DIENSTAG NACH REMINISCERE

Am nächsten Morgen, als die anderen ihren Haferbrei aßen, musste Franz wieder sehr vorsichtig mit dem Löffel hantieren. Mehr als einmal verzog er schmerzlich das Gesicht, schließlich versuchte er es mit der Linken. Nach dem Frühstück entschuldigte er sich bei Meister Wolfram.

Dieser sah ihn gequält an. ťDann soll deine Frau zu mir kommen.Ť

Franz war zu verdutzt, um zu widersprechen oder nachzufragen.

ťNur, solange du nicht spielen kannstŤ, fügte der Meister hinzu.

ťDas werden wir ja sehen!Ť, murmelte Alheit und lief mit den anderen zum Bärenstall, um ihre Instrumente zu holen.

 

Obwohl Elbelin nicht bei ihm war, ging Franz zunächst die Kämmerergasse hinauf zum Hof des Herrn von Alzey, um ihm den Zwischenfall vom Freitagabend zu melden. Doch er hatte kein Glück. Der Wächter am Tor beschied ihm, dass Herr Heinrich nicht in der Stadt sei und erst am Abend zurückkehren wolle.

Also machte Franz sich auf zum Heilig-Geist-Spital vor der Neuen Pforte, südlich der Stadt.

Trotz des Sonnenscheins wirkte das Kloster mit seinen hohen Mauern düster, ein Ort zum Sterben. Es widerstrebte Franz, hineinzugehen. Er dachte an die Lieder, die er nicht spielen konnte, und nahm all seinen Mut zusammen. Der Pförtner wies ihn zu einem Nebengebäude an der Ostmauer, umgeben von Beeten, die auf die erste Frühjahrsarbeit warteten.

Ein Bruder Benedikt nahm sich seiner an. Auch wenn die Männer mit ihren geschorenen Köpfen gleich viel älter aussahen, wirkte dieser eher jung.

An der Tür zu seiner engen Werkstatt besah er sich Franz’ Handgelenk von allen Seiten und drückte mehrmals auf besonders schmerzende Stellen. Dabei machte er Franz keine Vorhaltungen wegen seines Berufs, riet ihm aber, das Spielen für eine Weile sein zu lassen. ťIch weiß ja, dass es nichts fruchtet, aber sagen muss ich es trotzdem.Ť

ťWie lange wäre eine Weile?Ť, fragte Franz.

Bruder Benedikt hob die Schultern. ťDrei, vier Tage, höchstens eine Woche. Bis es nicht mehr weh tut.Ť

Franz grinste. ťDas kann schon morgen sein.Ť

ťHab ich’s nicht gesagt?Ť Der Mönch trat in seinen Arbeitsraum und kam kurz darauf mit einer dunklen Glasflasche zurück. Daraus goss er eine klare, honigfarbene Flüssigkeit in eine Schale, tränkte ein Tuch damit und legte es um Franz’ Handgelenk. Es roch scharf und fühlte sich kalt an. Dann wickelte er feste Leinenstreifen darum, der Geruch verschwand, und die Hand wurde wärmer.

ťWas ist das?Ť, fragte Franz.

ťEin alkoholischer Podagraria-AuszugŤ, erklärte Bruder Benedikt.

Das klang doch ähnlich wie das, was Robert gesagt hatte. Franz versuchte sein Glück: ťHabt ihr das aus Venetien?Ť

Der Mönch nickte zaghaft. ťIch weiß, dass der Apotheker zur Kette selbst brennt. Aber er verdirbt dabei mehr, als er gewinnt.Ť Er befestigte den Verband mit einem Knoten. Dann füllte er etwas von der Flüssigkeit in einen kleinen Steingutkrug und verschloss ihn sorgfältig. ťHier, das reicht wohl für ein paar Tage. Reib dein Handgelenk morgens und abends damit ein.Ť

ťWas bin ich Euch schuldig, Bruder?Ť Franz ging nicht mehr auf Benedikts gute Ratschläge ein und zahlte die wenigen Heller. Den Krug wickelte er in die Filzdecke, in der er sonst die Laute trug.

ťAber nicht trinken!Ť, mahnte Bruder Benedikt noch. ťDavon kannst du blind werden.Ť

Dann machte Franz sich auf den Weg durch die Stadt. Wenn er nicht spielen sollte – und im Augenblick fühlte er sich auch nicht danach –, hatte er Zeit. Er konnte über den Markt streifen und sich die fremdartigen Waren betrachten, die dort angeboten wurden.

Zuerst ging er zum unteren Markt und behielt die Umgebung aufmerksam im Auge. Hier irgendwo hatte er Werner gesehen. Er würde sich gern noch einmal mit ihm treffen, die Abenteuer der letzten Jahre besprechen, den berühmten Wein des Wormsgaus genießen. Alheit hatte Werner gestern heftig abgefertigt, nur gut, dass sie heute nicht dabei war.

Er traf Werner vor dem Stand des Thüringer Schalmeibauers, der seine minderwertige Ware als Arbeit von Timo Widner ausgab und teuer zu verkaufen suchte. Doch während dort Emich der König Instrumente ausprobierte, bei jedem den Kopf schüttelte und seine riesige Gestalt immer bedrohlicher aufrichtete, stand Werner mit großen Augen abseits. Franz trat neben ihn. ťMan könnte hier den ganzen Markt leerkaufen, nicht?Ť

ťEine Schalmei würde mir schon reichen.Ť Ein tiefer Seufzer begleitete Werners Antwort.

ťHattest du nicht eine, von Timo Widner?Ť

ťDie ist hin.Ť

ťUnd was spielst du jetzt?Ť

ťPsalter.Ť

ťNa, das ist ein Unterschied. Wie bist du denn dazu gekommen?Ť Franz entfernte sich langsam von dem Stand der Verlockungen und hielt auf ein Weinhaus zu.

Werner folgte ihm zögernd. ťOhne Instrument habe ich eine Weile gebettelt. Dann wollte ein Zisterzienserpater wissen, ob ich überhaupt singen kann

Ť

Franz lachte auf.

ťJa, eben.Ť Werner blieb neben der Tür des Weinhauses stehen. ťEr hat mich ein paar Messen singen lassen und meinte, ich sollte doch das gottlose Leben aufgeben.Ť

ťJetzt geh schon hinein.Ť Franz drängte ihn sanft in Richtung Tür.

ťErlaubt dir dein Drache so etwas?Ť

ťAch komm, wir müssen doch unser Wiedersehen begießen.Ť

ťJa, aber einer von uns muss dafür bezahlen.Ť

ťDas mach ich schon. So armselig war die Fastnacht in Mainz nun auch wieder nicht.Ť Franz betrat die Weinstube.

ťFür mich schonŤ, murmelte Werner, ging aber mit seinem alten Gefährten hinein.

Der bestellte einen heimischen Weißen und forderte Werner auf: ťUnd jetzt erzähl weiter von deinem Zisterzienser und dem Psalter.Ť

ťJa, dieser Kantor war schwer enttäuscht, dass ich nicht als Laienbruder bei ihnen schuften wollte, damit ich fünfmal am Tag die Messe singen darf.Ť

ťAber?Ť

ťAber er ließ mich dann doch ziehen und schenkte mir für meine Mühen den Psalter. Ein altes Teil, nur die Saiten waren neu und stimmten überhaupt nicht.Ť

Franz nickte verständnisvoll. ťAber du hast ihn wieder zurechtgemacht.Ť

ťSoweit es ging, ja. Aber er ist einfach sehr leise. Natürlich singe ich dazu, aber draußen auf der Straße

Ť

ťHast du keinen Gesellen?Ť

Werner schüttelte den Kopf.

ťUnd das Fräulein in Prag?Ť

Mit einer wegwerfenden Handbewegung antwortete Werner: ťDie hat andere Gesellschaft gefunden.Ť

ťUnd was machst du hier?Ť

ťPsalter spielen.Ť Werner verzog das Gesicht. ťIch bin in einem Haus voller Sänger, die um die Wette Verse schmieden. Dabei begleite ich sie.Ť

ťUnd, hier?Ť Franz rieb die Finger der rechten Hand aneinander.

ťUnterkunft und Verpflegung.Ť

ťHeilige Kümmernis. So kommst du nie zu was.Ť

ťImmerhin war mal ein Bad drin

Ť

Gedankenverloren starrte Franz an die Decke. ťKannst du keine gebrauchte Schalmei irgendwo bekommen?Ť

ťUnd ein gutes Rohr dazu?Ť

ťAch, ist das alles

Ť

Eine Weile blickten sie schweigend in ihre Weinbecher. Schließlich fragte Werner: ťUnd bei dir?Ť

Franz lächelte unwillkürlich. ťAch, weißt du, wir sind vor, na, ungefähr zwei Jahren mit Herrn Heinrich von Alzey zusammengekommen, der hier im Martinsviertel wohnt. Für den sind wir ab und an auf Reisen, jetzt zahlt er für unseren Unterhalt hier. Ein paar Dutzend Heller für Instrumente hat er uns auch überlassen

Ť

Werner atmete resigniert ein. ťJa, es ist schon besser, Verbindungen zu einem Herrn zu haben. Meinst du nicht, du könntest deinen Drachen überreden, dass ich mit euch weiterziehe?Ť

Franz zögerte. Wenn er heute, wo er ein einigermaßen gutes Leben führte, über Werners Flucht mit der Reisekasse lachen konnte, so hatte sie ihn damals doch in arge Schwierigkeiten gebracht. In Amberg hatte er sich seitdem nicht mehr sehen lassen, weil er noch Schulden beim Wirt hatte. Er war froh, dass er Alheit vorschieben konnte.

ťIch werd’s versuchenŤ, sagte er etwas lahm, ťaber versprechen kann ich dir nichts.Ť

Werner sah ihn mitleiderregend an. ťDanke.Ť

 

Alheit war stolz, nun auch in dieser auserwählten Runde zu spielen. Die anderen schienen über ihre Anwesenheit nicht weiter erstaunt. Dafür berieten sie, wo Israel stecken mochte.

ťVielleicht ist er krank. Er war doch am Samstag auch nicht daŤ, vermutete Katherine.

ťAm Sabbat kommt er natürlich nicht zu unsŤ, erwiderte Alheit.

Katherine schaute sie verwirrt an.

ťIn England leben keine JudenŤ, erklärte ihr Vater. ťIhre Sitten sind dort wenig bekannt.Ť

ťGlückliche InselŤ, murmelte Gottfrid. Elbelin und er tauschten einen verschwörerischen Blick.

ťDer Jude wird heute nicht kommenŤ, sagte Meister Wolfram, als ob er nicht weiter darauf eingehen wollte. ťLasst uns noch einmal die Motette von gestern spielen.Ť

Alheit schloss sich Marjories Stimme an, doch ihr Lehrmeister war damit nicht zufrieden. Sie sollte Tamas begleiten. Mit einem zweifelnden Blick auf ihren neuen Gesellen versuchte Alheit, sich auf diese Stimme einzustellen. Die Flöte klang viel höher als die Fidel des Ungarn. Außerdem schienen alle Grifflöcher von ihren Plätzen verrutscht, und die Töne kamen nicht in der Reihenfolge, die Alheit gestern gelernt hatte. Sie mussten mehrmals neu ansetzen, bis die Melodie ins Fließen kam. Dass Robert immer, wenn er Gelegenheit hatte, hämisch herübergrinste, machte die Sache nicht leichter.

 

Kaum hatte Meister Wolfram seine Schüler zum Üben geschickt, da verließen Elbelin und Gottfrid den Hof.

ťWo wollt ihr hin?Ť, rief Robert ihnen nach.

ťSpazieren gehenŤ, antwortete der eine, ťIsrael holenŤ, der andere.

ťFaules PackŤ, schimpfte der Meister. ťAls ob die es nicht nötig hätten.Ť Missmutig zog er sich in sein Quartier hinter den Vorhang im Kaminzimmer zurück.

Elbelin und Gottfrid liefen inzwischen die Kämmerergasse hinunter, als ob sie dort, am Nordostende der Stadt, eine besondere Freude erwartete. In der Tat hörten sie bald Musik und fröhlichen Lärm, der umso lauter wurde, je näher sie der Judengasse kamen. Doch ehe sie die Quelle dieser Klänge erreicht hatten, wurden sie von einem Wächter mit der Hellebarde aufgehalten. ťBleibt da wegŤ, gebot er. ťGute Christen haben beim Gelage der Juden nichts verloren.Ť

Elbelin wies auf Gottfrids Schalmei. ťWir sind Spielleute und

Ť

Der Wächter schob sie mit dem Schaft der Hellebarde zurück. ťIch weiß, anscheinend besteht gerade die ganze Stadt aus euch Lumpenpack. Aber hier kommt keiner von euch vorbei. In den Fasten wird nicht zum Tanz aufgespielt.Ť

Gottfrid und Elbelin sahen einander an. ťDort ist doch MusikŤ, wandte Gottfrid ein.

ťDann brauchen sie euch auch nicht.Ť Der Wächter trat einen weiteren Schritt nach vorn.

ťAber wir brauchen das Geld.Ť Elbelin schaute ihn kläglich flehend an.

ťVerschwindet.Ť

ťHartherziger HundŤ, murmelte Elbelin, gerade so laut, dass der Wächter ihn noch hören konnte. Dann zogen die beiden ohne weitere Widerworte davon.

Als sie den Wilden Mann erreichten, blieb ihnen nur noch wenig Zeit, das Stück einmal zu spielen, das sie hätten üben sollen.

ťUnd, wo ist Israel?Ť, fragte Alheit.

Gottfrid zuckte die Schultern. ťOh, die Juden feiern ein großes GelageŤ, erklärte Elbelin. ťDa wird er wohl dabei sein.Ť

ťEin Gelage? Wieso das?Ť, wollte Katherine wissen.

ťDas tun sie immer um diese JahreszeitŤ, erklärte Alheit. Auf diesen Gedanken hätte sie schon früher kommen können. ťDas ist so ähnlich wie die Fastnacht für uns Christen.Ť

 

Franz wanderte noch eine Weile durch die Stadt. Fröhlicher Lärm lockte ihn nach Norden, zur Judengasse. Zwar verwehrten ihm Wächter, die das Lilienwappen der Herren von Dalberg trugen, den Zugang, aber er blieb in der Nähe und hörte der ausgelassenen Feier zu. Ein paar Melodiefetzen setzen sich in seinem Kopf fest, die er im Lauf des Sommers sicher brauchen konnte.

Erst spät am Nachmittag kehrte er in den Wilden Mann zurück. Aus dem Schankraum hörte er keine Musik mehr. Vorsichtig ging er hinein, gerade rechtzeitig zu Meister Wolframs abschließendem Spruch: ťSingt dem Herrn ein neues Lied, singt dem Herrn alle Welt. Amen.Ť

Aus der Küche drangen bereits verführerische Düfte, Klaus mit dem Kessel und der Kelle konnte nicht mehr weit sein.

Elbelin und Gottfrid begannen eine fingierte Rauferei. Das lange Stillsitzen behagte ihnen nicht. Kopfschüttelnd blieb Meister Wolfram eine Weile bei ihnen stehen, als wagte er nicht vorbeizugehen. Doch dann bückte er sich steif, um etwas vom Boden aufzuheben, und verließ den Raum.

Tamas tastete seinen Gürtel ab. ťWo ist mein Schlüssel?Ť, fragte er ins Leere und durchsuchte seine Beutel, dann die Lederhülle für die Fidel.

ťWas suchst du?Ť, fragte Franz.

ťSchlüssel für Stall. Bär muss tanzen.Ť

Franz schluckte. Es behagte ihm gar nicht, dass ausgerechnet dieser Schlüssel verschwunden war. ťHat ihn vielleicht Lene?Ť

Tamas zuckte die Achseln. ťLene nicht da. Hat Bär gefüttert heute Morgen.Ť

ťKomm, wir schauen in unserem Schlafraum nach.Ť Ein unruhiger Bär hinter einer dünnen Holztür war Franz noch unheimlicher als der Schlüssel zu dieser Tür in den falschen Händen. Er ging dem Ungarn eilig voran die Treppe hinauf. Dann zögerte er jedoch, dessen Bündel zu durchwühlen.

Tamas kam in gemächlicherem Schritt herein und griff zielsicher in den linken Stiefel, der neben Lenes Lager stand. Breit grinsend hob er den Schlüssel hoch. ťLene macht immer, wenn ich finden muss.Ť Er summte das zuletzt gelernte Lied vor sich hin und ging hinunter in den Stall.

Franz hatte keine Eile, ihm zu folgen. Von draußen hörte er Robert über den Hof rufen: ťUnd, wo war er?Ť

ťLinke Schuh von LeneŤ, antwortete Tamas fröhlich.

Franz lauschte, ob er die Stalltür gehen hörte. Vielleicht wartete er lieber, bis Alheit ihn zum Essen holte. Die jungen Leute verspotteten ihn immer, weil er sich vor dem Bären fürchtete, mit dem es sogar die zierliche Lene aufnahm. Aber Franz konnte nicht dagegen an, er war Spielmann und kein Jäger. Es war sein Stolz, dass die Leute wegen seiner Musik zusammenliefen, nicht, weil er ein possierliches oder gefährliches Tier mit sich führte.

MITTWOCH NACH REMINISCERE – ST. MATTHIAS’ TAG

Der Bär lag auf seiner Streu und schlief, auf der Seite zusammengerollt fast wie ein Mensch.

Langsam und leise öffnete sich die Stalltür. Ein menschlicher Schatten schlich sich an das Tier heran, das ihm den Rücken zuwandte. Er tastete mit der rechten Hand nach dem Halsband des Bären. Der brummte schläfrig und schlug mit dem Kopf. Der Schatten zuckte zurück, doch der Bär regte sich nicht mehr. Da griff er wieder zu, Metall klickte leise auf Metall. Noch immer lag der Bär friedlich im Schlaf.

Der Schatten zog sich lautlos zur Tür zurück. Dort nahm er ein Werkzeug aus dem Gürtel, hob es auf Augenhöhe und zielte auf die dunkle Masse im Stroh. Ein Stein flog aus der Schleuder, gleich darauf brummte der Bär und kam auf die Beine. Er witterte und lief in Richtung Tür.

Der Schatten eilte rückwärts davon und schoss ein zweites Mal. Der Bär brummte wieder und verfolgte ihn. Doch im Hof traf ihn ein anderes Geschoss. Er stellte sich auf die Hinterbeine, brüllte und schlug blindlings zu. Als er nichts erwischte, galoppierte er zum Tor, das weit offen stand.

Aus dem Raum im Obergeschoss kam Lene gelaufen, nackt, wie sie zu Bett gegangen war. Gleich hinter ihr folgte ihr Mann mit ebenso wenig Stoff am Leib.

ťMackóŤ, rief er und versuchte, an Lene vorbeizukommen.

Die beiden hatten gerade die offene Stalltür erreicht – Tamas fluchte auf Ungarisch – da kam das nächste Paar im Hemd die Treppe herunter. Alheit und Franz trugen Laternen.

ťDer Bär ist wegŤ, sagte Lene atemlos. ťJemand hat die Tür aufgemacht.Ť

ťWer hat denn den Schlüssel?Ť, fragte Alheit gleich dagegen.

ťDer Ungar.Ť

ťSonst niemand?Ť

Lene schüttelte den Kopf.

Alheit hob ihre Laterne zum Riegel an der Stalltür und dem Schloss, das ihn sichern sollte. ťEs ist noch ganz. Jemand hat aufgeschlossen.Ť

Franz war mit Tamas in den Stall gegangen. Vor lauter Aufregung konnte der Ungar nur seine Muttersprache sprechen. Gestikulierend redete er auf die Wände ein und hob vorwurfsvoll das leere Ende der Kette hoch.

ťKomm, zieh dir erst etwas anŤ, mahnte Franz. ťSo kannst du ihn nicht suchen.Ť Er fasste den Fidler an der Schulter und schob ihn zur Stalltür.

Doch der bückte sich und begann im Stroh zu wühlen. Franz zog ihn wieder hoch. ťNicht, lass alles liegen. Wir sehen genau nach, wenn es hell ist.Ť

Jetzt gab Tamas nach. Als er das offene Hoftor sah, ließ er sich überzeugen, dass er besser bekleidet hinter dem Flüchtigen herlaufen sollte.

 

Dolf der Fischerbursche traute seinen Augen kaum. Das zottige braune Tier, das die Straße herunter auf ihn zu trottete, war kein großer Hund, auch kein unförmiges Maultier, sondern ein wirklicher und wahrhaftiger Bär.

ťHeiliger Korbinian, steh uns bei!Ť Er schlug das Kreuz und rannte ins Haus. ťMeister! Meister! Ein Bär! Draußen auf der Straße!Ť

Der Meister jedoch hob nur einmal kurz den Kopf von der Waschschüssel. ťIch habe genug von deinen Ausreden, Dolf! An welchen Straßenköter hast du den Fisch verfüttert?Ť

Wütend trat Dolf gegen den Tisch, auf dem die Schüssel stand. Der Meister schlug ihm kurzerhand den nassen Lappen um die Ohren.

ťWas ist denn hier wieder los?Ť Die Meisterin kam aus der Küche gelaufen.

Draußen auf der Straße schrie ein Kind.

ťNickel!Ť Dolf stürmte wieder hinaus.

ťHast du ihn wieder allein hinauslaufen lassen?Ť, fragte der Fischer ungehalten seine Frau.

ťDie Anna ist bei ihm, und in der Küche kann ich ihn nicht brauchen.Ť Die Fischerin kehrte dorthin zurück.

Das Geschrei auf der Straße hatte sich inzwischen um eine Frauenstimme vermehrt. Nun fand es der Fischer doch angezeigt, einmal nachzuschauen.

An der Tür zur allgemeinen Räucherkammer draußen auf dem Platz stand ein zottiges braunes Wesen und hieb auf das Holz ein. Es würde nicht mehr lange standhalten. Die Magd mit dem kleinen Nickel auf dem Arm wagte es nicht, an dem Vieh vorbei ins Haus zu flüchten.

Auf der anderen Seite hüpfte Dolf herum, schrie ťHe, Bär, ho!Ť und warf Steine nach ihm, doch das Tier ließ sich nicht ablenken.

ťPass auf, dass er mir nicht an die Aale geht!Ť, rief der Meister dem Knecht zu, aber Dolf schien ihn gar nicht zu hören.

Nachbarn, deren Ware ebenfalls in der Kammer hing, liefen herbei und stimmten in das Wehgeschrei des Fischers ein.

Der Bär hatte indessen sein Ziel erreicht. Die Tür splitterte unter seinen Pranken, als er den ersten Spalt so lange erweiterte, bis sein Kopf hineinpasste.

ťJetzt lauf, Anna!Ť, schrie Dolf.

Die Magd warf noch einen zweifelnden Blick auf das langhaarige Hinterteil und rannte ins Haus.

ťIch hab dir doch gesagt, du sollst das Vieh von den Aalen fernhalten!Ť Der Meister stieß Dolf fast zu Boden, als er an ihm vorbeistürmte. ťDas zieh ich dir vom Lohn ab!Ť

Dolf lief auf die Rückseite der Räucherkammer, zur Feuerung. Er schob Späne und Holz hinein, dann eilte er mit einem Span in die Küche und entzündete ihn am Feuer unter dem Kessel.

ťDolf!Ť, schrie die Meisterin hinter ihm her. ťJesus, Maria, kannst du einmal machen, was man dir sagt?Ť

ťGleichŤ, murmelte Dolf in das Feuerloch und legte den brennenden Span hinein. Jetzt war es Zeit, ins Haus zu gehen und die Türen zu schließen.

ťDie Anna sagt, da draußen wäre ein BärŤ, empfing ihn die Meisterin.

ťStimmtŤ, antwortete Dolf. Nickel kaute inzwischen friedlich auf seinem Zulp, Anna lehnte blass und schwer atmend an der Wand.

ťWo ist der Herr?Ť, fragte die Meisterin weiter.

ťIch weiß es nicht. Er hat mich fast über den Haufen gerannt, dann ist er weiter zur Stadt hinaus.Ť

ťUnd der Bär?Ť

ťWar in der Räucherkammer. Ich habe Feuer gemacht.Ť

ťLieber Gott.Ť

 

Der Fischer lief eilends zur Pfauenpforte und alarmierte dort die Wächter. Das wollte er jedenfalls, doch die Bewaffneten sahen ihn ebenso ungläubig an wie er zuvor Dolf.

ťDas wird ein großer Hund gewesen sein, Meister FischerŤ, sagte der Wortführer. Er gehörte zu den Metzgern vom oberen Markt, die nahmen die Fischer sowieso nicht für voll.

ťEin Hund, der auf den Hinterbeinen steht und die Tür einschlägt? Jetzt macht endlich, das Vieh frisst uns die Räucherkammer leer.Ť

Noch immer schienen die Männer zu zweifeln. Vielleicht wollten sie auch nur ihre Wachstube mit dem Feuer im Kamin und dem Weinkrug nicht verlassen.

ťIch schick euch jeden Tag den Burschen mit gerauchtem Aal vorbei.Ť

Das zeigte Wirkung. Die drei Wächter deuteten den Jüngsten von ihnen aus, den Ritter Heinrich von Alzey zu holen. Wenn die Stadt ihn schon dafür bezahlte, dass er ihr in Waffen beistand, konnte er auch im Namen der Bürger auf die Jagd gehen.

Wilhelm Fischer atmete auf.

ťDa, trinkt einen Wein auf den Schrecken.Ť Der, den Meister Wilhelm als Metzger erkannt hatte, nahm den Krug heraus und füllte die Becher.

Meister Wilhelm leerte schon den zweiten Becher, als der Wächter mit dem Ritter wiederkam. Dieser hatte sich wohl gerüstet. Auf seinem Wappenrock prangte eine Laute. Er trug eine Armbrust auf dem Rücken, zwei Knechte mit starken Spießen folgten ihm. Vor ihren Füßen lief ein halbes Dutzend Hunde durcheinander.

Doch als Wilhelm Fischer und die Jäger den Fischmarkt erreichten, war der Bär bereits verschwunden. Rauch quoll aus der zerstörten Tür der Räucherkammer.

ťWas ist da los?Ť, fragte der Fischer ins Blaue hinein.

ťDa hat jemand einen guten Gedanken gehabtŤ, erwiderte Herr Heinrich. Er ging zur Räucherkammer, betrachtete das zersplitterte Holz und die Spuren im Schlamm des Hofes. Die Hunde wedelten aufgeregt mit den Schwänzen und gaben Laut. Sie zerrten an den Leinen in Richtung Stadt.

Der Jäger nickte seinen Knechten zu, und sie folgten der bellenden Meute die Gasse hinauf. In den Höfen winselten Hunde, Kinder weinten, und die Erwachsenen riefen aus den Fenstern im ersten Stock: ťEin Bär! Dort entlang!Ť Dabei deuteten sie in unterschiedliche Richtungen und erhoben noch lauteres Geschrei, weil der Jäger lieber seinen Hunden folgte als den Fingerzeigen der Zuschauer.

Der Bär hielt auf das Paulusstift und die Rupertikirche zu. Natürlich weiter den Fischmarkt hinauf und dorthin, wo viele Leute umherliefen. Der Jäger winkte seinen Knechten, sich zu beeilen. Noch hatte das Tier keinen ernsten Schaden angerichtet, es schien die Menschen, die vor ihm flüchteten, gar nicht zu bemerken. Es trabte stetig auf den Torturm an der Rheinseite zu.

Dort blockierte ein Fuhrwerk den Durchgang. Das schwere Zugpferd scheute und bäumte sich auf. Der Bär erhob sich auf die Hinterbeine und schlug nach dem Pferd. Dieses wollte zur Seite ausbrechen, fand aber keinen Platz.

Die Torwächter rannten mit ihren langen Spießen herbei und kreisten den Bären ein. Das Tier hieb noch einmal nach dem Pferd, schlug aber nur die Deichsel des Fuhrwerks entzwei. Das Pferd nutzte die neue Bewegungsfreiheit und keilte aus.

Mit wütendem Gebell jagten die Hunde heran. Der Bär wandte sich ihnen zu und hieb den ersten, der ihn ansprang, zu Boden.

Ein Armbrustbolzen fuhr ihm in die Brust. Der Bär sackte auf alle viere und griff die Verfolger an. Die Hunde bissen sich in seine Flanken, die Spieße der Torwächter stachelten ihn weiter auf. Doch Herr Heinrich hatte gut gezielt. Die Bewegungen des Tieres wurden immer ungelenker und langsamer. Nun rammte er ihm den ersten Speer in den Hals. Ein Blutstrom schoss hervor, der Bär schlug in einem letzten zornigen Angriff einen weiteren Hund nieder, trabte einige Schritte auf den Waffenknecht zu, der die Armbrust lud, und fiel dann hin.

Der Fuhrmann sprang triumphierend von seinem Bock. ťDer heiligen Jungfrau sei Lob und Dank! Aber was macht so eine Bestie hier in der Stadt?Ť

ťDas wüsste ich auch gernŤ, erwiderte Herr Heinrich. Er musste nicht lange auf eine Antwort warten.

 

Die Spielleute liefen die Hahngasse hinunter zum Fischmarkt. Dort würden sie den flüchtigen Bären sicher antreffen. Noch bevor sie die Gasse mit den geschlossenen Fischbuden erreichten, schien es, als habe Lene sich abgesetzt, um ihren eigenen Geschäften nachzugehen. Doch sie hatte sich nur gebückt, richtete sich schnell wieder auf und kam hinter den anderen her. Alheit glaubte, einen boshaften Glanz in ihren Augen zu entdecken.

Auf dem Fischmarkt standen trotz der Arbeitsruhe zu Ehren des Apostels Matthias Grüppchen beisammen und redeten aufgeregt durcheinander. Alheit brauchte nicht nach dem Weg zu fragen. Der Bär und sein Fluchtweg waren in aller Munde. Ohnehin war es besser, nicht verlauten zu lassen, dass das Tier zu ihnen gehörte.

Sie waren noch nicht weit in die Richtung gegangen, in die alle eifrigen Erzähler deuteten, da hörten sie Geschrei beim großen Stadttor. Das erregte Bellen der Jagdhunde ließ nichts Gutes ahnen. Alheit lief der kleinen Gruppe voran. Überall standen Menschen im Weg, die Vermutungen austauschten, was die Unruhe zu bedeuten habe. Andere drängten in die Richtung, aus der der Lärm erklang, um es mit eigenen Augen zu sehen. So kam es, dass der Platzmeister – im langen, dunkelgrünen Feiertagskleid und begleitet von zwei Waffenknechten – fast gleichzeitig mit den Spielleuten am Torturm anlangte.

Der Bär lag in seinem Blut auf der Straße. Die Hunde zerrten an den Leinen, aber ihr blutiges Werk war vollbracht. Die Jäger hielten sie zurück.

Tamas liefen die Tränen über das Gesicht. Lene klammerte sich an ihn und verfluchte alle Umstehenden.

ťDas ist ja Franz!Ť, rief Herr Heinrich verwundert. ťAber dir gehört der Bär doch nicht.Ť

ťNein, Herr.Ť Er schob Tamas nach vorn. ťDieser ist der Bärenführer.Ť

Der Platzmeister nahm ihn sogleich ins Verhör. ťWie heißt du?Ť

Leise nannte Tamas seinen Namen.

ťWoher kommst du?Ť

ťSzegedin.Ť

ťDas liegt in Ungarn, nicht wahr?Ť, fuhr der Platzmeister fort. ťWie kommst du hierher?Ť

ťWar in Aachen.Ť

ťUnd den Bären hast du die ganze Zeit mit dir geführt? Wie lange?Ť

Tamas antwortete nicht gleich, sondern schaute Lene an. Sie flüsterte ihm etwas zu. ťEin JahrŤ, sagte er dann.

Der Platzmeister hielt den Blick starr auf Tamas gerichtet. ťUnd bisher ist der Bär fromm an seiner Kette geblieben?Ť

Wieder flüsterte Lene ihrem Mann etwas zu. Er nickte.

ťJemand hat die Kette gelöstŤ, ergänzte Lene. Der Platzmeister nahm ihren Einwurf nicht zur Kenntnis, sondern schaute Tamas an, als warte er auf eine weitere Erklärung.

ťKann es nicht sein, dass der Bär sich losgerissen hat?Ť, fragte Herr Heinrich an seiner Stelle.

ťKommt mit und schaut es euch anŤ, fauchte Lene. Herr Heinrich nickte.

Da der Platzmeister immer noch tat, als gäbe es Lene gar nicht, wiederholte Alheit die Aufforderung: ťKommt mit uns in den Wilden Mann, Herr. Der Bär wurde nicht durch die Unachtsamkeit seines Besitzers freigelassen, sondern mit Absicht. Jemand will uns schaden.Ť

ťMacht das unter euch ausŤ, schnitt der Platzmeister ihr das Wort ab. ťGebt Meister Wilhelm Fischer und dem Fuhrmann jeweils zehn Heller für ihren Schaden, zahlt den Jägern jedem einen Heller und ersetzt dem Herrn von Alzey seine Hunde. Dann will ich vom Wilden Mann nichts mehr hören.Ť

ťNein, nein, das ist nicht nötigŤ, wehrte Herr Heinrich sogleich ab. ťWer auf Bärenjagd geht, läuft immer Gefahr, seine Hunde zu verlieren.Ť

Zugleich schrie Lene: ťWas? Man bringt uns um unser Eigentum, und wir sollen noch dafür bezahlen?Ť

ťSchweig!Ť, fuhr sie einer der städtischen Waffenknechte an und stieß sie mit der Stange der Hellebarde weg.

ťIch komme mit euchŤ, sagte Herr Heinrich begütigend. ťIch will genau wissen, wie dieses Tier in die Stadt gekommen ist.Ť

Er winkte einem seiner Knechte, ihn zu begleiten. Der andere machte sich mit dem Fuhrmann daran, den Bären wegzuschaffen.

Tamas sah ihm mit großen Augen zu. Er schien nicht zu bemerken, dass Franz auf ihn einredete und versuchte, ihn zum Heimgehen zu bewegen.

Herr Heinrich und sein Jagdknecht waren ihnen schon weit voraus. Erst vor dem Tor der Herberge sammelte sich die Gruppe wieder und trat gemeinsam ein. Im Hof herrschte Ruhe, nur aus der Gaststube klang leise Musik.

Lene ging mit wiegenden Hüften voran in Richtung Stall. Herr Heinrich folgte ihr. Stirnrunzelnd prüfte er das Schloss. ťSeid ihr sicher, dass sich niemand daran zu schaffen gemacht hat?Ť

Alheit trat neben ihn. Nun, bei Tageslicht, entdeckte sie die Kratzspuren, die im Morgengrauen nicht zu sehen gewesen waren. ťAber er hat kein Glück gehabtŤ, stellte sie fest, ťbis er mit dem Schlüssel wiedergekommen ist.Ť

ťUnd wo hat er den her?Ť

ťAus Lenes Schuh.Ť

Auf den misstrauischen Blick des Ritters keifte Lene: ťNa und? Glaubt ihr, ich bringe meinen Mann selbst um sein Handwerkszeug? Jetzt kommt endlich herein.Ť

Im Stall reichte Lene Herrn Heinrich die Kette. Er betrachtete den Knebelverschluss genau von allen Seiten. Nein, die Kette war nirgends gebrochen, jemand hatte den Verschluss mit geschickten Fingern geöffnet.

Draußen vor der Stalltür kniete Alheit nieder. Ihr war ein dunkler Fleck aufgefallen. ťIst das hier nicht Blut?Ť, fragte sie und hob etwas feuchte Erde auf. Ihre Finger färbten sich rot.

Herr Heinrich war sogleich bei ihr. ťBär oder Mensch?Ť, fragte er.

Alheit roch an ihrem Fund. ťBär, nehme ich an. Aber es gibt hier bestimmt einen gelehrten Medicus, der das genauer sagen kann.Ť

ťIch fürchte nur, der Stadtarzt wird sich damit nicht befassenŤ, erwiderte der Ritter. ťDafür sorgt schon der Herr zum Rad.Ť

ťWenn jemand den Bären losgemacht und verletzt hat, ist er für den Schaden verantwortlich, nicht TamasŤ, erklärte Alheit. ťEr hat sein Tier sicher untergebracht und gut versorgt.Ť

ťUnd wer sollte das gewesen sein?Ť

ťVielleicht derjenige, der Elbelins Dudelsack zerstört hat.Ť

ťWas? Das musst du mir genauer erzählen. Burkhard wird wohl ein warmes Zimmer und etwas zu trinken für uns haben.Ť

Nachdem der Wirt das Verlangte beschafft hatte und sie bei Kräuterwein am Kamin saßen, erzählten Alheit und Franz, was sich bisher zugetragen hatte.

Herr Heinrich strich sich übers Kinn. ťWollt ihr damit sagen, dass es jemand auf euch Spielleute abgesehen hat?Ť

ťScheint es nicht so?Ť, fragte Alheit dagegen.

Doch Lene war mit dieser Erklärung nicht zufrieden. ťVielleicht will auch jemand Unfrieden unter uns stiftenŤ, sagte sie böse.

Der Ritter schaute sie an. ťEiner von euren Leuten, meinst du?Ť, fragte er, als ob er sie nicht recht verstanden hätte.

Alheit wollte widersprechen, doch Lene war schneller. ťJa, das meine ich. Einer, der sich für so viel besser als die anderen hält, und doch seinen Gefährten

Ť

Herr Heinrich unterbrach sie. ťDann kann ich euch nicht helfen. Macht das unter euch aus, wie Platzmeister Friedrich gesagt hat. Wenn aber ein Fremder hier eingedrungen ist, wird er sich wohl oder übel darum kümmern müssen.Ť Er trank noch einen Schluck Wein. ťKönnt ihr bezahlen, was er von euch verlangt?Ť

ťWas sollen wir bezahlen?Ť, fragte Robert Piper, der mit seiner Familie in der Tür stand. Bei diesen Worten drängte sich auch Meister Wolfram heran.

Alheit wiederholte mit lauter Stimme die Entscheidung des Platzmeisters.

ťWas soll das für ein Recht sein?Ť, brauste Wolfram auf. ťWir alle sollen für die Nachlässigkeit eines Einzelnen aufkommen? Ich will damit nichts zu tun haben. Ich stehe im Dienst des Grafen von Katzenelnbogen, ich bin kein fahrender Lump, mit dem Ihr umspringen könnt, wie Ihr wollt.Ť

ťKatzenelnbogen?Ť, fragte Herr Heinrich. ťDas ist aber schon ein Weilchen her. Als ich Herrn Eberhard zum letzten Mal getroffen habe, waren Zwillingsbrüder aus der Gascogne bei ihm.Ť

Darauf erwiderte Wolfram nur noch einen finsteren Blick.

ťAber wenn ihr das Geld nicht zusammenbringt, gebt mir BescheidŤ, fuhr der Ritter fort, ťdann rede ich noch einmal mit dem Herrn zum Rad, notfalls mit dem Stadtrat.Ť Er schaute in die Runde. ťFehlen hier nicht zwei? Ach ja, sie sind natürlich im Paulusstift, um den Tag des Apostels Matthias würdig zu feiern.Ť

Wolfram schnaubte.

ťUnd wo geht ihr zur Messe?Ť, fragte Herr Heinrich, ťbei den Franziskanern?Ť

Robert nickte.

Der Ritter lieh sich die saubere Cotte von Franz und führte sein buntes Gefolge stolz zur Kirche. Als Letzter schloss Tamas sich ihnen an.

 

Nach dem Gottesdienst verabschiedete sich Herr Heinrich von den Spielleuten. Mit leisem Misstrauen schaute Alheit ihm nach, als er mit ihrem besten Kleidungsstück davonging. Wenn er sich nun wieder tagelang nicht sehen ließ?

Wenige Augenblicke später stieß Werner zu der Gruppe. Alheit gab sich Mühe, ihn nicht zu beachten. Sie wollte diesen Menschen nicht als neuen Reisegefährten haben. Unwillkürlich hielt sie nach Elbelin Ausschau. Ja, wenn Gottfrid und er sich ihnen anschließen wollten, das wäre etwas anderes. Aber diese beiden hatten ihre eigenen Pläne, die zu hoch waren für Alheit und Franz. Sie beschloss, weiter auf dem Markt und in der Kirche die Augen offenzuhalten. Vielleicht entdeckte sie noch einen geschickten Spielmann oder Gaukler.

ťDie Instrumentenbauer hier sind nicht unbedingt die erste RiegeŤ, hörte sie einen hageren, dunkelhaarigen Spielmann zu Marjorie und Robert sagen. Ohne es zu merken, hatte Alheit zu der Gruppe aufgeschlossen.

ťSeien wir ehrlichŤ, antwortete Robert, ťwir spielen auch nicht alle an Fürstenhöfen.Ť

ťAber doch einigeŤ, wandte Marjorie ein.

Alheit ließ sich wieder zurückfallen. Trotz allem schien es ihr wichtiger zu hören, was Franz und Werner zu bereden hatten.

ťJa, Emich hat vielleicht eine Stelle für michŤ, sagte Werner gerade. Alheit hätte das für eine gute Nachricht gehalten, doch seine Stimme klang vorwurfsvoll. ťAls Schalmeispieler.Ť

ťDas ist doch das Richtige für dichŤ, ermunterte ihn Franz.

ťMag sein, aber ich habe kein Instrument.Ť

ťKann das nicht dein neuer Herr kaufen?Ť

Keine Antwort. Vielleicht schüttelte er den Kopf.

ťOder hol dir eine gebrauchte.Ť

Jetzt sagte er wohl etwas, das Alheit jedoch nicht verstand. ›Zu teuer‹, vermutete sie.

ťWarst du schon bei Johann Schure?Ť, fragte Franz. ťIch habe gehört, er lässt sich auf recht großzügige Zahlungsbedingungen ein.Ť

ťFür mich nicht.Ť

Alheit hatte große Lust, den Mann mit Fußtritten und bösen Worten davonzujagen. Wenn er noch ein wenig jammerte, würde Franz ihm ihre Schalmei schenken. Aber noch war es nicht so weit.

ťDann komm jetzt erst einmal mit in den Wilden Mann, iss und trink mit uns. Vielleicht fällt uns noch etwas ein.Ť

ťDanke.Ť Das klang, als hätte man ihn gerade vor dem Galgen gerettet.

Die Gruppe bog in die Färbergasse ein und betrat den Hof der Herberge. Gerade waren Elbelin und Gottfrid vom Paulusstift zurückgekehrt.

Werner nahm still einen Platz am Tisch ein. Elbelin begrüßte ihn dafür umso lauter. ťOh, Werner ist wieder da. Bleibst du jetzt bei uns, bis es nach Frankfurt geht?Ť

ťNein, neinŤ, versicherte Werner, ťich bin nur heute zu Gast.Ť

Diesmal musste Werner ausführlicher erzählen, welches Instrument er spielte, wo er schon aufgetreten war, mit wem er die letzten Wochen verbracht hatte. Immer waren es seltsame Unglücksfälle, die ihn sein Instrument kosteten oder ihn zwangen, sich von seinen Reisegefährten zu trennen.

Gottfrid stellte sich als Schalmeispieler vor. Ein vorsichtiges Lächeln erschien auf Werners Gesicht. ťWärst du bereit, mir dein Instrument zu verkaufen?Ť

Gottfrid schüttelte den Kopf. ťIch wollte mich zwar neu eindecken, aber

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uns ist etwas dazwischengekommenŤ, unterbrach ihn Elbelin. ťIch muss die 300 Heller von unserem Herrn Erzbischof für einen neuen Dudelsack ausgeben.Ť

ťAch so. Ah jaŤ, stammelte Werner. ťSchade.Ť Er schluckte und rang sich zu der Frage durch: ťHast du schon einen gefunden?Ť

Elbelin wurde rot. ťIch schaue morgen noch einmal.Ť

ťWarum denn nicht?Ť, zischte Gottfrid. ťJohann wird dich schon nicht fressen.Ť

ťIch sage doch, ich gehe morgenŤ, verteidigte sich Elbelin.

ťJohann Schure verdient nicht schlecht hierŤ, warf Werner ein. ťJeder, der überhaupt Geld hat, kauft bei ihm.Ť

Elbelin und Gottfrid schauten sich an. ťNun jaŤ, begann Elbelin langsam, ťseine Dudelsäcke sind auch nicht die schlechtesten.Ť

ťMeine Schalmei hat er auch gebautŤ, ergänzte Gottfrid. ťTimo Widner ist natürlich besser. Wenn wir also eines Tages nach Thüringen kommen

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Werner nickte und seufzte tief. ťMeine war auch von Timo Widner.Ť

Alheit musste sich eingestehen, dass sie nicht wusste, wer ihre Schalmei gebaut hatte. Franz hatte es bestimmt schon ein paarmal erwähnt, aber Namen ohne Gesichter dazu blieben ihr nicht im Gedächtnis.

Irgendwie gelang es Werner, zwischen seinen langen Klagen einen großen Teil der gebratenen Fische auf sein Stück Brot zu ziehen und zu verzehren. Die anderen mussten sich beeilen, wenn sie etwas davon abhaben wollten. Auch dem Kräuterwein sprach er reichlich zu.

ťHabt ihr von dem Aufruhr auf dem Fischmarkt heute Morgen gehört?Ť, begann er arglos ein neues Gespräch. ťIn der Kirche haben sie gesagt, da wäre ein Bär los gewesen.Ť

Betretenes Schweigen war die Antwort.

ťVon mir seht ihr keinen HellerŤ, polterte Meister Wolfram übergangslos.

Robert hob abwehrend die Hände. ťLass uns nicht heute darüber reden. Morgen, wenn wir noch einmal geschlafen und uns bedacht haben.Ť

ťIch werde mich nicht anders besinnenŤ, erwiderte Wolfram.

ťAber andere vielleichtŤ, wandte Marjorie ein und begann zu spielen. Das zeigte Wirkung. Andere schlossen sich ihr an, das Gespräch war beendet.

 

Alheit erschien die Zeit viel zu kurz, bis Elbelin und Gottfrid wieder zum Paulusstift aufbrachen. Die anderen verabschiedeten sie und spielten und tanzten weiter, wie jeden Abend.

Werner saß mit leidendem Gesicht dabei und erinnerte an seine vergangenen, besseren Zeiten. Noch elender sah Tamas aus, der stumm am Kamin saß und einen Becher Wein nach dem anderen trank, bis ihm die Augen zufielen. Lene dagegen versuchte, möglichst viele Gefährten zu bewegen, sich an der Zahlung des Bußgeldes zu beteiligen.

Alheit spielte die eine oder andere Melodie auf der Flöte mit. Zu ihrer Überraschung gelang ihr das recht gut. Dennoch würde ihre Abwesenheit kaum auffallen. Als ihr alle gut beschäftigt erschienen, schlüpfte sie über den Hof in den verwaisten Bärenstall. Er war nun nicht mehr abgeschlossen, das Schloss hing offen am Riegel. Alheit schob die Streu beiseite und stellte ihre Laterne auf den freien Platz.

Von der hinteren Wand her wendete sie die Streu um, eine Handbreit nach der anderen. Ausgemistet hatte heute offenbar noch niemand.

Etwa auf der Höhe, wo die leere Kette von der Wand hing, entdeckte sie, was sie suchte – einen glatten, taubeneigroßen Rheinkiesel. Sie atmete auf.

ťWar das wirklich nötig?Ť, fragte eine Stimme von draußen. Alheit war nicht sicher, wem sie gehörte. Wer die Antwort gab, war ihr dagegen auf der Stelle klar, und es fühlte sich an wie ein Tritt in den Bauch.

ťIch wollte das Vieh nur vertreibenŤ, widersprach Elbelin. ťWie soll ich wissen, dass es in der halben Stadt Flurschaden anrichtet?Ť

Alheit löschte ihre Laterne und zog sich in die dunkelste Ecke des Stalls zurück.

ťEs ist eben ein Vieh, ein Raubtier dazu.Ť Das musste dann wohl Gottfrid sein, auch wenn er sich bisher nicht als Stimme der Vernunft hervorgetan hatte. ťDanke Gott, dass es nicht noch Menschen angefallen hat.Ť

ťWarum ich? Das Biest gehört dem Ungarn.Ť

ťAber wir alle müssen jetzt die Strafe bezahlen.Ť

Darauf brummte Elbelin. Nach einer Pause fragte er: ťGlaubst du wirklich, dass es so weit kommt?Ť

ťWie sonst? Wir werden Tamas nicht einmal einen halben Heller aus dem Beutel ziehen können.Ť

ťIhm nicht, aber LeneŤ, stieß Elbelin ärgerlich hervor.

Gottfrid lachte. ťGlaubst du, ihre Reize sind noch so viel wert?Ť

Wieder brummte Elbelin nur.

Die beiden betraten den Stall nicht. Ihre leisen, langsamen Schritte waren vor der Tür zu hören. Nach einer Weile fragte Gottfrid gedämpft: ťUnd, was gefunden?Ť

Die Antwort verstand Alheit nicht.

ťUnd wenn es jemand anderes entdeckt hat?Ť

ťWer?Ť, fragte Elbelin dagegen.

ťUnser unmusikalischer Ritter?Ť

ťEs muss hier irgendwo sein. Drüben am Haus habe ich schon alles abgesucht.Ť

ťAber wir finden es nichtŤ, stellte Gottfrid fest. ťGehen wir lieber, bevor uns jemand hier entdeckt.Ť

Die beiden entfernten sich. Alheit wartete noch ein wenig, bevor sie ihre Suche fortsetzte. Doch sie hatte keine Geduld mehr, sich gründlich durch die Streu zu wühlen. Sie stieß nur noch flüchtig den Fuß in das Stroh, bis sie auf einen zweiten Stein stieß. Sie steckte auch diesen ein.

Keiner von beiden hatte dem Bären eine blutende Wunde beigebracht. Das musste der Gegenstand getan haben, den Elbelin suchte.

Schließlich verließ Alheit den Stall und schritt auf die Tür zum Schankraum zu, als komme sie gerade vom Abort. Drinnen nahm sie wieder ihren Platz neben Franz ein und betrachtete nachdenklich die Gesellschaft. Es schien, als müssten sie sich zwingen, zusammenzubleiben und Musik zu machen. Keiner wollte den anderen aus den Augen lassen.

Elbelin hatte also den Bären verletzt und von der Kette gelassen. Warum?

Glaubte er immer noch, dass Tamas seinen Dudelsack zerstört hatte? Das musste es wohl sein. Zum wiederholten Mal rief sich Alheit den Abend ins Gedächtnis. Und wieder kam sie zu dem Schluss, dass die beste Gelegenheit bestanden hatte, während Tamas und Lene den Bären vorführten. Vor allem, wenn sie Franz nicht verdächtigen wollte. Sie warf ihrem Mann einen verstohlenen Blick zu und schüttelte den Kopf. Es ging nicht. Sich über seine Tändeleien mit Lene oder den Küchenmägden ärgern, ja, glauben, dass er heimtückisch handelte und log, nein.

 

Werner verlegte sich inzwischen aufs Bitten. ťFranz, ich brauche unbedingt eine Schalmei, wenigstens zum Vorspielen.Ť

ťIch kann dir keine geben.Ť Franz schlug ihm die Bitte ungern ab. ťWir haben nur eine, und die brauchen wir.Ť

ťKannst du mir Geld leihen, dass ich mir eine kaufen kann?Ť

Wieder schüttelte Franz den Kopf. ťSo viel haben wir nicht.Ť Doch dann fiel ihm etwas ein. ťIch kann für dich mit Johann Schure verhandeln, dass er dir ein günstiges Instrument verkauft.Ť

ťGerlach von der Heide ist auch hierŤ, mischte sich Gottfrid ein. ťBei ihm kommst du sicher mit weniger davon. Wie viel kannst du denn bezahlen?Ť

ťIch kann nicht bezahlen.Ť

ťAch so.Ť

Nach einer Pause begann Werner wieder: ťLeih mir doch eure Schalmei, nur für den einen Tag, zum VorspielenŤ, wandte er sich an Franz. ťOder du, Gottfrid.Ť

Franz wiegte den Kopf. ťUnd was passiert, wenn du angenommen wirst?Ť

ťDann

dann

muss der Herr mir ein Instrument kaufen.Ť

Aber Franz war noch nicht überzeugt. ťGlaubst du, du nimmst die Schalmei einfach in die Hand und spielst so flott wie früher?Ť

ťAch, du hast auch immer eine Ausrede. So viel kann ich schon noch, dass ich den Herrn überzeuge.Ť

ťProbier’s erst einmal aus.Ť Franz nahm die Schalmei aus der Kiepe und reichte sie Werner.

Der sah das Instrument einen Augenblick unschlüssig an und spielte dann mit wackligen Tönen eine kurze Melodie. Gottfrid begann ein längeres Stück, Werner fiel ein. Sein Gesicht färbte sich bald gefährlich rot, und er musste öfter aussetzen, um Luft zu holen. Franz bezweifelte, dass Werner vor Emich dem König bestehen konnte. Alheit sah bei diesem Vorspiel so finster drein wie Meister Wolfram. Franz sollte die Schalmei besser nicht verleihen.

 

Werner war der Erste, der ging; er wollte rechtzeitig vor der Nachtglocke in seinem Quartier sein. Obwohl er nicht viel zur Musik beigetragen hatte, wurde es danach unbehaglich still.

Schließlich sprach Marjorie die Frage aus, die sie alle beschäftigte. ťWo bringen wir unsere Instrumente sicher unter?Ť

Die Leute sahen einander betreten an. Einer der ihren hatte doch Elbelins Dudelsack zerstört. Und vielleicht hatte derselbe Übeltäter auch den Bären auf dem Gewissen – er hatte sich freien Zugang zu den anderen Instrumenten verschafft.

Es kam nun darauf an, wer wem vertrauen wollte. Marjorie schaute Alheit an und öffnete den Mund, als ob sie etwas sagen wollte, schwieg aber doch.

Endlich machte Alheit ihren Vorschlag: ťLassen wir doch alles hier.Ť

ťIm Schankraum, wo jeder hinein kann?Ť, widersprach Robert.

An der Küchentür regte sich etwas. Burkhard hatte wie immer still in seinem Eck der Musik gelauscht. Ehe er etwas sagen konnte, antwortete Alheit auf die Frage des Pfeifers: ťDann bleiben wir beim Stall. Den Schlüssel gibt es ja noch.Ť Sie schaute Lene auffordernd an.

ťBesorgt euch selbst ein Schloss.Ť Lene half ihrem Mann auf die Füße und schaffte ihn und seine Fidel aus dem Zimmer.

ťDann tun wir das morgenŤ, entschied Robert. ťHeute Nacht

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ťWer?Ť, unterbrach Elbelin.

ťIchŤ, antwortete Alheit.

Franz nickte ihr zu. Seine Hand schmerzte nicht mehr und fühlte sich wieder gelenkig genug an, um am Unterricht teilzunehmen.

ťIhr könnt schon alles hierlassenŤ, unterbrach Burkhard ihre Überlegungen. ťIch schlafe hier im Saal.Ť

Müde, wie sie alle waren, widersprach niemand. Die Instrumente wurden eingepackt und in einer Ecke des Schankraums verstaut. Dann holten sie das, was noch im Stall verblieben war. Von dem Berg Heu, der die Kästen verborgen hatte, war nicht mehr viel übrig. Die Filzdecke lag unbeachtet am Boden. Alheit schüttelte sie aus und faltete sie zusammen. Ein schlammiger Stiefelabdruck prangte in der Mitte. Nur gut, dass sie das alte Zeug genommen hatte.

Elbelins Bündel war heute deutlich kleiner, es enthielt nur noch eine Schalmei. Dafür trug er den Kasten mit Meister Wolframs kleiner Orgel.

Von der Harfe lag das Lederfutteral in der Ecke. Marjorie nahm es an sich. Nun, da der Stall leer war, wagte auch sie die paar Schritte hinein.

Franz hatte keine Instrumente mehr im Stall. Dafür trug er wieder – mit Roberts Hilfe – Israels schwere Truhe mit in den Schankraum.

 

Obwohl sie Burkhard vertraute, dämmerte Alheit in dieser Nacht nur vor sich hin. Sie meinte, auf dem Hof Geräusche zu hören, die nicht von sich balgenden Katzen stammten. Kam da etwa jemand die Treppe herauf?

Sie versuchte sich abzulenken, indem sie überlegte, was ihr beim Umräumen der Instrumente nicht gefallen hatte, abgesehen von dem Schmutz auf ihrer Filzdecke.

Konnte es sein, dass ein Instrument zu wenig vom Stall in den Schankraum gewandert war? Sie rief sich den Ablauf noch einmal ins Gedächtnis.

Einer der länglichen Holzkästen fehlte. Alheit fuhr halb in die Höhe.

Ausgerechnet eines von Meister Wolframs Instrumenten. Er würde es kaum immer mit sich herumtragen, wenn ihm schon das Auf-und Zuklappen des Deckels so schwerfiel.

Alheit versuchte sich zu erinnern, was er tagsüber im Schankraum dabeihatte. Hinter ihm stand ein aufgeklappter Kasten, der für die Laute, die er gerade spielte. Außerdem die hohe Truhe, die Elbelin für ihn weggebracht hatte. Gab es nicht noch einen dritten?

Aber Meister Wolfram hatte keinen Alarm geschlagen. Das war nicht seine Art. Hatte er den fehlenden Kasten noch nicht bemerkt? Alheit bezweifelte es.

Stand der Kasten vielleicht in seinem Quartier, weil er glaubte, dort sei das Instrument sicherer? Alheit würde am nächsten Morgen nachsehen.

Doch auch nach diesem Entschluss konnte sie weder schlafen noch einen klaren Gedanken fassen, und wälzte sich bis zur Morgendämmerung unruhig hin und her.