FREITAG VOR OCULI

Nach dem Frühstück sperrte Burkhard den Stall auf. Einer nach dem anderen holten die Spielleute ihre Instrumente heraus und trugen alles in die Gaststube. Zum Schluss trat Alheit ein und nahm die Flöte aus der Kiepe. Die Schalmei fehlte. Franz hatte sie nicht mitgenommen, das wäre ihr aufgefallen. Sie untersuchte den Inhalt des Korbes genauer, wieder ohne Erfolg.

Hatte er sie etwa gestern Abend doch Werner gegeben? Auch das wäre nicht unbemerkt vonstatten gegangen. Aber Werner hätte leicht selbst das Instrument an sich nehmen können, ohne zu fragen.

Das schien ihr die wahrscheinlichste Erklärung. Den Schlüssel zum Stall hatte der Wirt über Nacht wohl sicher verwahrt.

Hatte Werner gesagt, wo er wohnte? Irgendwo südlich des Marktplatzes, dort hatten sie ihn zuerst gesehen. Das genügte nicht, um ihn wiederzufinden. Alheit hatte große Lust, Franz aus der Gaststube zu holen und von ihm zu erfahren, was geschehen war. Aber sie konnte ebenso gut Johann Schure fragen, ob er Werners Quartier kannte. Den Streit mit Franz verschob sie lieber auf später.

ťIch gehe auf den Markt und suche nach ihmŤ, verkündete sie, obwohl niemand zu sehen war.

ťWieso? Was fehlt?Ť, fragte Burkhard hellhörig.

Alheit fuhr herum. Sie hatte den Wirt ganz vergessen. ťMeine SchalmeiŤ, antwortete sie.

ťGottes heiliger Schwanz!Ť Burkhard griff nach seinem Schlüsselbund. ťAber da war heute Nacht keiner dran.Ť

ťDie hat gestern Abend schon jemand mitgehen lassenŤ, erwiderte Alheit düster.

ťDoch nicht der große Unbekannte?Ť Burkhard glaubte offenbar nicht an den Eindringling.

ťNein, ich kenne ihn wohl recht gut. Und jetzt gehe ich ihn suchen.Ť

ťAch so, der.Ť Burkhard grinste. ťDa wünsche ich viel Glück.Ť

ťWieso? Weißt du, wo er steckt?Ť

ťNein, aber Kerle von dieser Sorte kommen öfter hier vorbei. Bei denen ist nichts zu holen.Ť

ťIch muss es jedenfalls versuchen.Ť Damit ließ sie ihn stehen.

Ein kalter Wind fegte durch die Gasse, als Alheit vor das Hoftor trat. Sie zog ihren Mantel enger um sich und lugte unter der Kapuze hervor, ob sie wohl den Buckligen entdecken konnte, doch er war nicht auf seinem Posten. Den Juden, den er belauern sollte, hatte sie auch noch nicht gesehen. Sie kehrte zurück zur Gaststube und öffnete vorsichtig die Tür.

Meister Wolfram dirigierte mit viel Schwung seine Sänger, dass die Falten seiner langen Cotte nur so flogen. Israel war nicht unter ihnen. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Noch ein jüdischer Feiertag?

Alheit schloss die Tür leise und eilte hinaus auf die Kämmerergasse und zum Marktplatz. Der Wind trieb sie schneller voran, als ihre Füße sie tragen wollten. Wieder musste sie nur den kurz angespielten Melodien nachgehen, mit denen Spielleute einen Dudelsack ausprobierten. Als sie den Stand, wo sie sich Auskunft erhoffte, entdeckte, ging Alheit schnurstracks auf den Händler los. ťWo wohnt Werner?Ť

Johann Schure warf ihr einen kurzen Blick zu und erklärte seinem Kunden, was er mit dem einfachen Rohrblatt der Bordunpfeife tun konnte und was er besser unterlassen sollte.

Wütend schaute sich Alheit um, ob nicht ein anderer ebenso Auskunft geben könnte. Da gab es doch diesen Schalmeibauer, von dem alle so schlecht redeten. Er sollte näher am Marktplatz zu treffen sein. Sie machte kehrt und entdeckte in der Tat bald ein schmutzig graues Zelt, in dem Schalmeien in allen Größen zu sehen waren. Mitten darin saß ein ebenso grauer, magerer Mann und schabte seelenruhig an einem Rohrblatt. Kundschaft hatte er keine. Das musste dieser Gerlach von der Heide sein.

Alheit eilte zu ihm. ťWo wohnt Werner?Ť

Der Händler sah von seiner Arbeit auf. ťWelcher Werner?Ť

Alheit atmete hörbar aus. ťWerner, der früher Schalmei gespielt hat, aber sein Instrument verloren oder versoffen oder verspielt hat und deshalb jetzt Psalter spielt.Ť Sie musste überlegen, wie der Kerl überhaupt aussah.

ťDer immer hier herumlungert, als wollte er etwas kaufen, aber kein Geld hat?Ť, fragte der Händler nach.

Alheit nickte hoffnungsvoll.

ťDas weiß doch ich nicht, wo der wohnt. Der soll mir nur vom Leib bleiben.Ť

Ohne ein weiteres Wort wandte sich Alheit ab und lief zurück zu Johann Schure, der sich streckte, um einen Dudelsack zurück auf die Leine zu hängen. Als das geglückt war, wandte er sich zu ihr um.

ťSo, wen suchst du denn? Hat’s Ärger gegeben?Ť, begann er gönnerhaft.

Alheit schluckte und erklärte etwas ausführlicher, zu wem sie wollte.

ťJa, Werner.Ť Johann seufzte theatralisch. ťDer weiß schon, dass er zu mir nicht mehr kommen muss. Ich verkaufe an ihn nur noch gegen harte Münze, auf die Hand.Ť

Alheit nickte. Was machte er so lange Kunstpausen?

ťEr hat jetzt irgendwie Emich umgarnt – also, Emich den König, nicht irgendeinen. Aber der Schwarze Bär ist kein Quartier für Werner. Der kann das nicht bezahlen.Ť

Alheit schnaubte. Diese Auskunft half ihr nicht weiter.

ťVielleicht liegt er irgendwo in einem WagenschuppenŤ, schloss Johann.

ťDann gehe ich jetzt zu Emich.Ť Wo war der Schwarze Bär noch gleich? Ein gutes Stück entfernt, bei der Judenpforte.

ťVielen Dank für die AuskunftŤ, sang Johann Schure hinter ihr her.

Alheit wusste zwar nicht, wie Emich aussah, aber im Schwarzen Bären würde sie schon jemanden finden, der Werner kannte.

Die kleinen Seitengassen mit ihren schmalen Fachwerkhäusern lagen hinter ihr. Entlang der Kämmerergasse erstreckten sich nun die Mauern und Tore großer Adelshöfe, als sie der Judengasse näher kam.

Alheit überlegte flüchtig, ob sie Herrn Heinrich aufsuchen und um seine Hilfe bitten sollte. Wahrscheinlich würde sie ebenso unverrichteter Dinge weggeschickt werden wie Franz vor wenigen Tagen. Sie ballte die Faust unter ihrem Mantel.

Zu guter Letzt sah sie ein Schild, das einen schwarzen Bären zeigte. Das Tor neben diesem Haus stand offen für alle Reisenden, die hier einkehren wollten. Aus allen Ecken erklangen Melodien auf Dudelsack und Schalmei. Alheit folgte der Musik in den Hof und seine einzelnen Winkel. Werner konnte sie jedoch nicht unter den Musikern entdecken. Als sie auf ihrer Suche die Gaststube betrat, saß dort ein wohlbeleibter Mann mit schwarzem Bart am Feuer. Er beobachtete den Tanz der Flammen und summte behaglich vor sich hin.

ťGott segne dichŤ, grüßte Alheit.

Er wandte sich zu ihr um und erwiderte lächelnd ihren Gruß.

ťIch suche Werner mit dem Psalter.Ť

Der Mann lächelte noch breiter. ťAch, hat er wieder einmal etwas ausgefressen? Ich habe ihm doch gesagt, dass er sich vor Sonntag nicht erwischen lassen soll. Er muss mit einem meiner Schüler vorspielen.Ť

Dann war das wohl Emich der König. ťSo ist es.Ť

Emich musterte Alheit. ťDeine Tochter hat er wohl nicht umgarnt – da hat die kleine Ratte wenig Aussichten

Ť

Unwillkürlich schüttelte Alheit den Kopf. ťEr hat mich bestohlen!Ť

ťUnd dein Mann?Ť

ťDer sitzt bei Meister Wolfram

Ť

ťMeister Wolfram?Ť Emich lachte. ťVon dem will er doch hoffentlich nicht das Sackpfeifen lernen?Ť

ťSackpfeifen?Ť Alheit konnte ihre Verwunderung kaum verbergen.

ťOh, als er jung war, konnte er das wohl noch. – Aber du suchst ja Werner. Der ist bei Albrecht Hoppetanz in der Gans und schlägt den Psalter.Ť Sein Gesicht verriet, was er von diesen Musikern hielt.

Immerhin hatte er einen nützlichen Hinweis gegeben. Über Wolfram und seine Pfeifenkünste konnte Alheit unterwegs nachdenken. ťIn der Gans?Ť

ťWenn du dich hier nach Süden wendest, an St. Paul vorbei, dann in die Stadt hinein

so ungefähr jedenfalls.Ť

Alheit dankte ihm und machte sich auf den beschriebenen Weg.

 

Die Gans wirkte schon von außen recht heruntergekommen. Das Haus passte zu Werner. Zwei hölzerne Stufen führten von der Gasse zur Haustür. Musik war nicht zu hören, nur leise Gespräche. Alheit öffnete die Tür und trat in eine düstere Stube mit Kamin, in dem ein winziges Feuer brannte. Aus dem Halbdunkel richteten sich die Augen von gut einem halben Dutzend Männern auf Alheit. Werner saß allein und zusammengesunken in einer Ecke. Als er Alheit sah, krümmte er sich noch tiefer ein.

ťGott grüße euchŤ, begann Alheit. ťIch möchte mit eurem Psalterspieler reden.Ť

Einer der Männer stand auf, einen Kopf kleiner als Alheit und blond gelockt. ťWas willst du von Werner? Und wer bist du überhaupt?Ť

Zwei weitere Sänger drängten Werner aus seiner Ecke.

ťEr hat meine Schalmei gestohlen.Ť

Alheit ging nicht auf das ungläubige Gelächter der Männer ein, sondern schaute Werner verächtlich an. Wie ein Küchenjunge, der den besten Topf zerbrochen hat, stritt er alles ab.

ťNein, ich habe deine Schalmei nicht genommenŤ, beteuerte er. ťDas würde ich doch nie tun.Ť

ťDu hast deinem Gefährten auch schon Geld gestohlen.Ť

Werner schaute sie verwirrt an, doch dann verstand er, was sie meinte, und sein Blick wurde hart. ťDas war etwas ganz anderes.Ť

Finster erwiderte Alheit seinen Blick. Sie hatte nicht vor, jetzt stundenlang darüber zu streiten. ťDas war genau das Gleiche. Zeig mir dein Bündel.Ť

ťBist du toll, Weib?Ť, platzte der kleine blonde Sänger dazwischen. ťNiemand hier muss dir antworten, und schon gar nichts zeigen. Verschwinde.Ť

ťDieser Mensch hat mich bestohlenŤ, sagte Alheit, so ruhig sie eben konnte. ťIch will mein Eigentum wiederhaben.Ť

ťUnser Knecht stiehlt nichtŤ, erwiderte ein anderer, ťund er geht auch nicht ins Frauenhaus.Ť

Werner verzog das Gesicht.

ťWartet, bis eure Beutel Beine bekommenŤ, fauchte Alheit. ťAber dann ist es zu spät.Ť

ťGeh doch zum Schultheißen, wenn dir so viel dran liegtŤ, schlug der Mann vor.

Werner konnte eine unruhige Handbewegung nicht unterdrücken. Das nahm Alheit als Eingeständnis. Dennoch ahnte sie, was herauskommen würde, wenn sie in ihrer Not zum Platzmeister ginge.

ťWann musst du vorspielen?Ť, wandte sie sich an Werner.

Er antwortete nicht gleich. Dafür fragte der Wortführer der Sänger nach. ťDu willst vorspielen? Bei wem?Ť

ťDas hat er uns jedenfalls erzähltŤ, bestätigte Alheit. ťWerner will bei einem hohen Herrn Dienst nehmen, obwohl er kein Instrument hat.Ť

ťEr hat einen Psalter, und er spielt für unsŤ, entgegnete der Sänger. ťAlso verschone uns mit deinen erfundenen Mären. Wir haben noch zu tun.Ť

ťBocks

Ť Alheit brach ab. Sie würde nicht fluchen wie Lene. ťDann nehmt euer Geld in Acht, mehr kann ich euch nicht sagen.Ť

ťDas ist mehr als genug. Bist du noch nicht weg?Ť

Alheit warf Werner einen wütenden Blick zu und verließ das Haus zur Gans.

Mit langen Schritten stürmte sie auf die Gasse. Sie war nicht weit vom Wilden Mann entfernt. Doch dort würde sie keinen finden, an dem sie ihre Wut auslassen konnte. So nahm sie einen Umweg und kehrte zurück, wie sie gekommen war.

Sie kam jedoch nicht weit. Langsam zog eine Prozession dunkler Gestalten zur Judenpforte hinaus und draußen an der Stadtmauer dahin. Sechs Männer trugen einen verhüllten Leichnam auf den Schultern. Ein Vorsänger rezitierte klagend in einer fremden Sprache, die anderen antworteten dumpf. Christen gingen dem Leichenzug aus dem Weg und bekreuzigten sich. Dafür sorgten zwei Waffenknechte mit Stäben, die dem Zug voranschritten. Auch das Ende wurde von zwei Stäblern in Wappenröcken mit weißen Lilien angezeigt.

Noch ehe der Zug die Stadt ganz verlassen hatte, rief jemand aus einer Seitengasse: ťDa ist Israel!Ť

ťWas hat der sich da vor der Stadt herumzutreiben?Ť, erwiderte eine andere Stimme. ťUnd wir warten auf ihn!Ť

Alheit kniff die Augen zusammen und schritt eilig in die Richtung, aus der sie den Ruf gehört hatte.

Die Trauernden dagegen beachteten den Lärm nicht.

Dann begannen die beiden Stimmen zu singen, ein Spottlied auf einen jüdischen Wucherer, der Geschäfte mit dem Teufel macht und von diesem schließlich überlistet wird.

Wie Alheit erwartet hatte, schlossen sich Elbelin und Gottfrid dem Zug an. Der eine schlug die Rotta, der andere strich das Rebec. Immer neue, immer frechere Verse sangen sie, im Wechsel oder gemeinsam.

Die Stäbler am Ende des Zuges schritten mit unbewegtem Gesicht geradeaus. Was sich hinter ihnen abspielte, ging sie nichts an.

Der Gesang der Trauernden dagegen geriet ins Wanken. Zwar waren sie zu zehnt in der Überzahl, doch einigen blieb der Gesang im Halse stecken. Erst recht, als den Spottversen höhnisches Gejohle vom Straßenrand folgte. Dafür erhob sich eine andere Stimme aus der Gemeinde umso lauter, eine Stimme, die den Psalm ein klein wenig anders sang.

Alheit drängte sich durch die Umstehenden, lief den beiden unverschämten Gesellen nach und packte Elbelin am Mantel. ťWas macht ihr hier? Seid ihr verrückt geworden?Ť

ťHe!Ť Widerstrebend drehte sich der Junge zu ihr um.

Dann blieb auch Gottfrid stehen. ťIsrael war heute schon wieder nicht da. Deshalb sind wir ihn suchen gegangenŤ, erklärte er vorwurfsvoll.

Elbelin ergänzte: ťUnd wo die Leute hier alle so griesgrämig herumlaufen, wollten wir sie ein wenig aufheitern.Ť

ťAufheitern!Ť, fauchte Alheit. ťStellt euch vor, es wäre eure Mutter, die da zu Grabe getragen wird.Ť

ťAber das sind doch Juden!Ť, widersprach Gottfrid empört.

ťUmso schlimmerŤ, erwiderte Alheit. ťZu wissen, dass ihre Verwandten auf ewig verdammt sind

Ť

ťPah, die schlachten doch ihre eigenen Kinder ab.Ť Gottfrid ließ sich nicht beirren.

ťHier offensichtlich nichtŤ, beharrte Alheit, ťund überhaupt solltet ihr zwei im Wilden Mann sein. Vorwärts!Ť Sie gab beiden einen groben Stoß zur Stadt hin.

Kaum waren sie in die Zwerchgasse eingebogen, da bemerkte Elbelin ein junges Mädchen, das mit seinem schweren Korb offenbar vom Markt heimkehrte. Er grüßte mit einer tiefen Verbeugung und stimmte ein französisches Liebeslied an.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. Alheit knuffte den Sänger noch einmal in die Seite, deutlich weniger heftig als beim ersten Mal.

Sie kamen gerade rechtzeitig im Wilden Mann an, als Klaus das Mittagbrot verteilte.

Elbelin und Gottfrid gaben ihr Abenteuer zum Besten und wurden dafür von Meister Wolfram und Robert Piper mit Vorwürfen bedacht.

Alheit hatte keine Gelegenheit, sich am Schelten zu beteiligen. Burkhard nahm sie beiseite. ťUnd, hast du deine Schalmei wiederbekommen?Ť

Alheit schüttelte den Kopf. ťDer Kerl streitet alles ab.Ť Sie erzählte, wie es ihr ergangen war.

Burkhard seufzte. ťSpielleute sind ein Lumpenpack. Aber das brauche ich dir ja nicht zu sagen.Ť

ťNein, inzwischen kenne ich sie.Ť

ťPass aufŤ, begann Burkhard nach einer Weile, ťich kann dir vielleicht eine Schalmei verschaffen.Ť

Alheit sah ihn erstaunt an.

ťDie hat mir einer von eurem Gelichter zurückgelassen, als er seine Zeche nicht zahlen konnte.Ť

Sie kniff die Augen zusammen. Wo war der Haken an dieser Geschichte? Vorerst schien der Wirt jedenfalls auf eine Antwort zu warten. ťWas willst du dafür haben?Ť

Burkhard wandte sich von ihr ab, als schämte er sich ein wenig. ťBring mir alles bei, was du spielen kannst.Ť

Das musste ein Vorwand sein. Dennoch erwiderte Alheit: ťWenn’s weiter nichts ist

Ť

Der Wirt lächelte in sich hinein und ging in die Küche. Eine Frauenstimme rief ungehalten nach ihm. Ein wenig später winkte er Alheit vom Hof her. Da die Spielleute sich allmählich wieder um ihren Meister scharten, folgte sie dem Wink. Der Wirt reichte ihr eine unterarmlange Schalmei aus hellem Holz. Am unteren Rand klebte ein wenig Wachs. Das Rohrblatt schien noch intakt zu sein. Alheit nahm es in den Mund.

Burkhard schaute sie erwartungsvoll an.

Sie probierte die ersten Töne. In ihren Ohren klangen sie richtig. Vielleicht würde Franz später die Fehler dabei finden. Sie spielte eine einfache Melodie, und auch diese gelang. ťIch hoffe, der Spielmann, der sie zurücklassen musste, hat eine große Zeche gemacht.Ť

Burkhard zuckte die Schultern. ťWenn du nur etwas damit anfangen kannst.Ť

 

Endlich war Wolfram seine Schüler los. Warum hatte er sich darauf eingelassen, diese Stümper zu unterrichten? Weil es eine Ehre war, den Platz eines Meisters aus Paris einzunehmen? Lange schaute er auf sein Instrument hinab. Er sollte jetzt niederknien, die Laute aufnehmen, sich zurechtsetzen, stimmen und spielen, die filigranen Verzierungen üben, die er seinen Schülern jeden Tag vorsetzte. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er sah alle Bewegungen vor sich, hörte die Musik, aber er stand noch immer aufrecht vor dem Kasten.

Schließlich schob er ihn wieder ins Stroh und ging. Wenn man einen warmen Mantel hatte, so wie Wolfram, war es ein schöner Tag, klar und blau. Der nahende Frühling machte sich bemerkbar. So viele Lieder hatte Wolfram schon darüber gesungen, über den bitteren Winter, der dem grünen Maien weichen muss. Doch insgeheim bezweifelte er, dass mit der Sonne und der Wärme auch die Beweglichkeit seiner Finger zurückkehren würde.

Während er die Kämmerergasse entlangging, wanderte sein Blick über die Stände der Instrumentenbauer. Bunt gekleidete Jüngelchen feilschten mit den Händlern, als ginge es um ihr ewiges Seelenheil. Dabei hatten sie das schon längst verspielt. Aber reichlich irdisches Leben vor sich. So viele Instrumente zu probieren, so viele Stücke zu lernen, so viele Zuhörer zu erfreuen. So viel, was Wolfram nicht getan hatte und nicht mehr tun würde.

Er steuerte einen Weinausschank an. Das war vielleicht das beste Heilmittel für seine Melancholie. Er ließ sich auf einer der Bänke nieder, wo noch niemand saß, und schaute einer Gruppe Handwerksburschen beim Würfelspiel zu. Ein Mädchen brachte ihm einen Krug Wein mit Minze. Als er den ersten Becher halb geleert hatte, trat Regino ein. Wolfram hatte ihn lange nicht gesehen und hätte ihn weiter im Südosten vermutet, doch er war froh, den kleinen blonden Bayern hier zu treffen. Noch ehe Wolfram auf sich aufmerksam machen konnte, setzte sich der Mann zu ihm.

ťGott grüße dich, Wolfram. Was treibt dich hierher? Doch wohl nicht die Notwendigkeit, deine Kunst zu verbessern.Ť

Wolframs gemurmelter Gruß ging in der Frage unter. ťNein, im Gegenteil. Hier sollte ein Meister Wilhelm aus Paris lehren – ihn vertrete ich.Ť

ťAch, der Meister aus Paris.Ť Reginos Stimme klang bewundernd. ťDa wollten einige hin, die nicht angenommen wurden.Ť

Wolfram verzog bitter das Gesicht. Nur nach Fähigkeit war die Auswahl sicher nicht erfolgt.

ťUnd wie kommst du mit deinen Schülern zurecht?Ť

Wolfram schüttelte den Kopf. ťIch dachte, da kommen keine Straßenmusikanten. Nun ja, der eine oder andere kann vielleicht noch etwas werden.Ť

Regino grinste. ťDas klingt nicht danach, dass du deinen Grafen Eberhard verlassen und nur noch lehren wolltest.Ť

ťIch weiß noch nicht, wo ich als Nächstes hingeheŤ, antwortete Wolfram. ťVielleicht nach Trier.Ť

Regino nickte. ťAber denk dran, Mainz ist auch nicht weit, und den Rhein hinunter nach Köln kommt man gut.Ť

ťIst es das, was du vorhast?Ť, fragte Wolfram.

ťJa, schon. Wollen wir uns zusammentun?Ť

Ohne dass er es verhindern konnte, zog Wolfram die Mundwinkel nach oben. Dennoch antwortete er vorsichtig: ťDas wäre eine Möglichkeit. Ich werde darüber nachdenken.Ť

ťWir haben ja noch eine Weile Zeit. Zuerst geht es wohl nach Frankfurt.Ť Regino füllte seinen Becher und schenkte auch Wolfram nach. ťDie Leute, mit denen ich hier zusammen spiele, sind eher Kartäuser als Spielleute. Da finde ich keinen, mit dem es sich lohnen würde, auf Reisen zu gehen.Ť

Wolfram lachte. ťJa, im Wilden Mann sind auch etliche, die mehr wollen als können. Nach Reisegefährten muss ich mich woanders umsehen.Ť

ťDu kannst ja mit in mein Quartier kommenŤ, schlug Regino vor. ťDann sehen wir, wie wir das zusammenbringen, was wir können.Ť

ťAbgemacht. Ich muss nur mein Instrument holen.Ť

 

Zum Essen fand sich die zerstreute Gesellschaft wieder ein. Robert setzte sich neben Elbelin. Das war ungewöhnlich, denn meist wetteiferten die Frauen um diesen Platz. Doch der Engländer schob Lene einfach beiseite; seine Tochter verscheuchte er mit einem Blick. Katherine sah ihn ebenso herausfordernd an und setzte sich neben Gottfrid.

Nun unterhielt sich Robert angelegentlich mit Meister Wolfram über den Krieg in Frankreich. Zumindest versuchte er es, doch der Meister brachte das Gespräch immer wieder auf die Auseinandersetzungen der gelehrten Herren an der Sorbonne, die sich dort zu seiner Zeit abgespielt hatten. Es war deutlich, dass er keinen von denen kannte, die heute das Leben in Paris bestimmten.

Alheit wollte eigentlich Elbelin im Auge behalten, doch sie hatte das Gefühl, dass Lene sich nicht nur mit dem jungen Mann ihr gegenüber beschäftigte, sondern auch mit dem älteren an ihrer Seite. Franz hörte den beiden Jungen zu, die abwechselnd einen Schwank aus Flandern nacherzählten und dabei wild mit den Löffeln gestikulierten. Wie gebannt folgten auch Lene und Katherine den Löffeln mit den Augen.

Und Robert, mitten in einer Erklärung über das Exil des schottischen Königs in Frankreich, hob die linke Hand über Elbelins Schüssel und ließ etwas hineinrieseln. Ehe Alheit ein zweites Mal hinsehen konnte, um sich zu überzeugen, war die Hand unter dem Tisch verschwunden.

ťWas ist?Ť, fragte Marjorie.

Anscheinend hatte Alheit sich ihre Verwunderung anmerken lassen. Sie fuhr mit der Hand zum Mund. ťEin SteinŤ, murmelte sie und tat, als wollte sie ihn entfernen.

Elbelins und Gottfrids Erzählung endete in lautem Gelächter.

Franz riss Lenes Arm hoch. ťIch habe hier eine Hand gefunden, die mir nicht gehört. Will sie jemand haben?Ť

ťDafür wirst du nicht viel bekommenŤ, spottete Elbelin.

Lene rückte wütend von Franz ab. Meister Wolfram auf ihrer anderen Seite schob sie grob zurück.

Alheit hatte Mühe, bei all dem Trubel noch auf Robert zu achten, doch der aß seinen Hirsebrei und lauschte Meister Wolframs Ausführungen über die neun Chöre der Engel, als sei ihm das völlig neu. Elbelin hatte eine weitere Geschichte von den Haimonskindern begonnen. Er schien nichts Ungewöhnliches zu bemerken, weder am Geschmack seines Breis noch an seinem Körper. Was war es gewesen, das der Engländer seinem Nachbarn ins Essen gekippt hatte? Alheit müsste sich das Fläschchen beschaffen, das Robert in der Hand gehabt hatte, und dann

und dann einen befragen, der etwas von diesen Dingen verstand. Robert.