8

EINER DER LEBENDEN

 

Simon erwachte, als ein Sonnenstrahl auf sein Gesicht fiel. Als er die Augen öffnete, konnte er erkennen, dass das Licht von einem glitzernden Objekt, das zwischen den Gitterstäben des Zellenfensters hindurchgeschoben worden war, reflektiert wurde. Müde und mit einem quälenden Hungergefühl rappelte er sich auf und stellte fest, dass es sich bei dem Gegenstand um eine Metallflasche handelte, etwa von der Größe einer Thermoskanne. Ein zusammengerolltes Stück Papier war am Hals der Flasche befestigt. Simon riss die Nachricht ab, faltete sie auseinander und las:

 

Simon, das ist Rinderblut, frisch vom Metzger. Ich hoffe, das ist okay. Jace hat mir erzählt, was du gesagt hast, und ich möchte, dass du weißt, dass ich das wirklich tapfer finde. Halt durch - wir werden uns einen Weg ausdenken, wie wir dich da rausholen.

 XOXOXOXOXOXOX Isabelle

 

Simon lächelte, als er die von Hand geschriebenen X und 0 am unteren Rand des Papiers sah. Es war schön zu wissen, dass Isabelles überschwängliche Zuneigung unter den derzeitigen Umständen nicht gelitten hatte. Hungrig schraubte er den Deckel von der Flasche und trank begierig, als er plötzlich einen stechenden Schmerz zwischen den Schulterblättern spürte und herumwirbelte. 

In der Mitte der Zelle stand Raphael, mit angespannten Schultern, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Er trug ein gestärktes, frisch gebügeltes weißes Hemd unter einer dunklen Jacke und an seiner Kehle glitzerte eine Goldkette.

Simon hätte den Schluck Blut, den er gerade genommen hatte, fast wieder ausgespuckt. Er schluckte ein paarmal und starrte Raphael bestürzt an. »Du … du kannst unmöglich hier sein«, stieß er hervor.

Raphael schenkte ihm ein Lächeln, das den irreführenden Eindruck erweckte, als wären seine Eckzähne zum Vorschein gekommen. »Nur keine Panik, Tageslichtler!«

»Ich bin absolut nicht panisch«, erwiderte Simon, obwohl das nicht stimmte. Er hatte ein Gefühl, als hätte er etwas Scharfes, Spitzes geschluckt. Seit jener Nacht, in der er sich mit blutigen, eingerissenen Nägeln aus einem hastig ausgehobenen Grab in Queens befreit hatte, war er Raphael nicht mehr begegnet. Aber er wusste noch ganz genau, wie Raphael ihm Beutel mit Tierblut gereicht und wie er die Zähne hineingeschlagen hatte, als wäre er selbst ein Tier - keine besonders schöne Erinnerung. Es hätte Simon überhaupt nichts ausgemacht, wenn er den Vampirjungen nie wieder zu Gesicht bekommen hätte. »Die Sonne ist noch zu sehen. Wie kann es sein, dass du hier bist?«

»Bin ich nicht.« Raphaels Stimme klang geschmeidig wie Butter. »Ich bin eine Projektion. Sieh her.« Er wedelte mit der Hand und führte sie durch die Mauer neben ihm. »Ich bin wie Rauch. Weder kann ich dir Schaden zufügen noch kannst du mich verletzen.«

»Ich hab auch gar nicht vor, dich zu verletzen.« Simon stellte die Metallflasche auf die Pritsche. »Allerdings würde ich gern wissen, was du hier zu suchen hast.« 

»Du bist ziemlich schnell aus New York verschwunden, Tageslichtler. Dir ist doch klar, dass du den Anführer deines örtlichen Vampirclans zu informieren hast, wenn du die Stadt verlassen willst, oder?«

»Den Anführer? Du meinst dich? Ich dachte, jemand anderes würde euren Clan anführen …«

»Camille ist noch nicht zu uns zurückgekehrt«, erwiderte Raphael, scheinbar vollkommen emotionslos. »In der Zwischenzeit bin ich ihr Stellvertreter. Aber das wüsstest du alles, wenn du dir mal die Mühe gemacht hättest, dich mit dem Verhaltenskodex deiner Art zu beschäftigen.«

»Meine überstürzte Abreise aus New York war nicht geplant. Und nimm es nicht persönlich, aber ich betrachte dich keineswegs als jemanden >meiner Art<.«

»Dios.« Raphael senkte die Lider, als wolle er seine Belustigung verbergen. »Du bist wirklich stur.« 

»Wie kannst du das sagen?«

»Na, das liegt doch auf der Hand, oder?«

»Ich meinte …« Simon spürte, wie es ihm die Kehle zuschnürte. »… dieses Wort. Du kannst es aussprechen, aber ich nicht…«Ich kann nicht Gott sagen, dachte er. 

Raphael schaute amüsiert an die Decke. »Eine Frage des Alters«, erklärte er. »Der Übung. Und des Glaubens. Beziehungsweise des Verlusts des Glaubens - was in mancher Hinsicht auf das Gleiche hinausläuft. Du wirst es schon noch lernen … im Laufe der Zeit, kleiner Frischling.«

»Nenn mich nicht so.« 

»Aber genau das bist du doch. Du bist ein Kind der Nacht. War das nicht der Grund, weswegen Valentin dich entfuhrt und dir dein Blut entzogen hat? Weil du bist, was du bist…«

»Du scheinst ja ziemlich gut informiert zu sein«, entgegnete Simon. »Dann kannst du mir diese Frage ja vielleicht beantworten.« 

Raphael kniff die Augen zu Schlitzen zusammen. »Ich hab auch noch ein anderes Gerücht gehört: Du sollst das Blut eines Schattenjägers getrunken haben, was angeblich die Ursache für deine Gabe ist… deine Fähigkeit, am Tage auf Erden zu wandeln. Ist da was dran?«

Simon stellten sich die Nackenhaare auf. »Das ist doch lächerlich. Wenn Schattenjägerblut Vampiren diese Fähigkeit verleihen würde, dann wäre das längst bekannt. Das Blut der Nephilim wäre äußerst begehrt. Und zwischen Vampiren und Schattenjägern würde niemals Friede herrschen. Daher bin ich echt froh, dass an diesem Gerücht nichts dran ist.« 

Ein mattes Lächeln umspielte Raphaels Mundwinkel. »Auch wieder wahr. Apropos äußerst begehrt: Dir ist doch wohl klar, Tageslichtler, dass du selbst ebenfalls sehr gefragt bist, oder? Auf diesem Planeten gibt es keinen einzigen Schattenweltler, der dich nicht gern in die Finger bekommen würde.«

»Zählst du auch dazu?«

»Natürlich!«

»Und was würdest du dann machen, wenn du mich in die Finger bekämst?«

Raphael zuckte die Achseln. »Vielleicht bin ich ja der Einzige, der die Fähigkeit, am Tage auf Erden zu wandeln, für weniger erstrebenswert hält als andere Vampire. Nicht umsonst sind wir die Kinder der Nacht. Es wäre möglich, dass du mir ein ebenso großes Gräuel bist wie meinesgleichen der Menschheit.« 

»Und, ist das so?«

»Möglicherweise.« Raphael musterte Simon mit einem neutralen Gesichtsausdruck. »Ich glaube, dass du für uns alle eine Gefahr darstellst. Eine Gefahr für die Vampirheit, wenn du so willst. Und du kannst nicht ewig in dieser Zelle bleiben, Tageslichtler. Irgendwann wirst du sie verlassen und dich der Welt stellen müssen … mir stellen müssen. Aber ich kann dir eines versprechen: Ich schwöre, ich werde dir kein Haar krümmen und nicht versuchen, dich aufzuspüren, wenn du mir deinerseits versprichst, dass du dich verstecken wirst, sobald Aldertree dich wieder freigelassen hat. Wenn du versprichst, dass du fortgehen wirst… so weit fort, dass niemand dich jemals finden wird. Und dass du zu niemandem mehr Kontakt aufnimmst, den du während deines irdischen Lebens kennengelernt hast. Ich finde, das ist ein faires Angebot.« 

Doch Simon schüttelte bereits den Kopf. »Ich kann meine Familie nicht im Stich lassen. Oder Clary.«

Raphael stieß ein gereiztes Schnauben hervor. »Sie sind nicht länger Teil dessen, was du jetzt bist. Du bist ein Vampir.«

»Aber ich will kein Vampir sein«, protestierte Simon.

»Sieh dich doch mal an - du Jammerlappen«, erwiderte Raphael. »Dabei wirst du niemals krank werden, niemals sterben, immer stark sein und auf ewig jung bleiben. Du wirst niemals altern. Worüber beschwerst du dich also?«

Auf ewig jung, dachte Simon. Das klang zwar gut, aber wollte er wirklich für immer sechzehn bleiben? Es wäre etwas anderes, mit fünfundzwanzig nicht mehr zu altern, aber mit sechzehn? War es wirklich erstrebenswert, für immer so schlaksig zu sein und sich niemals zu seinem wahren Ich zu entwickeln, in seinen wahren Körper hineinzuwachsen? Ganz abgesehen von der Tatsache, dass er mit diesem Äußeren niemals eine Bar betreten und einen Drink bestellen konnte. Niemals. In aller Ewigkeit nicht. 

»Und du brauchst nicht einmal das Licht der Sonne aufzugeben«, fügte Raphael hinzu.

Aber Simon hatte keine Lust, dieses Thema noch mal anzuschneiden. »Als ich im Hotel Dumort war, hab ich gehört, was die anderen sich über dich erzählt haben. Ich weiß, dass du jeden Sonntag deine Goldkette mit dem Kreuz anlegst und deine Familie besuchst. Und ich wette, die weiß nicht mal, dass du ein Vampir bist. Also sag du mir nicht, ich solle einfach alle Menschen aus meinem bisherigen Leben zurücklassen. Das werde ich nicht tun und ich werde dir das auch nicht vorgaukeln«, konterte er. 

Raphaels Augen glitzerten. »Was meine Familie glaubt, spielt keine Rolle. Es zählt nur das, was ich selbst glaube. Was ich weiß. Ein wahrer Vampir weiß, dass er tot ist. Und er akzeptiert seinen Tod. Doch du … du glaubst, du wärest noch immer einer der Lebenden. Und genau das macht dich so gefährlich. Du willst nicht akzeptieren, dass du nicht länger am Leben bist.«

 

Die Abenddämmerung hatte bereits eingesetzt, als Clary die Eingangstür von Amatis’ Haus hinter sich verriegelte. Müde schloss sie die Augen, lehnte sich gegen die Tür und verweilte einen langen Moment im halbdunklen Flur. Sie spürte die Erschöpfung in allen Gliedern und ihre Beine schmerzten höllisch. 

»Clary?« Amatis’ drängende Stimme schnitt durch die Stille. »Clary, bist du da?«

Clary rührte sich nicht von der Stelle, hielt die Augen geschlossen und gab sich einen Moment der Ruhe und Dunkelheit hin. Mit jeder Faser ihres Körpers sehnte sie sich nach ihrem Zuhause - sie verlangte so sehr danach, dass sie glaubte, die metallische Luft von Brooklyns Straßen fast auf der Zunge schmecken zu können. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihre Mutter … wie sie auf ihrem Malschemel saß, während gedämpftes hellgelbes Licht durch die geöffneten Fenster in die Wohnung fiel und die Leinwand erhellte. Eine Woge des Heimwehs erfasste Clary und versetzte ihr einen Stich ins Herz.

»Clary.« Die Stimme klang nun viel näher. Ruckartig riss Clary die Augen auf. Amatis stand unmittelbar vor ihr, die grauen Haare streng nach hinten gekämmt und die Hände in die Hüften gestemmt. »Dein Bruder ist zu Besuch gekommen. Erwartet in der Küche auf dich.«

»Jace ist hier?« Clary versuchte mit Macht, sich ihre Wut und Überraschung nicht anmerken zu lassen. Es hatte keinen Zweck, vor Lukes Schwester die Beherrschung zu verlieren. 

Amatis musterte sie neugierig. »Hätte ich ihn denn nicht hereinlassen sollen? Ich dachte, du wolltest ihn unbedingt sehen.«

»Doch, doch, ist schon okay«, sagte Clary, weiterhin um einen ruhigen Ton bemüht. »Ich bin einfach nur müde.«

»Ach.« Amatis warf ihr einen Blick zu, als würde sie ihr nicht glauben. »Also gut, ich bin oben, falls du mich brauchst. Ich werde mich etwas hinlegen.«

Clary konnte sich zwar nicht vorstellen, weshalb sie Amatis brauchen sollte, doch sie nickte und trottete dann den Flur entlang in die hell erleuchtete Küche. Auf dem Holztisch stand eine Schale mit Obst - Orangen, Äpfel und Birnen. Daneben lag ein dicker Brotlaib mit Butter und Käse sowie ein Teller mit … Plätzchen? Hatte Amatis tatsächlich Plätzchen gebacken? 

Am Tisch saßjace, vornüber auf die Ellbogen gestützt. Seine goldblonden Haare waren zerzaust und sein Hemd stand am Kragen leicht offen. Clary konnte die breiten schwarzen Linien seiner Runenmale auf dem Schlüsselbein erkennen. In der bandagierten Hand hielt er ein Plätzchen. Dann hatte Sebastian also recht gehabt: Jace hatte sich tatsächlich verletzt. Nicht, dass sie das interessierte …

»Ah, da bist du ja endlich«, sagte er. »Ich hatte mir schon allmählich Sorgen gemacht, du könntest in einen Kanal gefallen sein.«

Clary starrte ihn wortlos an; sie fragte sich, ob er die Wut in ihren Augen sehen konnte. Doch Jace lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und legte einen Arm lässig über die Rückenlehne. Wenn der schnelle Pulsschlag in seiner Kehlgrube nicht gewesen wäre, hätte Clary ihm seine gespielte Gleichgültigkeit vielleicht abgenommen.

»Du siehst erschöpft aus«, fügte er hinzu. »Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«

»Ich war mit Sebastian unterwegs.«

»Sebastian?«

Der Ausdruck vollkommener Verblüffung auf seinem Gesicht schenkte Clary ein Gefühl kurzfristiger Genugtuung.

»Er hat mich gestern Abend nach Hause gebracht«, sagte Clary. Gleichzeitig schössen ihr die Worte Von jetzt an werde ich nur noch dein Bruder sein, nur noch dein Bruder wie der Rhythmus eines gebrochenen Herzens durch den Kopf. »Außerdem war er bisher der einzige Mensch in dieser Stadt, der auch nur ein bisschen nett zu mir gewesen ist. Ja, du hast richtig gehört: Ich war mit Sebastian unterwegs.« 

»Verstehe.« Mit ausdrucksloser Miene legte Jace das Plätzchen wieder auf den Teller. »Clary, ich bin hierhergekommen, um mich zu entschuldigen. Ich hätte nicht so mit dir reden dürfen.«

»Nein, das hättest du wirklich nicht«, erwiderte Clary.

»Außerdem wollte ich dich fragen, ob du nicht vielleicht doch noch mal darüber nachdenken und nach New York zurückkehren willst.«

»Ach herrje«, murmelte Clary. »Nicht schon wieder …«

»Hier ist es einfach nicht sicher für dich.«

»Worüber machst du dir eigentlich Sorgen?«, fragte Clary tonlos. »Dass man mich ins Gefängnis werfen könnte - so wie Simon?«

Jace’ Gesichtsausdruck blieb unverändert, aber er wippte mit seinem Stuhl zurück und balancierte auf dessen beiden hinteren Beinen, als hätte Clary ihm einen Stoß verpasst. »Simon …?«

»Sebastian hat mir erzählt, was mit ihm passiert ist«, fuhr Clary mit weiterhin tonloser Stimme fort. »Was du getan hast. Dass du ihn hierhergebracht und dann zugelassen hast, dass man ihn ins Gefängnis geworfen hat. Legst du es darauf an, dass ich dich hasse?« 

»Und du vertraust Sebastian?«, fragte Jace. »Du kennst ihn doch kaum, Clary.«

Wütend funkelte sie ihn an. »Entspricht es denn nicht der Wahrheit?«

Jace hielt ihrem Blick stand, doch sein Gesicht war so bleich geworden wie das von Sebastian, als sie ihn von sich gestoßen hatte. »Doch, es stimmt.«

Im Bruchteil einer Sekunde packte Clary einen Teller vom Tisch und warf ihn nach ihm. Jace duckte sich, sodass der Stuhl heftig schwankte und der Teller oberhalb der Spüle gegen die Wand krachte und in tausend Scherben zerbrach. Einen Moment später war Jace auf den Beinen, als Clary den nächsten Teller nahm und blind nach ihm warf: Dieser prallte jedoch vom Kühlschrank ab und landete vor Jace’ Füßen, wo er in zwei gleich große Teile zersprang.

»Wie konntest du das nur tun? Simon hat dir vertraut. Wo ist er jetzt? Was haben sie mit ihm vor?«, schrie sie.

»Nichts«, erklärte Jace. »Es geht ihm gut. Ich habe ihn gestern Abend noch gesehen …«

»Bevor oder nachdem ich bei dir war? Bevor oder nachdem du so getan hast, als wäre alles in Ordnung und dir ginge es prima?«

»Du hast geglaubt, mir ginge es prima?« Jace stieß eine Art unterdrücktes Lachen aus. »Dann muss ich ein besserer Schauspieler sein, als ich dachte.« Ein schiefes Lächeln umspielte seine Lippen. Ein Lächeln, das Clarys Wut schlagartig wieder entfachte: Wie konnte er es wagen, sie auszulachen? Sie griff nach der Obstschale, doch plötzlich schien ihr das nicht mehr zu reichen. Wutentbrannt stieß sie den Stuhl beiseite und stürzte sich auf Jace, wohl wissend, dass er das niemals von ihr erwarten würde. 

Die Wucht ihres plötzlichen Angriffs überrumpelte ihn: Er taumelte zurück und stieß hart gegen die Kante der Küchenanrichte. Überrascht hielt er die Luft an, als Clary blind ausholte …

Doch sie hatte vergessen, wie schnell er war. Ihre Faust traf nicht auf sein Gesicht, sondern in seine erhobene Handfläche. Resolut schloss er seine Finger um ihre und zwang ihren Arm nach unten.

Plötzlich wurde Clary sich bewusst, wie dicht sie beieinanderstanden: Sie lehnte gegen Jace und drückte ihn mit der ganzen Kraft ihres kleinen Körpers gegen die Anrichte. »Lass meine Hand los«, murmelte sie.

»Wenn ich das tue, wirst du dann nicht mehr versuchen, mich zu schlagen?« Seine Stimme klang rau und sanft zugleich und seine Augen funkelten.

»Meinst du nicht, dass du es verdient hättest?«

Clary spürte, wie sich seine Brust hob und senkte, als Jace freudlos lachte. »Glaubst du ernsthaft, ich hätte das alles geplant? Denkst du wirklich, dass ich so etwas tun würde?«

»Na ja, du magst Simon doch nicht besonders, oder? Vielleicht hast du ihn ja noch nie leiden können.«

Jace stieß ein raues, ungläubiges Geräusch aus und gab ihre Hand frei. Als Clary einen Schritt zurücktrat, hielt er ihr den rechten Arm entgegen, mit der Handfläche nach oben. Clary benötigte einen Moment, bis sie erkannte, was er ihr zeigte: eine zerklüftete Narbe an seinem Handgelenk. »Das hier«, sagte er mit fast zum Reißen angespannter Stimme, »ist die Stelle, an der ich meine Pulsader aufgeschlitzt habe, um deinen Vampirfreund von meinem Blut trinken zu lassen. Fast wäre ich dabei draufgegangen. Und jetzt glaubst du, dass ich ihn einfach im Stich gelassen habe?« 

Sprachlos starrte Clary auf die Narbe an Jace’ Handgelenk - eine von vielen, die seinen ganzen Körper bedeckten. Narben jeder Größe und Gestalt. »Sebastian hat mir erzählt, dass du Simon hierhergebracht hast und dass Alec ihn zur Garnison geschleppt hat. Ihn dem Rat überlassen hat. Das musst du doch gewusst haben …«

»Ich habe Simon nicht absichtlich nach Alicante gebracht. Ich hatte ihn gebeten, sich mit mir am Institut zu treffen, um zu reden. Über dich, wenn du es genau wissen willst. Ich hatte gehofft, er könnte dich vielleicht davon überzeugen, nicht nach Idris zu reisen. Aber falls dir das irgendein Trost ist: Er wollte nicht einmal darüber nachdenken. Während er dort war, wurden wir von Forsaken angegriffen. Ich musste ihn mit mir durch das Portal schleppen. Entweder das oder er wäre gestorben.« 

»Aber warum hast du ihn dem Rat übergeben? Dir muss doch klar gewesen sein, was der mit ihm macht…«

»Wir haben Simon nur aus einem Grund in die Garnison gebracht: Dort befindet sich das einzige Portal in ganz Idris. Uns wurde versichert, man würde ihn direkt nach New York zurückschicken.«

»Und das hast du geglaubt? Nach allem, was die Inquisitorin getan hat?« 

»Clary, die Inquisitorin war eine Ausnahme. Möglicherweise war das deine erste Begegnung mit dem Rat, aber nicht meine - der Rat sind wir. Die Nephilim. Sie befolgen das Gesetz.« 

»Was sie aber nicht getan haben!«

»Nein«, bestätigte Jace. »Das haben sie nicht.« Plötzlich klang er sehr müde. »Und das Schlimmste daran ist die Tatsache, dass ich noch genau weiß, wie Valentin gegen den Rat gewettert hat… wie korrupt er sei … dass er unbedingt geläutert werden müsse. Und beim Erzengel Raziel - ich kann nicht anders, als ihm beizupflichten.«

Clary war still geworden - zum einen, weil sie nicht wusste, was sie darauf antworten sollte, und zum anderen, weil Jace, zu ihrer großen Verblüffung, die Arme nach ihr ausstreckte und sie fast geistesabwesend an sich zog. Und zu ihrer eigenen Überraschung ließ sie ihn gewähren. Durch den weißen Stoff seines Hemdes konnte sie die Konturen seiner Runenmale erkennen, die sich schwarz und züngelnd wie Flammen über seine Haut ausbreiteten. Sie sehnte sich danach, den Kopf an seine Brust zu lehnen, seine Arme um sich zu spüren … Sie sehnte sich so sehr danach, wie ihr Körper nach Sauerstoff verlangt hatte, als sie im Lyn-See zu ertrinken drohte.

»Vielleicht hat Valentin recht, dass sich einige Dinge ändern müssen«, sagte sie nach einer Weile. »Aber mit der Art und Weise, wie er diese Dinge ändern will, liegt er falsch. Das siehst du doch genauso, oder?«

Jace senkte die Lider. Unter seinen halb geschlossenen Augen entdeckte Clary graue Schatten - Zeugnis vieler schlafloser Nächte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt noch etwas sehen kann. Du bist zu Recht wütend, Clary. Ich hätte dem Rat nicht trauen dürfen. Aber ich wollte so gern glauben, dass die Inquisitorin eine Ausnahme war… dass sie ohne Einwilligung des Rats gehandelt hat… dass es immer noch ein paar Dinge gibt, auf die jeder Schattenjägervertrauen kann.«

»Jace«, wisperte Clary.

Jace öffnete die Augen und schaute zu ihr hinab. Sie beide waren einander nun so nahe, dass ihre Körper sich überall berührten, bemerkte Clary. Sogar ihre Knie drückten gegeneinander und Clary konnte Jace’ Herzschlag spüren. Rück von ihm ab, ermahnte sie sich, doch ihre Beine wollten ihr nicht gehorchen. 

»Ja? Was ist denn?«, fragte er mit sanfter Stimme.

»Ich möchte zu Simon«, sagte Clary. »Kannst du mich zu ihm bringen?«

So unvermittelt, wie er sie an sich gezogen hatte, so abrupt ließ er sie auch wieder los. »Nein. Du dürftest eigentlich gar nicht in Idris sein. Du kannst nicht einfach in die Garnison hineinspazieren.«

»Aber Simon wird glauben, dass alle ihn im Stich gelassen haben. Er wird denken …«

»Ich habe ihn besucht«, erklärte Jace. »Ich wollte ihn da rausholen … ich war bereit, die Gitterstäbe vor seinem Fenster mit meinen eigenen Händen niederzureißen.« Seine Stimme klang nüchtern. »Aber er wollte nichts davon wissen.«

»Er wollte nicht, dass du ihm hilfst? Simon wollte im Gefängnis bleiben?«

»Er meinte, der Inquisitor würde meiner Familie nachspionieren, mir nachspionieren. Aldertree will uns die Schuld an den Ereignissen in New York in die Schuhe schieben. Natürlich kann er sich nicht einfach einen von uns schnappen und ein Geständnis herauspressen - das würde der Rat niemals gutheißen. Aber Aldertree versucht, Simon dazu zu bringen, irgendeine erfundene Geschichte zu bestätigen, nach der wir alle mit Valentin im Bunde stehen. Simon meint, wenn ich ihm helfe auszubrechen, wird der Inquisitor wissen, dass ich es war, und das würde die Situation für die Lightwoods nur noch verschlimmern.« 

»Das ist ja wirklich sehr nobel von ihm, aber wie lautet denn sein langfristiger Plan? Für immer im Gefängnis bleiben?«

Jace zuckte die Achseln. »Das haben wir noch nicht genau besprochen.«

Clary stieß einen entnervten Seufzer aus. »Männer!«, murmelte sie. »Also gut. Was du brauchst, ist ein Alibi. Wir werden dafür sorgen, dass du an einem Ort bist, wo jeder dich sehen kann … dich und die Lightwoods … und dann lassen wir Magnus Simon aus dem Gefängnis holen und nach New York zurückbringen.« 

»Es tut mir wirklich leid, dir das sagen zu müssen, Clary, aber es besteht nicht die geringste Chance, dass Magnus das machen würde. Ganz gleich, wie süß er Alec finden mag, aber er wird sich nicht offen gegen den Rat stellen, nur um uns einen Gefallen zu tun.«

»Möglicherweise doch«, überlegte Clary laut. »Für das Weiße Buch würde er es möglicherweise riskieren.«

Jace blinzelte verwirrt. »Was für ein Buch?«

Rasch erzählte Clary ihm von Ragnor Fells Tod, von Magnus’ Auftauchen in Fells Haus und von dem Zauberbuch. Aufmerksam hörte Jace zu, bis sie ihren Bericht beendet hatte.

»Dämonen?«, fragte er. »Magnus hat gesagt, Fell sei von Dämonen getötet worden?«

Angestrengt versuchte Clary, sich zu erinnern. »Nein … er hat nur gesagt, dass das ganze Haus nach irgendetwas stank, das dämonischen Ursprungs war. Und dass Fell von >Valentins Scherge™ getötet worden sei.«

»Schwarze Magie hinterlässt manchmal eine Aura, die wie Dämonen stinkt«, überlegte Jace laut. »Wenn Magnus sich nicht genauer dazu äußern wollte, dann liegt das wahrscheinlich daran, dass er nicht sehr erfreut darüber ist, dass irgendein Hexenmeister schwarze Magie betrieben und damit gegen das Gesetz verstoßen hat. Aber es wäre ja nicht das erste Mal, dass Valentin eines von Liliths Kinder dazu gebracht hat, ihm zu Diensten zu sein. So wie bei dem jungen Hexenmeister, den er in New York getötet hat…«

»Und dessen Blut er für das Ritual benötigte!«, erinnerte Clary sich mit Schaudern. »Meinst du, Valentin will dieses Buch aus demselben Grund wie ich? Um meine Mutter damit aufzuwecken?«

»Schon möglich. Es könnte aber auch sein, dass er das Buch wegen der Macht, die es ihm verleihen könnte, in seinen Besitz bringen will. So oder so - wir sollten es uns auf jeden Fall vor ihm schnappen.«

»Glaubst du, es könnte sich im Landhaus der Waylands befinden?«

»Ich weiß es sogar mit Sicherheit«, bestätigte Jace zu Clarys Überraschung. »Dieses Kochbuch … Rezepte für Hausfrauen oder so ähnlich … das habe ich schon mal gesehen. In der Bibliothek. Es war das einzige Kochbuch weit und breit.« 

Clary wurde schwindlig. Sie hatte nicht zu hoffen gewagt, dass das Buch tatsächlich dort stehen könnte. »Jace … wenn du mich zu diesem Landsitz bringst und wir das Buch finden, dann werde ich mit Simon nach Hause zurückkehren. Wenn du das für mich tust, werde ich in New York bleiben und nie mehr auch nur einen Fuß nach Idris setzen. Das schwöre ich.«

»Magnus hat recht: Um das Haus herum sind tatsächlich Irrleitungs-Schutzschilde errichtet«, sagte Jace gedehnt. »Ich werde dich dorthin bringen, aber es ist ziemlich weit. Zu Fuß brauchen wir bestimmt fünf Stunden dafür.«

Clary streckte die Hand aus und zog Jace’ Stele aus der Schlaufe an seinem Gürtel. Dann hielt sie sie zwischen ihnen beiden hoch, sodass sie ein schwaches weißes Licht aussandte, das dem der Dämonentürme ähnelte. »Wer hat denn gesagt, dass wir zu Fuß gehen müssen?«

 

»Du empfängst ja wirklich außergewöhnliche Besucher, Tageslichtler«, bemerkte Samuel. »Zuerst Jonathan Morgenstern und jetzt den Anführer des New Yorker Vampirclans. Ich bin beeindruckt.«

Jonathan Morgenstern? Simon brauchte einen Moment, ehe er begriff, dass Samuel damit Jace gemeint hatte. »Offenbar bin ich wichtiger, als ich gedacht hätte«, erwiderte er und drehte die leere Metallflasche gedankenverloren in den Händen. 

»Und Isabelle Lightwood bringt dir Blut«, fuhr Samuel fort. »Das nenn ich mal einen exquisiten Lieferservice.«

Ruckartig hob Simon den Kopf. »Woher wissen Sie, dass Isabelle die Flasche gebracht hat? Ich habe es nicht erwähnt…«

»Ich habe sie durch das Fenster gesehen. Sie sieht genauso aus wie ihre Mutter … oder zumindest so, wie ihre Mutter früher ausgesehen hat«, erklärte Samuel und schwieg dann einen Moment. »Dir ist doch klar, dass das Blut nur eine provisorische Lösung darstellt, oder?«, fragte er schließlich. »Früher oder später wird Aldertree sich wundern, dass du noch nicht verhungert bist. Und wenn er dich dann bei bester Gesundheit vorfindet, wird ihm aufgehen, dass hier was nicht stimmt, und dich so oder so töten.«

Simon schaute zur Decke. Die in den Stein gemeißelten Runen überlappten einander wie Steine an einem Kieselstrand. »Vermutlich werde ich Jace einfach glauben müssen, wenn er sagt, dass er und die Lightwoods sich etwas überlegen wollen, um mich hier rauszuholen«, murmelte er. Als Samuel nicht reagierte, fügte er hinzu: »Ich werde ihn bitten, Sie ebenfalls zu retten. Versprochen! Ich lasse Sie nicht einfach hier unten zurück.«

Samuel brachte einen unterdrückten Laut hervor - wie ein Lachen, das nicht aus seiner Kehle herauswollte. »Oh, ich glaube nicht, dass Jace Morgenstern irgendein Interesse hat, mich zu retten«, sagte er. »Außerdem ist der drohende Hungertod dein geringstes Problem, Tageslichtler. Schon bald wird Valentin diese Stadt angreifen und dann werden sehr wahrscheinlich alle hier getötet werden.« 

Simon blinzelte. »Woher wollen Sie das so genau wissen?«

»Ich habe Valentin einmal sehr nahegestanden. Ich kannte seine Pläne. Seine Ziele. Er beabsichtigt, Alicantes Schutzschilde zu zerstören und den Rat mitten aus dessen Machtzentrum heraus anzugreifen.«

»Aber ich dachte, an den Schutzschilden käme kein Dämon vorbei. Ich dachte, sie wären undurchdringlich.«

»So heißt es zumindest. Du musst wissen, es erfordert Dämonenblut, um die Schutzschilde niederzureißen, aber dieser Vorgang kann nur von Alicante aus durchgeführt werden. Da jedoch kein Dämon die Schilde passieren kann … Im Grunde ist es ein perfektes Paradoxon - oder sollte es wenigstens sein. Doch Valentin behauptet, er habe einen Weg gefunden, es zu umgehen … einen Weg, die Schutzschilde zu durchbrechen. Und ich glaube ihm. Er wird einen Weg finden, die Schutzschilde zu deaktivieren, und er wird mit seinem Dämonenheer in die Stadt eindringen und uns alle töten.«

Die emotionslose Sicherheit in Samuels Stimme jagte Simon einen Schauer über den Rücken. »Sie klingen schrecklich resigniert. Sollten Sie nicht lieber etwas unternehmen? Den Rat warnen?«

»Ich habe die Ratsmitglieder längst gewarnt - als man mich verhört hat. Ich habe ihnen wieder und wieder erklärt, dass Valentin plant, die Schutzschilde zu zerstören, aber man hat mich ausgelacht. Der Rat glaubt, die Schutzschilde würden ewig halten, weil sie bereits die letzten tausend Jahre standgehalten haben. Aber das Gleiche dachte man auch von Rom … bis die Barbaren kamen. Alles ist eines Tages dem Untergang geweiht.« Samuel lachte in sich hinein, ein verbittertes, ärgerliches Lachen. »Am besten betrachtest du das Ganze als eine Art Rennen darum, wer als Erster hier ist, um dich zu töten, Tageslichtler: Valentin, die anderen Schattenweltler oder doch der Rat.« Irgendwo zwischen hier und dort wurde Clarys Hand aus Jace’ festem Griff gerissen. Als der Wirbelsturm sie ausspuckte, traf sie allein und hart auf dem Boden auf, rollte noch ein paar Meter und blieb dann keuchend liegen. 

Langsam setzte sie sich auf und schaute sich um: Sie lag mitten auf einem Perserteppich, der den Holzboden eines großen Zimmers mit wuchtigen Steinmauern bedeckte. Ein paar Möbelstücke, die durch die weißen, übergeworfenen Tücher wie bucklige, plumpe Gespenster aussahen, waren über den Raum verteilt. Vor den hohen Buntglasfenstern hingen schwere Samtvorhänge, die mit einer grauweißen Staubschicht überzogen waren. Staubpartikel tanzten im fahlen Mondlicht, das zwischen den Vorhängen hereinfiel.

»Clary?« Jace tauchte hinter einem riesigen Gegenstand auf, der in weiße Tücher gehüllt war - möglicherweise ein Flügel. »Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s prima«, verkündete Clary und versuchte, sich aufzurichten, zuckte aber zusammen. Ihr Ellbogen schmerzte. »Wenn man mal davon absieht, dass Amatis mich wahrscheinlich umbringen wird, wenn wir wieder zurück sind. Nicht nur, dass ich ihre Teller zerdeppert habe - ich habe in ihrer Küche auch noch ein Portal geöffnet.« 

Jace beugte sich zu Clary hinab und streckte ihr seine Hand entgegen. »Wenn du mich fragst, war es das wert«, erwiderte er und half ihr auf die Beine. »Ich bin jedenfalls sehr beeindruckt.«

»Danke.« Neugierig sah Clary sich um. »Dann ist das also der Landsitz, auf dem du aufgewachsen bist? Er erinnert mich irgendwie an ein Haus aus einem Märchen.«

»Ich würde eher an einen Horrorfilm denken«, sagte Jace. »Mann, ist das lange her, dass ich hier gewesen bin. Früher war es hier nicht so …«

»So kalt?« Zitternd knöpfte Clary ihren Umhang zu, doch die Kälte, die in dem Gebäude herrschte, hing nicht nur mit der Außentemperatur zusammen: Das Haus verströmte eine Eiseskälte, als hätte es innerhalb seiner Mauern nie Wärme und Licht und fröhliches Lachen gegeben. 

»Nein, das meinte ich nicht«, erklärte Jace. »Kalt war es hier eigentlich immer. Ich wollte staubig sagen.« Er holte seinen Elbenlichtstein aus der Tasche, der sofort aufleuchtete. Das weiße Licht beschien sein Gesicht von unten, ließ die Schatten unter seinen Wangenknochen und die Vertiefungen an seinen Schläfen deutlich hervortreten. »Dieser Raum hier war mal das Arbeitszimmer, aber wir müssen in die Bibliothek. Dann mal los«, forderte er Clary auf und führte sie aus dem Raum in einen langen Korridor mit Dutzenden von Spiegeln an den Wänden. 

Als Clary auf dem Weg durch den Korridor einen Blick auf ihr Spiegelbild erhaschte, zuckte sie leicht zusammen. Ihr war gar nicht bewusst gewesen, wie zerknittert und zerzaust sie aussah: Ihr Cape wirkte ziemlich staubig und ihre Haare waren vom Wirbelwind ganz strubbelig. Unauffällig versuchte sie, sie glatt zu streichen, fing aber im nächsten Spiegel Jace’ breites Grinsen auf. Aus irgendeinem unerklärlichen Grund - zweifellos lag es an einer geheimnisvollen Schattenjägermagie, die sie nicht einmal ansatzweise verstand - saßen seine Haare einfach perfekt. 

Zahlreiche Türen gingen von dem dunklen Korridor ab; manche standen offen und gaben den Blick auf die dahinterliegenden Räume frei, die jedoch genauso staubig und ungenutzt wirkten wie das Arbeitszimmer. Valentin hatte erzählt, dass Michael Wayland keine Verwandten gehabt hatte, daher vermutete Clary, dass dieser Landsitz nach seinem »Tod« an niemanden weitervererbt worden war. Sie hatte angenommen, dass Valentin weiterhin hier gewohnt hatte, aber das schien eindeutig nicht der Fall zu sein. Jeder Raum und jeder Winkel zeugten von Trauer und Vernachlässigung. In Renwicks Ruine hatte Valentin diesen Ort als »Zuhause« bezeichnet und ihn Jace im Spiegelglas des Portals gezeigt: eine goldumrahmte Erinnerung an grüne Felder und hellen Stein. Doch auch das war eine Lüge gewesen, erkannte Clary. Es war offensichtlich, dass Valentin hier schon seit Jahren nicht mehr lebte - vielleicht hatte er das Haus einfach dem Verfall überlassen oder war nur gelegentlich hierher zurückgekehrt, um wie ein Geist durch dessen düstere Gänge zu irren. 

Endlich erreichten sie eine Tür am Ende des Korridors. Nachdem Jace sie mit der Schulter aufgestemmt hatte, trat er einen Schritt beiseite und ließ Clary als Erste eintreten. In Gedanken hatte sie sich die Bibliothek des Instituts ausgemalt und tatsächlich besaß der Raum eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrer Vorstellung: Auch hier waren die Wände von hohen Bücherregalen gesäumt und lange Leitern auf Laufrollen boten Zugang zu den obersten Regalböden. Allerdings besaß dieser Raum weder eine nach oben hin verjüngte Decke - sondern kantige dunkle Holzbalken - noch einen Schreibtisch. Die grünen Samtvorhänge neben den blaugrünen Buntglasfenstern wirkten wie mit einer schneeweißen Staubschicht überzogen, während das Mondlicht die Glasflächen wie farbigen Frost funkeln ließ. Jenseits der Fenster herrschte tiefe Dunkelheit. 

»Das ist die Bibliothek, stimmt’s?«, fragte Clary Jace im Flüsterton, obwohl sie nicht wusste, warum sie eigentlich so leise sprach. Aber das große, leere Haus hatte etwas zutiefst Stilles, Regloses an sich.

Jace schaute gedankenverloren an Clary vorbei. Die Erinnerung an die Vergangenheit ließ seine Augen ganz dunkel wirken: »Dort drüben … auf dieser Fensterbank … hab ich immer gesessen und gelesen … die Lektüre, die mein Vater mir für den jeweiligen Tag herausgesucht hatte. Jeden Tag in einer anderen Sprache: samstags Französisch, sonntags Englisch … aber ich kann mich nicht mehr erinnern, wann Latein dran war - montags oder doch dienstags …«

Plötzlich sah Clary vor ihrem inneren Auge Jace als kleinen Jungen. Mit einem Buch auf den Knien hockte er auf der breiten Fensterbank und schaute hinaus. Wohin? Hatte dort unten einst ein Garten gelegen? Hatte er einen Blick auf die Berge in der Ferne gehabt? Oder hatte er auf eine hohe Dornenhecke gestarrt, wie die undurchdringliche Hecke um Dornröschens Schloss? Clary sah ihn förmlich vor sich: Tageslicht fiel durch das Buntglasfenster und zeichnete blaue und grüne Flächen auf sein hellblondes Haar und sein kleines Gesicht schaute viel ernster, als ein Zehnjähriger eigentlich schauen sollte.

»Ich kann mich einfach nicht mehr daran erinnern«, murmelte Jace nun erneut und starrte hinaus in die Dunkelheit.

Behutsam berührte Clary ihn an der Schulter. »Das macht doch nichts, Jace.«

»Nein, vermutlich nicht«, pflichtete er ihr bei und schüttelte sich, als würde er aus einem Traum erwachen. Dann hielt er das Elbenlicht hoch und durchquerte die Bibliothek. Auf der anderen Seite des Raums angekommen, ging er vor einem Regal in die Hocke, inspizierte eine Bücherreihe und richtete sich mit einem Wälzer in der Hand wieder auf. »Da ist es ja: Einfache Rezepte für die junge Hausfrau«, sagte er. 

Clary lief zu ihm und nahm ihm das Exemplar aus der Hand. Es handelte sich um ein schlichtes Buch mit blauem Einband und einer dicken Staubschicht - wie offensichtlich alles in diesem Haus. Als sie es aufschlug, stiegen weiße Staubpartikel wie ein Mottenschwarm aus seinen Seiten auf.

In die Mitte des Buchs hatte jemand eine große, rechteckige Vertiefung geschnitten - und darin lag, passgenau wie ein Edelstein in einer Fassung, ein schmaleres Buch, etwa von der Größe eines kleinen Gedichtbands. Auf seinem weißen Ledereinband prangten vergoldete romanische Lettern. Clary konnte die Worte »weiß« und »Buch« entziffern, doch als sie es herausnahm und aufschlug, stellte sie zu ihrer Überraschung fest, dass die Seiten mit einer dünnen, krakeligen Handschrift in einer Sprache beschrieben waren, die sie nicht verstand.

»Das ist Griechisch«, sagte Jace mit einem Blick über Clarys Schulter. »Altgriechisch.«

»Kannst du das lesen?«

»Nicht ohne Weiteres«, räumte er ein. »Meine letzten Versuche liegen Jahre zurück. Aber Magnus kann es bestimmt lesen.« Er schloss das Buch und ließ es in die Tasche von Clarys Umhang gleiten, ehe er sich erneut den Bücherregalen zuwandte und mit den Fingern über die Rücken der Bücher strich.

»Möchtest du von denen vielleicht eines mitnehmen?«, fragte Clary sanft. »Irgendeins, das dich besonders interessiert …« 

Jace lachte und ließ die Hand sinken. »Es war mir nicht gestattet, irgendein Buch zu lesen, das mein Vater mir nicht herausgesucht hatte«, erklärte er. »Einige Regale enthielten Exemplare, die ich nicht einmal anfassen durfte.« Er zeigte auf eine Bücherreihe auf einem der oberen Regalböden, die alle einen einheitlichen braunen Ledereinband besaßen. »Als ich ungefähr sechs war, hab ich einmal eines von ihnen herausgenommen und es aufgeschlagen, um herauszufinden, weshalb darum so ein Wirbel gemacht wurde. Es entpuppte sich als ein Tagebuch, das mein Vater führte. Über mich. Anmerkungen über >meinen Sohn<, Jonathan Christophen. Als er entdeckte, dass ich darin gelesen hatte, hat er mich mit seinem Gürtel ausgepeitscht. Damals habe ich auch zum ersten Mal erfahren, dass ich noch einen zweiten Vornamen besitze.« 

Ein plötzlicher Anfall von Hass auf ihren Vater erfasste Clary. »Na ja, jetzt ist Valentin jedenfalls nicht hier.«

»Clary …«, setzte Jace mit einem warnenden Ton in der Stimme an, doch sie hatte sich bereits gestreckt, eines der Bücher vom verbotenen Regal gepackt und es auf den Boden geworfen, wo es mit einem zufriedenstellenden Dröhnen auftraf und liegen blieb. »Clary!«, stieß Jace hervor.

»Ach, komm schon.« Clary schnappte sich das nächste Buch und warf es ebenfalls vom Regal. Staub stieg aus den Seiten auf, als es auf dem Boden auftraf. »Jetzt du!«, wandte sie sich an Jace.

Jace musterte sie einen Moment und dann stahl sich ein leises Lächeln in seine Mundwinkel. Entschlossen griff er ins Regal und fegte mit einer einzigen Armbewegung sämtliche verbliebenen Bücher vom Brett, sodass sie krachend zu Boden stürzten. Bei diesem Anblick brach er in befreiendes Gelächter aus, verstummte aber abrupt. Dann hob er angespannt den Kopf und spitzte die Ohren wie eine Raubkatze, die ein weit entferntes Geräusch wahrnimmt. »Hörst du das auch?«

Was soll ich hören?, wollte Clary gerade fragen, hielt sich aber zurück. Denn im nächsten Moment bemerkte sie es ebenfalls: ein hohes Sirren und Knirschen, wie von einem Mechanismus, der sich in Bewegung setzt. Das Geräusch wurde immer lauter und schien aus dem Inneren der Mauer zu kommen. Unwillkürlich wich Clary einen Schritt zurück - gerade noch rechtzeitig, ehe die Steine vor ihnen mit einem ächzenden, kreischenden Knarzen nach hinten schwangen. Dahinter kam eine Öffnung zum Vorschein - eine Art Tür, die grob in das Mauerwerk gehauen war. 

Das Licht von Jace’ Elbenstein fiel durch die Öffnung und gab den Blick auf eine Treppe frei, die in die Dunkelheit hinabführte.

Chroniken der Unterwelt Bd. 3 City of Glass
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