OCULI

Am Sonntag nahm Alheit die Schalmei, die Burkhard ihr gegeben hatte, mit zur Messe in die Franziskanerkirche. Sie würde mit Gottfrid spielen, damit die ganze Stadt hörte, dass die Spielleute ihre Schuld bezahlten. Es war ihr gleich, was Meister Wolfram dazu sagen würde. Warum spielte er nicht selbst, wo er doch angeblich ein Sackpfeifer war?

Mit vielen anderen Spielleuten aus diesem Teil der Stadt kam auch Werner zur Messe in die Franziskanerkirche, übersah aber Franz und seine Gefährten, als ob er nie ihren Kräuterwein getrunken hätte. Stattdessen hielt er sich an einen kräftigen jungen Spielmann mit braunen Locken, der eine kurze blaue Cotte mit üppigen Falten und weiten Ärmeln trug. Werner in seinem abgerissenen grauen Wams sah dagegen recht ärmlich aus.

ťDas ist aber nicht Emich der KönigŤ, bemerkte Franz beim Hinausgehen.

ťNein, sondern ein Schüler von ihmŤ, erwiderte Alheit. ťSie sollen heute zu Mittag ihrem angehenden Herrn vorspielen.Ť

ťDürfen sie das denn?Ť, mischte sich Katherine ein.

ťOh, dem Herrn wird schon ein Grund einfallenŤ, entgegnete Franz. ťEs ist ja nur zur Probe und nicht zu seiner Kurzweil.Ť

ťHat Werner denn jetzt eine Schalmei aufgetrieben?Ť, fragte Alheit misstrauisch.

Franz zuckte die Achseln. ťEs scheint so, wenn er mich noch nicht einmal anschaut.Ť

ťDu weißt also nicht, wo er sie herhat?Ť Alheit ließ nicht locker.

ťNa ja, trotz allem Gezeter wohl von Johann SchureŤ, vermutete Franz. Seine Worte klangen, als glaubte er, was er sagte. Alheit drängte ihren Ärger zurück, denn sie sah Meister Wolfram mit finsterem Gesicht auf einen fremden Spielmann zugehen. Er war klein und blond, wie Albrecht Hoppetanz, der neben ihm stand. Zwei weitere Burschen lachten über das, was er erzählte. Meister Wolfram dagegen bemerkte er offenbar gar nicht. Alheit machte Franz auf den Fremden aufmerksam. Der nickte. ťJa, das ist Regino aus Passau.Ť

Als Meister Wolfram näher kam, bemerkte ihn Regino und machte Anstalten, ihm auszuweichen. Doch Wolfram ließ ihn nicht entkommen. ťWann brechen wir auf?Ť

Alheit spitzte die Ohren. Dieses Gespräch durfte sie nicht verpassen.

ťIch gehe mit Albrecht und seinen Gesellen nach SpanienŤ, antwortete Regino strahlend. ťWir ziehen erst nach Speyer, und nach Ostern geht es weiter in den Süden.Ť

ťNach SpanienŤ, wiederholte Wolfram, ťdoch nicht nach Mainz oder Köln?Ť

ťIch dachte, da wolltest du hin?Ť

ťWollten wir nicht zusammen dahin?Ť

Regino schüttelte den Kopf, dass seine blonden Locken nur so flogen. Seine neuen Begleiter beobachteten gespannt die Auseinandersetzung. ťMein Ziel ist Toledo. Etwas anderes hatte ich nie vor.Ť

ťDann muss ich dich falsch verstanden haben.Ť Meister Wolfram wandte sich ab. Als er zu seinen Gesellen aus dem Wilden Mann aufschloss, wurde ihm klar, dass auch sie genau zugehört hatten.

Sogar Elbelin und Gottfrid, die eben erst zu ihnen gestoßen waren, wussten Bescheid. ťWenn du den Rhein hinunter willst, dann können wir doch zusammen reisenŤ, bot Elbelin an. ťWir gehen nach Geldern.Ť

ťSei dir da nicht zu sicher, mein JungeŤ, wies Meister Wolfram ihn ab.

 

Vor der Kirchentür erwartete Herr Heinrich von Alzey die Spielleute. Zwei Waffenknechte und ein übellaunig aussehender Gelehrter im langen dunkelblauen Mantel begleiteten ihn. Meister Wolfram ließ Gottfrid auf der Schalmei einen Bußpsalm anstimmen.

Alheit warf einen finsteren Blick auf Werner. Ob er jetzt ein Instrument hervorholen und mitspielen würde?

Nein, er ging mit seinem neuen Genossen hastig davon.

Offenbar war der Meister aber der Ansicht, dass die Musik so noch nicht genügte. Mit säuerlicher Miene winkte er Alheit heran. ťSpiel du mit, wenn du kannst.Ť

Das ließ sie sich nicht zweimal sagen. Sie nahm die Schalmei vom Gürtel. Es schien, als hätte das Rohrblatt einen feinen Riss. Hoffentlich ließ es sie nicht im Stich.

Gottfrid spielte schlicht die Melodie, bis Alheit sich hineinfand. Dann erging er sich in Verzierungen, als wollte er alles zeigen, was er inzwischen gelernt hatte.

Trotz der Kälte war viel Volk auf der Gasse unterwegs, denn der Wind der vergangenen Tage hatte den Nebel vertrieben. Die Sonne strahlte vom klaren blauen Himmel. Spielleute und Stadtbewohner bildeten eine Gasse für sie und überboten sich mit Vermutungen, was wohl geschehen sein könnte. Manche kamen richtig auf den ausgebrochenen Tanzbären, der auf dem Fischmarkt Schaden angerichtet hatte.

Auf dem Platz vor dem Stadthaus mussten sie eine Weile stehen und spielen, bis der Platzmeister sich herbeibequemte. In seinem Sonntagsstaat sah er größer und mächtiger aus als sonst. Zwei mit Spießen bewaffnete Männer folgten ihm, wahrscheinlich zünftige Wächter. Kaum war er erschienen, wollte Lene sich in den Vordergrund drängen. Alheit blieb fest auf ihrem Platz stehen und ließ sie nicht vorbei.

Alheit und Gottfrid beendeten ihren Psalm mit einem lang gezogenen Kyrieleis.

Herr Heinrich trat mit dem Gelehrten vor und übernahm es, für die Gesellschaft zu sprechen. ťDie Spielleute aus dem Wilden Mann sind gekommen, um die Buße zu bezahlen, die Ihr ihnen auferlegt habt.Ť

Der Platzmeister warf einen Blick in die Runde, der wohl gleichgültig sein sollte. ťWelche Buße war das?Ť

Alheit war sicher, dass seine Erinnerung ohne Weiteres bis Mittwoch zurückreichte. Dennoch erklärte Herr Heinrich noch einmal, worum es ging.

ťIch erinnere michŤ, sagte der Platzmeister. ťIhr wart so großzügig, auf eine Entschädigung für die getöteten Hunde zu verzichten. Seid Ihr sicher, dass Ihr Euch das leisten könnt?Ť

ťIch bin weder Fischer noch FuhrknechtŤ, entgegnete Herr Heinrich. ťDiese beiden haben das Geld nötiger als ein Ritter von Alzey.Ť

Der Platzmeister verzog spöttisch das Gesicht und gab einem der Wächter mit leiser Stimme einen Auftrag. Der Mann entfernte sich, wohl um die beiden Geschädigten zu holen.

ťEure Jagdknechte haben ihren Heller bereits erhalten?Ť, erkundigte sich der Platzmeister bei Herrn Heinrich.

ťGewiss.Ť

Als die Verhandlungspause länger dauerte, begannen die Umstehenden zu murren. Der Ruf nach Musik wurde laut. Gottfrid nahm die Schalmei wieder hervor und schaute Elbelin an, wie um zu erfahren, was sie spielen wollten. Meister Wolfram winkte ärgerlich ab. Die Zuschauer zerstreuten sich nach und nach.

Schließlich kehrte der Stadtknecht mit einem älteren Mann in einer verwaschenen graublauen Cotte und einem bärtigen Fuhrknecht wieder. Jetzt nickte Meister Wolfram Gottfrid zu. Alheit und er wiederholten den Psalm, den sie zuvor gespielt hatten. Der Blaugekleidete starrte mit finsterem Gesicht Lene an.

Der Platzmeister begrüßte Wilhelm Fischer und den Fuhrmann Kuno aus Aschaffenburg und verkündete, welche Buße zu zahlen war. Als Erster trat der Meister der Fischerzunft vor und hielt die Hand auf. Herr Heinrich nahm den Beutel mit den eingesammelten Hellern vom Gürtel, wartete, bis der Gelehrte neben ihm stand und auch der Platzmeister genau sehen konnte, was vorging. Dann zählte er die Münzen vor. Der Platzmeister bestätigte mit unbewegter Miene den Betrag. Meister Fischer zählte mit gerunzelter Stirn nach und steckte brummend das Geld ein.

Nun war Kuno an der Reihe. Der behauptete, sein Schaden sei damit nicht ersetzt. ťIch habe eine neue Deichsel gebraucht, ich habe vier Tage verloren, mein Pferd ist zuschanden

Ť

Alheit schnappte nach Luft. Wollte der Kerl etwa seinen leeren Säckel auffüllen lassen? Der Platzmeister war imstande, ihm Recht zu geben. Am Ende würde doch noch Lene eingreifen müssen.

Der Gelehrte neigte sich zu Herrn Heinrich und flüstere ihm etwas zu. Dieser unterbrach den Fuhrmann: ťLangsam, langsam. Dein Gaul war wohlauf, als ich den Bären erlegt habe. Wenn er dir inzwischen verreckt ist, haben meine Leute damit nichts zu tun.Ť

Kuno holte Luft, aber der Ritter ließ ihn nicht wieder zu Wort kommen. ťUnd hast du schon neue Ladung, mit der du weiterfahren willst?Ť

ťNein, aber

Ť

ťSiehst du, die vier Tage Müßiggang sind also auch dir zuzuschreiben. Die Deichsel ist mit zehn Hellern mehr als bezahlt.Ť

Der Rechtsgelehrte nickte zufrieden. Alheit atmete hörbar auf.

ťZehn Heller sind festgesetztŤ, ergriff der Platzmeister das Wort, ťdie sollen sie zahlen, und dazu zwei für das Gericht.Ť Er hielt selbst die Hand auf.

Alheit schnaubte. Auch die Spielleute murrten vernehmlich. Dabei waren sie noch recht glimpflich davongekommen.

Ohne zu überlegen griff Herr Heinrich in seinen Beutel und reichte dem Platzmeister die Münzen. Der warf ihm einen finsteren Blick zu, widersprach aber nicht. Mürrisch verkündete er, die festgelegte Buße sei bezahlt und damit der Schaden ausgeglichen, den der Bär angerichtet hatte. Alheit und Gottfrid bliesen ein Amen hinterher, und die Gesellschaft zog zurück in ihre Herberge. Die neugierigen Beobachtern zerstreuten sich.

Am Tor verabschiedete sich Herr Heinrich: ťIch muss euch jetzt verlassen und nach Alzey zurückkehren. Aber bevor ihr nach Frankfurt aufbrecht, komme ich noch einmal hierher.Ť

Er ging mit seinem Rechtsgelehrten davon, und Meister Wolfram folgte ihnen. Alheit wartete einen Augenblick und lief ihnen dann nach.

Als sie zwei Häuser vom Wilden Mann entfernt waren, überholte Wolfram die beiden Herren. ťZahlt mir erst meinen Lohn, Herr.Ť

Heinrich von Alzey griff bereits zum Beutel, doch der Gelehrte antwortete an seiner Stelle: ťDen bekommst du am Mittwochabend.Ť

ťDas ist zu spät.Ť

ťIch habe nicht mehr so viel daŤ, bedauerte Herr Heinrich.

Der Gelehrte fuhr fort: ťWas willst du damit? Den Wirt brauchst du nicht zu bezahlen.Ť

Da Wolfram keine Antwort gab, vermutete der Gelehrte: ťHast du Schulden beim Juden? Der nimmt das Geld auch noch in Frankfurt.Ť

Wolfram schüttelte den Kopf und hielt nur noch die Hand auf.

ťLass es gut seinŤ, sagte Herr Heinrich. ťIch gebe dir das Geld am Mittwoch, wie es vereinbart war.Ť

ťEs war vereinbart, dass Ihr mir die Hälfte im Voraus zahlt.Ť

ťDie hast du doch bekommenŤ, empörte sich der Gelehrte.

ťNein.Ť

ťNicht?Ť Herr Heinrich klang erstaunt. ťAber wie dem auch sei, ich habe das Geld jetzt nicht, du bekommst es am Mittwoch.Ť

ťIst das Euer letztes Wort?Ť

Alheit beschloss, kehrtzumachen, bevor Wolfram sie entdeckte. Kaum war sie zwei Schritte gegangen, sah sie Lene am Hoftor stehen. Die grinste ihr frech zu.

Was wollte sie hier? Hören, was es zu hören gab, und dem Platzmeister zutragen? Oder einem anderen, der dafür zahlte?

Und was hatte es zu hören gegeben? Meister Wolfram brauchte dringend Geld. Wofür? All das Unschöne, das in den letzten Tagen geschehen war, hatte niemanden reich gemacht.