! oder Dos ist nun mal mein Job. Jace hätte bestimmt etwas Derartiges gesagt. Jace wusste immer die richtige Antwort, in jeder Situation. Doch die Worte, die schließlich aus Alecs Mund kamen, klangen vollkommen anders - irgendwie bockig, selbst in seinen eigenen Ohren. »Du hast mich nicht ein einziges Mal zurückgerufen«, stieß er hervor. »Ich habe dich so oft angerufen und du hast dich nicht einmal zurückgemeldet.« 

Magnus musterte Alec, als hätte er den Verstand verloren. »Deine Heimat wird angegriffen«, erwiderte er. »Die Schutzschilde sind zusammengebrochen und in den Straßen wimmelt es vor Dämonen. Und du willst wissen, warum ich mich nicht bei dir gemeldet habe?« 

Trotzig schob Alec das Kinn vor. »Ich will wissen, warum du mich nicht zurückgerufen hast.« 

Mit einem Ausdruck entnervter Verzweiflung warf Magnus die Arme in die Luft. Interessiert beobachtete Alec, dass sich dabei ein paar Funken von seinen Fingerspitzen lösten, wie Glühwürmchen, die aus einem Einmachglas entwischten. »Du bist ein verdammter Idiot!«, stieß Magnus hervor.

»Deswegen hast du mich nicht angerufen? Weil ich ein Idiot bin?«

»Nein.« Mit hoch erhobenem Kopf marschierte Magnus auf Alec zu. »Ich habe mich nicht gemeldet, weil ich es leid bin, dass du mich immer nur dann in deiner Nähe haben willst, wenn du irgendetwas brauchst. Ich bin es leid zuzusehen, wie du jemand anderen anhimmelst - jemanden, der, nebenbei bemerkt, deine Gefühle niemals erwidern wird. Jemand, der dich nicht liebt… nicht so wie ich dich liebe.«

»Du liebst mich?« 

»Du dummer Nephilim«, sagte Magnus geduldig. »Warum wäre ich sonst wohl hier? Warum hätte ich wohl sonst die letzten Wochen damit verbracht, all deine geistesschwachen Freunde wieder zusammenzuflicken, sobald sie sich mal wieder verletzt haben? Und dich aus jeder lächerlichen Situation zu holen, in die du dich hineinmanövriert hast? Ganz zu schweigen von meiner Hilfe bei der Schlacht gegen Valentin. Und das alles, ohne auch nur einen einzigen Cent zu kassieren!«

»So habe ich das noch gar nicht betrachtet«, räumte Alec ein.

»Natürlich nicht. Du hast die Situation noch auf keine Weise betrachtet.« Magnus’ Katzenaugen funkelten vor Wut. »Ich bin siebenhundert Jahre alt, Alexander. Ich weiß, wann etwas nicht funktioniert. Du hast mich deinen Eltern gegenüber ja noch nicht einmal auch nur erwähnt.«

Sprachlos starrte Alec ihn an. »Du bist siebenhundert Jahre alt?« 

»Also gut, achthundert«, gestand Magnus. »Allerdings sehe ich nicht danach aus! Aber das steht hier nicht zur Debatte. Der entscheidende Punkt ist schließlich …«

Doch Alec sollte nicht mehr herausfinden, was der entscheidende Punkt war, da in diesem Moment ein weiteres Dutzend Iblis-Dämonen auf den Platz strömte. Alec spürte, wie ihm der Mund offen stehen blieb. »Verdammt!«

Sofort wirbelte Magnus herum und folgte Alecs Blick. Die Dämonen hatten sich bereits fächerförmig um sie herum ausgebreitet und ihre gelben Augen glühten bösartig. »Das ist wirklich ein ganz mieser Trick, das Thema zu wechseln, Lightwood«, nörgelte Magnus.

»Ich sag dir was.« Alec griff nach seiner zweiten Seraphklinge. »Wenn wir das hier heil überstehen, verspreche ich dir, dass ich dich meiner gesamten Familie vorstellen werde.«

Magnus hob die Hände und spreizte die Finger, von denen einzelne azurblaue Flammen in die Höhe schössen. Sie ließen sein breites Grinsen in einem funkelnden blauen Schein erstrahlen. »Abgemacht!«

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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