REMINISCERE

Alheit fielen die paar Schritte zur Franziskanerkirche fast schwer. Lieber wäre sie gleich weitergelaufen ins Paulusstift. Sie wollte hören, wie Elbelin und Gottfrid dort vor den Stiftsherren spielten. So erging es ihr nicht allein. Katherine lief mit langen Schritten neben den Jungen her und vergaß ganz, wo sie abbiegen musste. Erst, als ihre Mutter sie anrief, blieb sie stehen, verabschiedete sich und kehrte um.

Alheit atmete hörbar aus. Für Katherine mochte dieses Verhalten noch durchgehen, sie selbst machte sich nur lächerlich damit. Stattdessen erinnerte sie sich an ihren Vorsatz, Ausschau nach neuen Reisegefährten zu halten.

Die Menge der Spielleute in der Kirche war kaum überschaubar. Viele von ihnen schienen sich gar nichts aus dem Geschehen vorn am Altar zu machen. Sie drängten hierhin und dorthin, begrüßten einander und erzählten sich freudig ihre Erlebnisse. Von den braven Bürgern, die das ganze Jahr über hier zur Messe gingen, war kaum etwas zu sehen. Nur gelegentlich bahnte sich eine Familie mit angewiderter Miene hastig einen Weg durch die Fremden, hin zu den vertrauten Nachbarn.

Alheit hörte von allen Seiten zusammenhanglose Fetzen aus den Gesprächen der fahrenden Gesellen. Die Geschichte von Elbelins Dudelsack schien die Runde zu machen. Alheit spitzte die Ohren, als die Gerüchte in ihre Nähe kamen.

ťDer Jude natürlich, wer sonstŤ, sagte einer verächtlich.

ťIch habe gehört, es war ein BärenführerŤ, widersprach ein anderer. ťDas sind doch auch noch halbe Heiden dort unten.Ť

ťDer hat sogar behauptet, Elbelin hätte ihm Geld gestohlenŤ, wusste ein Dritter.

ťWas, Elbelin?Ť, wunderte sich der Erste wieder.

ťWas für Geld?Ť, spottete der Zweite. ťWo keins ist

Ť

Ein weiterer Mann stieß zu ihnen und ließ sich die Geschichte wiederholen.

 

Lene war es gleichgültig, was man über Tamas erzählte. Mochten sich die Leute das Maul zerreißen. Sie hielt Ausschau nach Friedrich zum Rad, dem Platzmeister – welch ein stolzer Titel. Er würde ihre Fassung der Geschichte hören, und das sollte genügen, um ihnen Ruhe zu verschaffen, solange sie noch in der Stadt waren. Den Juden hatte er ohnehin im Auge. Lene kam mit ihren Methoden allerdings nicht weiter bei Israel und seiner Mischpoche. Deshalb musste Friedrich hier einen anderen einsetzen. Ob der mehr Erfolg hatte?

Als sie die langen grauen Locken erblickte, hob sich Lene auf die Zehenspitzen. Dieses Wesen neben ihm, bei dem man vor lauter Haube und Gebände kaum etwas vom Gesicht sah, musste wohl seine Frau sein. Daneben eine Reihe besonders hässlicher Mädchen. Wenn die nach der Mutter kamen

Lene kicherte. Das großväterliche Vermögen würde kaum reichen, sie alle zu verheiraten. Da musste der Vater sehen, wie er eine Mitgift schaffte. Und sie würde dafür sorgen, dass manch ein Heller vorher den Weg in ihren Beutel fand.

Vor der Kirchentür beobachtete sie den höflichen Abschied des Platzmeisters von seiner Familie und schlug in sicherer Entfernung hinter ihm den Weg zum Stadthaus ein. Nachher erwartete sie der hübsche Turmwächter. Es würde ein schöner und einträglicher Sonntag werden.

 

Nach der Messe zerstreute sich die Gruppe. Man hatte Bekannte getroffen, neue Gesellen kennengelernt, mit denen man sich ausgiebig unterhalten wollte. Erst als die Essenszeit näher rückte, sammelten sich die Spielleute wieder im Wilden Mann. Das Agnus Dei der Franziskaner pfeifend, ging Tamas daran, den Bären von seinem Mauerring im Stall loszumachen. Dass Lene noch gar nicht da war, schien ihm nicht aufzufallen. Erst draußen im Hof schaute er sich suchend um, als erwarte er, dass jemand von den Umstehenden ihre Rolle übernehmen würde.

Franz bemerkte erschrocken, dass niemand vor ihm stand und Tamas ihn auffordernd anstrahlte. Hastig schob er sich hinter Robert und seine Familie und überließ den Tanz mit dem Bären Elbelin, der eben mit Gottfrid vom Paulusstift zurückkehrte.

Der Junge drehte sich lachend zu ihm um. ťHast du Angst vor Meister Petz? Dabei hat er doch schon gezeigt, wie höflich er sich benehmen kann. Sogar Damen gegenüber.Ť

Alheit reckte den Hals. Was hatte Elbelin mit dem Bären vor? Oder hatte Tamas den Jungen als Opfer ausgewählt? An einen Zufall wollte sie nicht glauben. Sie schob sich in die Nähe der Küchentür, wo das Brennholz aufgesetzt war, und nahm hinter ihrem Rücken ein Scheit in die Hände. Vielleicht würde es nicht viel helfen, aber sie wollte etwas zum Werfen haben.

Mit einer Verbeugung grüßte Elbelin den Bären. ťGuten Tag, Meister Petz. Eure Dame ist heute leider auf Venusfahrt, Ihr müsst mit mir Vorlieb nehmen.Ť

Leichtfüßig sprang er um den Bären herum, der sich auf den Hinterbeinen um sich selbst drehte. Tamas nickte zufrieden und begann, Elbelin verschiedenes Spielzeug zuzuwerfen. Der sah sich die Dinge kurz an, dann animierte er Petz zu denselben Bewegungen, wie Lene es in den vergangenen Tagen getan hatte. Er trug die Rotta noch bei sich. Darauf zupfte er nun eine der Melodien, die Tamas immer für seinen Mazko fidelte, und führte den Bären im Reigen um den Hof. Gottfrid schloss sich ihnen mit dem Rebec an, dann kam Tamas dazu und Robert mit der Flöte.

Franz konnte sich dennoch nicht überwinden. Er folgte dem Zug, bis er die Treppe zur Schlafkammer erreicht hatte, und eilte hinauf. Dabei sah er noch, dass Wolfram es ihm gleichgetan hatte. Dieser spuckte verächtlich aus, bevor er das Kaminzimmer betrat.

Elbelin tanzte vor der Reihe her, auf die Tür des Schankraums zu. Als er die Küchentür passierte, trat Klaus mit dem Kessel und der Schöpfkelle heraus und schlug kräftig zu. Der Bär erschrak vor dem Lärm. Mit einem Prankenhieb, der Elbelin knapp verfehlte, fiel er auf alle viere und galoppierte in Richtung Stall. Alheit schleuderte ihr Holzscheit hinter ihm her. Katherine schrie auf. Die Spielleute sprangen hastig auseinander. Voller Angst schlug Klaus noch einige Male heftig auf den Kessel, während er sich in die Küche zurückzog.

Tamas wartete, bis sich die erste Aufregung gelegt hatte, dann ging er fidelnd und auf Ungarisch singend hinter dem Bären her zum Stall. Das Wiegenlied, das er auch am Freitagabend gespielt hatte, klang noch eine Weile durch die offene Tür. Dann endete die Musik. Tamas kam heraus und schloss ab. Da erst verließ Franz seinen Posten oben an der Treppe und folgte dem Ungarn in den Schankraum.

ťBringen Instrumente später in StallŤ, verkündete der drinnen, ťist besser.Ť

Inzwischen war Lene wieder aufgetaucht, als ob sie die Gesellschaft gar nicht verlassen hätte. ťWieso? Was hat es denn gegeben?Ť

Elbelin und Gottfrid erzählten abwechselnd von dem Auftritt, und Lene hörte bewundernd zu.

Alheit überlegte indessen, ob wirklich nur Klaus mit seinem Kessel den Bären erschreckt hatte. Doch sie konnte sich an keine unbedachte Bewegung Elbelins erinnern, auch nicht an einen Befehl von Tamas. Vielleicht hatte Franz doch recht, wenn ihm dressierte Tiere unheimlich waren.