JUDICA

Wolfram saß in einer Schänke am Fuß der Burg Wertheim. Gestern war er angekommen, noch fehlte ihm der Mut, beim Grafen Rudolf vorzusprechen. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er immer weiter ins Hinterland geriet. Aber er war so lange auf Jahrmärkten herumgezogen, war bei Hochzeiten und anderen Festen weggeschickt worden – er brauchte einen Platz in einer Hofkapelle, auf viele Jahre.

Das Wandern fiel ihm immer schwerer. Sein Pferd hatte er in Frankfurt lassen müssen, und noch vieles andere von Wert. Er bezweifelte aber, dass er damit schneller vorangekommen wäre. In letzter Zeit hatte ihn schon das Aufsteigen in den Beinen und im Rücken geschmerzt. So trug er nur den Dudelsack und seinen Beutel am Gürtel. Trotz dieses leichten Gepäcks war er froh gewesen, als er die Herberge gefunden hatte, wo er heute, am Sonntag, für ein Lager und eine warme Mahlzeit spielen konnte.

In der vollen Gaststube drang seine Sackpfeife gerade noch durch. Er hatte unverständige, aber dankbare Zuhörer, die immer wieder dasselbe hören wollten, das, was immer alle spielten. Wolfram brauchte seine steifen Finger nicht mit den höllischen Verzierungen zu quälen, die er in Worms seinen Schülern abverlangt hatte.

Seine Finger. Bisher hatte er die Gichtkraut-Essenz, die er in Worms gekauft hatte, sorgfältig gehütet. Jeden Morgen und jeden Abend einreiben, mehr nicht. Getrunken hatte er noch nichts davon. Natürlich hatte ihn der Apotheker davor gewarnt, aber er kannte das Zeug ja schon länger. Es sorgte für ruhigen Schlaf, wenn einen das harte Leben gar zu sehr bedrängte.

Die Ankunft eines zweiten Spielmanns riss ihn aus seinen Gedanken. Ein junger Kerl war es, mit Laute und roter Kappe. Der Wirt überließ ihm bereitwillig einen Platz am Kamin.

Ein Ziehen in der rechten Hand bestätigte Wolfram, dass er eine Pause verdient hatte. Er packte die Sackpfeife zur Seite, suchte sich eine freie Ecke auf einer Bank und hörte zu.

Der Junge spielte recht leidlich, ein altes, zersungenes Trinklied, übertrieb aber mit der Geschwindigkeit, wie so einige, die ihre Unsicherheit verdecken wollten.

Und er sang einen anderen Text dazu, so viel bemerkte Wolfram, auch wenn er nur einzelne Verse verstand. Es ging um einen jungen Spielmann, der all das beherrschte, was das Lied von seinesgleichen verlangte. Ein Rivale vergiftete ihn aus Neid auf seine Kunstfertigkeit.

Leise Übelkeit stieg in Wolfram auf. Vor sich sah er das weiße Gesicht des jungen Elbelin im Todesschlaf. Wolfram dankte Gott dafür, dass er nicht mehr dazu gekommen war, sein ursprüngliches Vorhaben auszuführen. Er hatte die Decke schon in der Hand gehabt, um den Jungen zu ersticken. Doch der atmete nicht mehr, sein Kopf fiel schlaff zur Seite. Wolfram unterdrückte einen Schrei, nahm sich, was er gesucht hatte, und lief davon, so schnell er es wagte. Den Gedanken daran, was wirklich geschehen sein mochte, schob er beiseite. Menschen starben, das war ihr Los. Die gütige Hand Gottes oder eines Heiligen hatte zur rechten Zeit eingegriffen.

Wolfram wusste, dass er sich heute mit einem großen Schluck Gichtkraut-Wasser in den Schlaf trinken würde. Und das bald, denn solange er dem Sänger mit der roten Kappe zuhörte, würde ihn der Geist des Toten quälen. Er zog sich in die Ecke im Stall zurück, wo er schlafen sollte, und nahm das verbliebene Tonfläschchen aus dem Beutel.

Das Gebräu brannte in der Kehle, doch das gehörte dazu. Er trank einen zweiten tiefen Schluck, und bald stellte sich die gewünschte Wirkung ein. Die Augen fielen ihm zu, er schlief fest und traumlos.

Wolfram sollte nie wieder sehen.