DIENSTAG NACH OCULI

Der Dienstag verlief erstaunlich ruhig. Nur Meister Wolfram erschien noch ein wenig schlechter gelaunt als sonst. Dafür legte er mehr Gefühl und Raffinesse in seine Verzierungen. Es schien, als wollte er seinen Schülern in diesen letzten beiden Tagen noch alles beibringen, wozu er bisher nicht gekommen war.

Elbelin vollführte ein paar Kunststücke mit Tamas’ Fidelbogen, bis der Ungar so etwas wie ein Lächeln hervorbrachte und wie verlangt seine Stimme spielte.

Jedem, der es hören wollte, erzählte der Junge: ťIch bekomme wieder einen Dudelsack. Emich der König hat mir das Geld geliehen. Johann Schure richtet Gottfrids Schalmei passend dazu ein. Heute Abend hole ich ihn.Ť

Die anderen beglückwünschten Elbelin und scherzten über die Großzügigkeit des ›Königs‹.

Meister Wolfram dagegen schnaubte, als er den Namen hörte. ťDer Kerl ist ein Blender und Betrüger. Ich kann nicht verstehen, warum ihm die Leute nachlaufen wie einem Bußprediger.Ť

 

Rechtzeitig zum Abendessen, Elbelin und Gottfrid waren noch nicht von ihrem neuerlichen Besuch bei Johann Schure zurück, erschien Werner im Wilden Mann, als ob nichts gewesen wäre. Er setzte sich an den Tisch, nahm den Löffel zur Hand und schaute erwartungsvoll in Richtung Küchentür.

ťWie ist denn dein Vorspiel ausgegangen?Ť, wollte Franz als Erstes wissen.

Werner schrak zusammen und schüttelte den Kopf. ťDieser Emich hat mich hereingelegt. Er wollte mich nur dabeihaben, damit sein Schüler gut dasteht.Ť

ťAber eine Schalmei hast du doch noch aufgetrieben?Ť, unterbrach Alheit. Sie würde nicht aufgeben, bis er sich verraten hatte.

Er nickte. ťKein gutes Instrument, und ich habe lange nicht mehr gespielt

Ť Seine Stimme wurde immer leiser.

ťHast du sie dabei?Ť, fragte Alheit weiter

ťNein, sie war nur geliehen.Ť

ťVon wem?Ť

Doch niemand achtete mehr auf ihre Frage. Aus dem Hof drang der näselnde Ton eines Dudelsacks herein. Jemand, vermutlich Gottfrid, riss die Tür auf, und Elbelin betrat mit seinem neuen Instrument den Saal. Einmal marschierte er rundherum, dann beendete er das Stück.

Die Anwesenden umringten ihn auf der Stelle und wollten viele Dinge von ihm wissen. Wer das Instrument gebaut hatte – ein Handwerker aus Mainz, dessen Namen niemand kannte –, aus welchem Holz, mit welchem Leder, wie es sich spielte

Robert musste es einmal ausprobieren, und Elbelin ruhte nicht eher, bis auch Alheit ein paar schräge Töne zum Besten gegeben hatte. Entweder fehlte ihr die Übung, oder diese Sackpfeife forderte sehr viel mehr Luft als Elbelins altes Instrument. Schließlich stimmte Elbelin eine Tanzweise an, und die anderen fielen mit ihren lauten Instrumenten ein. Wolfram stand auf und verließ geräuschvoll den Saal, zügig und aufrecht.

ťHolt er noch ein Instrument?Ť, fragte Werner in den Lärm hinein. Niemand schien ihn zu hören.

Alheit hielt nach Burkhard Ausschau. Die Küchentür war nur angelehnt. Wahrscheinlich stand er mit seiner Schalmei dahinter und versuchte, die schnellen Läufe für seine ungeübten Finger abzukürzen.

Als der Tanz endete, bat Marjorie: ťNun lasst uns aber etwas Leiseres spielen.Ť

Die Spielleute lachten, nahmen aber doch andere Instrumente zur Hand.

Kurz vor der Vesper erhielt der Platzmeister Besuch von einem jungen Domizellar. Er gab sich Mühe, ihn freundlich zu begrüßen. Dabei brachte ein Vertreter des Domkapitels meist nur Arbeit und Schwierigkeiten. Streng genommen waren sie die Herren der Stadt, auch wenn die Bürger in diesen Zeiten ohne Bischof einiges an Macht gewonnen hatten.

Der Domizellar erwiderte den Gruß des Platzmeisters nicht, sondern brachte sogleich seine Klage vor: ťEiner deiner zünftigen Wächter hat eine Frau mit auf den Turm genommen.Ť

Meister Friedrich nickte, um Zeit zu gewinnen. Es war nicht seine Sache, sondern die der Zunft, zu der der eidbrüchige Wächter gehörte. ťWer war es?Ť

ťWoher soll ich das wissen?Ť, zischte der Domizellar. ťDu kennst doch die Kerle.Ť

In der Tat hatte der Platzmeister eine Vorstellung. Frowin war bekannt dafür, dass er den Frauen nachstellte. Aber das genügte nicht, um ihn als Eidbrecher zu bestrafen. ťWann war das?Ť

ťAm Sonntag.Ť

ťTagsüber?Ť

ťJa.Ť

ťUnd wer hat sie gesehen?Ť

Der Domizellar seufzte. ťDer Herr Dekan selbst. Willst du ihn jetzt verhören?Ť

ťWenn die Frau gefunden und bestraft werden soll

Ť

Der Geistliche machte eine abweisende Handbewegung. ťJag einfach alle fahrenden Fräulein zur Stadt hinaus. Da wird die Richtige schon dabei sein.Ť

Indessen überlegte Friedrich eilig, wer der Wächter gewesen sein mochte. In der Fastenzeit waren häufiger die Schlachter an der Reihe, da ihr Geschäft weniger lebhaft war. In dieser Woche waren es die vom unteren Markt. Also nicht Frowin der Schilderer. ťIch werde mit dem Herrn Schultheiß und den Zunftmeistern darüber beraten.Ť

ťBeratet nicht zu langeŤ, mahnte der Domizellar, ťsonst ist das Weib auf und davon, und der Handwerksknecht mit ihr.Ť

Der Platzmeister nickte würdevoll. ťWir werden sie nicht entkommen lassen.Ť

Noch immer misstrauisch verabschiedete sich der Domizellar.

Friedrich zum Rad schickte einen Boten zum Zunftmeister der Untermetzger. Dieser war noch nicht wieder zurück, da brachte ein Domschüler einen Brief des Dekans. Er nannte genau den Tag und die Zeit, wann er die Frau auf dem Turm gesehen hatte, und beschrieb die beiden Eidbrecher.

Der Mann war lang und blond gelockt, und trug Eisenhut, Kettenhemd und Hellebarde der bürgerlichen Wächter. Das mochte in der Tat der Schilderer sein. Die Fleischer kannte der Platzmeister nicht gut genug, um der beschriebenen Person einen Namen zu geben.

Die Frau dagegen war Lene. Da gab es keinen Zweifel. Sie musste die Stadt verlassen, so oder so. Wenn sie schnell und unbemerkt verschwand, konnte sie wiederkommen. War die Stadtverweisung erst einmal gegen sie ausgesprochen, war das vorbei. Diese Nachricht konnte Friedrich allerdings keinem Boten überlassen. Er musste selbst gehen.

Ruhelos wanderte er in seiner Kammer auf und ab, bis der Knecht wiederkehrte, den er zum Metzgermeister geschickt hatte. ťUnd, was hast du erreicht?Ť, fragte er ihn hastig.

Der Knecht begann vor Schreck zu stammeln. ťAlso, ich, Meister Paul

Ť

ťReiß dich zusammen!Ť

Der Mann nickte und schnappte nach Luft. ťMeister Paul sagt, sein Sohn hätte am Sonntag die Wache auf dem Dom gehalten, allein, wie es dem Eid entspricht.Ť

Friedrich nickte. Mochte sich das Domkapitel die Zähne an der Sache ausbeißen.

ťAber gestern war Frowin der Schilderer obenŤ, fuhr der Knecht fort, ťund von dem hört man ja

Ť

ťPah, auf das Gerede soll man nichts gebenŤ, wehrte der Platzmeister ab.

ťSoll ich ihn nicht herbringen?Ť, fragte der Knecht verwirrt.

Meister Friedrich überlegte. Den Mann wieder loszulassen, wenn er ihn einmal ergriffen hatte, würde schwierig werden. Und bevor er aussagte, musste Lene verschwunden sein. ťDas hat Zeit. Erst müssen wir die Sache mit Meister Paul und seinem Sohn klären. Der Schilderer wird uns schon nicht davonlaufen.Ť

ťIch kann ihn auch morgen früh von der Arbeit wegholenŤ, schlug der Knecht vor.

Das würde Aufsehen genug erregen. Die Domherren würden merken, dass Friedrich seine Arbeit tat, die Bürger konnten sich verabreden, um ihre Rechte zu schützen. ťMorgen oder übermorgenŤ, schloss der Platzmeister, ťich werde dir Bescheid geben.Ť

Als der Knecht gegangen war, legte Meister Friedrich seinen Mantel um, nahm die Laterne und machte sich auf den Weg in den Wilden Mann.

Dort wurde recht laut und offenbar mit viel Wein gefeiert. In Friedrich wuchs der Groll gegen die Ehrlosen, die sich an kein Gebot der Kirche hielten. Gute Bürger wie er dagegen trugen Entbehrungen ohne Ende, um die Gnade Gottes zu erhalten. War es nicht viel einfacher, wenn man ohnehin aus der Gnade gefallen war?

Er betrat den Hof und suchte Deckung unter einer Außentreppe. Die Laterne nahm er unter den Mantel. Außer Lene durfte ihn niemand sehen. Doch zuerst kamen andere.

Mehr als ein halbes Dutzend Leute betrat johlend und grölend einen Raum etliche Schritte vor der Treppe, unter der Meister Friedrich sich verbarg. Dort legten sie ihre Bündel ab, kamen wieder heraus und gingen entweder durch eine Tür direkt am Fuß der Treppe oder die Treppe hinauf. Einer verließ den Hof ganz.

Dann endlich trat Lene ungehört durch das Tor.