MITTWOCH NACH INVOCAVIT

Am nächsten Morgen erwachte Alheit von dem trüben Licht, das durch die Ritzen der Holzläden in ihr Zimmer fiel. Wie lange war es wohl draußen schon hell? Schneller als das Licht kroch die Kälte in den Raum, deshalb ließ sich Alheit Zeit damit, die Läden zu öffnen. Sie schlug ihren Mantel zurück, der auch als Schlafdecke diente, und weckte Franz.

Auf der anderen Seite des Schlotes regten sich Tamas der Ungar und seine Frau Lene. Schlaftrunken tappte er zur Tür und die Treppe hinunter.

ťEr muss nach dem Bären sehenŤ, murrte Lene. ťDer Bär ist sein Ein und Alles. Mich vergisst er darüber ganz.Ť Sie schob sich näher an Gottfrid heran, doch der Junge schlief noch fest. Er wich ihr nicht einmal aus.

Alheit machte sich auf den Weg zum Abort und zum Brunnen.

Als sie zurückkehrte, saß Lene auf dem Treppenabsatz vor der Tür, hielt sich einen Spiegel vors Gesicht und färbte sich die Wangen weiß. ťDa drin sieht man ja gar nichts.Ť

Hier draußen dagegen konnte man die Männer, die den Hof überquerten, recht gut im Auge behalten. Franz zum Beispiel, der noch immer mit nacktem Oberkörper am Brunnen planschte. Alheit raffte ihren Rock und ging möglichst schnell an Lene vorüber, hinein in den düsteren Schlafraum.

Noch immer lagen Elbelin und Gottfrid in ihre Mäntel gehüllt bei der Tür, einer von ihnen schnarchte. Alheit schüttelte den Kopf. Die beiden würden zu spät zum Unterricht bei Meister Wolfram kommen.

ťHe, aufwachen!Ť, rief sie hinüber, doch keiner rührte sich.

Sie rüttelte erst den einen, dann den anderen. Jetzt immerhin brummte Gottfrid. Elbelin hob sogar den Kopf und versuchte etwas zu sagen.

ťEs wird ZeitŤ, mahnte Alheit, ťMeister Wolfram wartet auf seine Schüler.Ť

Mit einem Ruck setzte sich Elbelin auf und schüttelte den Kopf. ťUnd das nach dem bisschen Wein von gestern AbendŤ, murmelte er. ťWenn der Wirt nicht noch Besseres im Keller hat

Ť

Kaum fühlte er sich in seiner aufrechten Haltung sicher, packte er seinen Gefährten rüde an der Schulter. ťHe, wach auf, du Faulpelz! Hast du wieder mehr getrunken, als du vertragen kannst?Ť

Er stand auf, trat Gottfrid noch einmal in die Seite und lief flink die Treppe hinunter. Die Nachwirkungen des Weines schienen schnell verflogen.

 

Die Spielleute versammelten sich in der Gaststube und begannen zu stimmen. Da trat der Jude ein, den Elbelin gestern so grob aus dem Quartier gewiesen hatte. Er trug zwei lederne Taschen, aus denen ein gekrümmter, mit einem Löwenkopf verzierter Wirbelkasten und zwei Hörner ragten. Vielleicht war das eine Instrument ein Dudelsack, das andere war Alheit völlig unbekannt.

Sie versuchte noch, sich an den Namen des Spielmanns zu erinnern, da sagte Franz: ťGott grüße dich, Israel.Ť

ťSchalom.Ť

Elbelin stand auf und trat ihm entgegen. ťBist du schon wieder hier?Ť

Weiter kam er nicht, denn nun hob Meister Wolfram den Kopf von seiner Laute. ťAh, du bist Israel ben Abraham, nicht wahr? Gut, dann sind alle da.Ť

ťSoll der etwa hierbleiben?Ť, fragte Elbelin.

ťNatürlich, warum denn nicht?Ť

Elbelin brummte nur noch.

Israel hatte inzwischen das Instrument mit dem Löwenkopf aus der Hülle genommen und stimmte die Saiten. Dass der Streit um ihn ging, schien er gar nicht zu bemerken.

Alheit neigte sich zu Franz und fragte ihn: ťWas ist das für ein Instrument? Doch keine Laute, oder?Ť

Franz schüttelte den Kopf. ťEine Guiterne? Habe ich noch nicht spielen hörenŤ, murmelte er, während er an den Wirbeln seines Instruments drehte.

Schließlich waren fast alle fertig mit stimmen, nur Marjorie zupfte noch an den Saiten ihrer Harfe.

Meister Wolfram blickte sie streng an. Nach einer kurzen Pause sagte er: ťSchickt die Frauen hinaus, damit wir anfangen können.Ť

Alheit schnappte nach Luft. Dann riefen alle durcheinander: ťDen Juden will er hier behalten, aber gute christliche Frauen davonjagen. – Der Herr von Alzey hat ausdrücklich bestimmt, dass sie dabei sein soll. – Lies den Brief noch einmal, den unser Herr geschrieben hat.Ť Nur Tamas sagte fröhlich: ťIst schon weg.Ť Katherine wandte sich zum Gehen, doch ihre Mutter hielt sie zurück.

ťWas soll das für eine Schule werden, wenn Frauen dabeisitzen?Ť Meister Wolfram hatte Mühe, seine Schüler zu übertönen.

ťWie die von Salerno, wo Trotula gelehrt hatŤ, sagte Alheit, ohne recht nachzudenken. Immerhin hatte sie den Winter über im Haus eines studierten Wundarztes gespielt. Ein wenig hatte sie von seinen gelehrten Vorträgen behalten. Offenbar das Richtige.

Meister Wolfram schaute Alheit nicht einmal an. ťSalerno geht mich nichts an. Ich kann die Weiber hier nicht gebrauchen.Ť

ťDu irrst dich, MeisterŤ, nahm Marjorie ihren Faden wieder auf. ťIch bin die Spielfrau, die von dir lernen soll. Aber wenn du lieber einen Apotheker hast, der zufällig eine Flöte halten kann

Ť Sie erhob sich würdevoll, nahm ihre Harfe auf und machte sich auf den Weg zur Tür. Katherine folgte ihr mit rotem Kopf.

ťHalt!Ť, rief Meister Wolfram. ťWer schickt dich?Ť

ťBischof William Rae von Glasgow.Ť

ťVon wo?Ť, fragte Tamas dazwischen. Doch niemand achtete auf ihn.

Marjorie nahm inzwischen ein Pergament aus der Tasche an ihrem Gürtel und reichte es dem Sänger.

Bevor er einen Blick darauf warf, frage er: ťWas ist das?Ť

ťEin Brief aus der Kanzlei des Bischofs, der meine Worte bestätigt.Ť

Nun entrollte er den Bogen und las ihn aufmerksam. Dann sah er auf zu Katherine. ťUnd das ist deine Tochter?Ť

ťJa.Ť

ťDann zeigt, was ihr könnt. Euer Bischof ist weit.Ť

Marjorie nickte huldvoll, schlug ein paar Töne an und begann einen fröhlichen Wechselgesang mit Katherine. Der Text war nicht zu verstehen, aber nach den Blicken zu urteilen, die sie Meister Wolfram zuwarfen, mochten es Spottverse über ihn sein.

Er nickte jedoch ungerührt. ťBeim Spielen werdet ihr jedenfalls nicht stören. Und vielleicht lernt ihr ja doch ein wenig dazu.Ť Er winkte die beiden in die Reihe der Männer. Alheit beachtete er immer noch nicht.

Wenn sie jetzt wüsste, was im Geleitbrief ihres Herrn Heinrich von Alzey stand. Der Alte konnte vermutlich wirklich lesen, es hatte keinen Sinn, ihm etwas vormachen zu wollen.

Wütend sah Alheit von einem zum anderen. Franz machte keine Anstalten, ihr beizustehen. ťMit euch alten Krautern ist sowieso nichts anzufangen.Ť Sie nahm Schalmei und Flöte aus dem Korb – Franz streckte gar die Hand aus, als ob er sie hindern wollte – und verließ den Raum.

Lene wartete nicht erst ab, bis man sie hinauswarf. Früher hatte sie sich noch einen Spaß daraus gemacht, zuzuschauen, wie diese selbstgerechten Spielfrauen, oder wie sie sich nannten, zurechtgestutzt wurden. Inzwischen wusste sie mit ihrer Zeit Besseres anzufangen.

Sie betrachtete sich noch einmal im Spiegel, ob der Schleier richtig saß, die Schminke nicht verschmiert war, und verließ den Hof der Herberge. Ein Badehaus erschien ihr ein lohnendes Ziel, aber ein gutes musste es sein, eins, in dem die wichtigen Leute ein-und ausgingen. In Worms war sie lange nicht mehr gewesen, ihre Erinnerung war nur noch blass. So streifte sie ein wenig ziellos umher und versuchte herauszufinden, wo sie damals ihre Kunden getroffen hatte.

Der Dom war ein guter Orientierungspunkt. Lene hielt auf die vier Türme zu. Oft wussten gerade die Herren im Domkapitel ihre Kunst zu schätzen, aber auch sonst lief dort viel Volk herum.

Ein Waffenknecht sprach sie an: ťGanz allein unterwegs, Schöne?Ť

Sie nickte. ťIch wollte meinen Bruder am Dom treffen.Ť

ťDeinen BruderŤ, wiederholte der Mann. ťDa kann ich dich ein Stück geleiten. Ich muss zum Dom, ich habe die Turmwache.Ť

Lene schlug die Hände zusammen. ťAuf dem Dom? Ist das nicht wunderbar, von dort auf alle herabzusehen? Dann bist du sogar höher als der Bischof.Ť

Der Mann lächelte. ťJa, es ist schön dort oben. Ruhig. Selbst bei diesem Wetter sieht man recht weit

Ť

ťNimmst du mich mit hinauf? Bitte!Ť

Er schaute sie noch einmal abschätzend an. ťDann müssen wir uns aber trennenŤ, tuschelte er dann. ťGeh du voran und warte am Südportal auf mich.Ť

Lene nickte. Ein heimliches Treffen brachte oft mehr Gewinn. Mit ein paar schnellen Schritten entfernte sie sich von dem Wächter und ging dann zielstrebig die Kämmerergasse entlang. Für die Stände mit Instrumenten hatte sie ohnehin keinen Blick. Darum mochte Tamas sich kümmern, wenn er Geld hatte.

Sie lächelte leise. Der eine oder andere Heller hatte schon den Weg in ihren Beutel gefunden, und neue Geschäfte bahnten sich an. Bis sie wieder hinauszogen über Land, würde sie gut versehen sein.

Auf dem Marktplatz wurden Dinge feilgeboten, die ihr nutzen konnten. Stoffe, Bänder, Knöpfe, Schmuck. Doch sie durfte nicht verweilen.

Zwischen den Ständen hatte Lene einen Bekannten entdeckt. Er hatte langes graues Haar und trug eine mit Pelz besetzte Samtcotte. Zwei Ratsknechte mit Hellebarden begleiteten ihn. Kein unbedeutender Mann. Bei ihrem letzten Aufenthalt in der Stadt war er einer ihrer Kunden gewesen. Wenn ihr nur noch einfiele, wer er war. Jedenfalls schien es ihr besser, ihm vorerst aus dem Weg zu gehen und sich ein anderes Mal mit ihm zu befassen.

Sie umrundete die Johanniskapelle auf der Südseite des Doms und näherte sich dem Eingang. Kurz bevor sie in das Portal trat, ging ihr Wächter an ihr vorbei. Sie verlangsamte ihren Schritt und folgte ihm in sicherer Entfernung zum Turmeingang. Doch er gab ihr Zeichen, dass sie warten musste. Sicher war noch ein anderer oben, den er ablösen sollte. Sie zog sich an die Mauer des Bischofshofes zurück. Erst als er nach geraumer Zeit von oben winkte, huschte sie in den Turm hinein und die Treppen hinauf.

 

Bei Nebel und Kälte, wie sie draußen in den Gassen herrschten, hielt sich Platzmeister Friedrich zum Rad lieber im Stadthaus auf als auf den Plätzen, wo er den Frieden wahren sollte. Darum ließ er seine beiden Waffenknechte allein weiterziehen und nahm sich in der Kirche reichlich Zeit, seine Sünden abzubeten. Danach beeilte er sich, wieder in die Nähe des Kamins zu kommen. Nun war er keineswegs glücklich, als sein Knecht ihm den Judenbischof meldete.

Die 2.000 Gulden Zwangsabgabe, die sie im vergangenen Jahr von den Juden eingetrieben hatten, waren noch nicht vergessen. Mit der Erinnerung spürte er wieder die Macht seines Amtes, die er bei diesem Unternehmen so genossen hatte. Wenn es nur immer so sein könnte. Doch er unterdrückte das Gefühl wieder und wandte sich dem graubärtigen Besucher mit freundlicher Miene zu. ťWas führt Euch zu mir?Ť

ťDie Spielleute, die in die Stadt gekommen sindŤ, antwortete Samuel ben Isaak.

ťWas ist mit ihnen?Ť

ťEs ist ein Jude unter ihnen, der bei einem Mitglied unserer Gemeinde Quartier genommen hat.Ť

ťWer? Woher?Ť Bei einem Spielmann musste Friedrich nicht fürchten, dass er Bürger werden wollte. Dennoch war es besser zu wissen, wer er war. Vielleicht fand sich sogar ein Grund, Zahlungen von ihm zu verlangen.

ťEr nennt sich Israel ben Abraham aus Oberwesel, aber die letzten Jahre hat er in Spanien verbracht. Jetzt spielt er unzüchtige Lieder mit den Christen.Ť

Der Platzmeister zog scharf die Luft ein. Was meinte dieser Kerl mit

Doch er hielt seine wütende Frage zurück. Der Name hatte in seinem Gedächtnis einen Widerhall ausgelöst. ťIsrael ben Abraham. Hat er hier Verwandte? Ist er euch bekannt?Ť

ťMir selbst nicht.Ť Samuel überlegte. ťBaruch ben Jakob hat ihn aufgenommen.Ť

Wieder verzog der Platzmeister das Gesicht. Ein angesehenes Mitglied des Judenrates. Dabei war dieser Israel als übler Aufwiegler bekannt. Wenn es denn derselbe war. Diese Juden hießen doch alle gleich. In jedem Fall würde er ein Auge auf ihn haben. ťWo ist er tagsüber?Ť

Samuel schüttelte den Kopf. ťEr wurde aus der Herberge weggeschickt, in der er wohnen sollte. Zum Wilden Mann, kann das sein?Ť

Das klang nicht nach Burkhard. ťIch werde mich erkundigenŤ, versprach er unbestimmt.

ťAber warum interessiert er Euch so? Er kommt geradewegs aus Spanien, ich glaube nicht, dass er hier etwas verbrochen hat.Ť

Der Platzmeister schüttelte schnell den Kopf. ťMir war nur, als hätte ich den Namen schon einmal gehört. Vielleicht verwechsle ich ihn.Ť

ťDas wird es wohl sein.Ť Samuel brachte noch einige Klagen von Mitgliedern seiner Gemeinde vor, die sich von Christen schlecht behandelt fühlten. Der Platzmeister tat, als nähme er Notiz davon, und würde sie zu gegebener Zeit vergessen.

 

Franz schaute von Meister Wolfram zu seinen Schülern und zurück. Was tat er hier? Der Meister erzählte, ein Buch vor sich auf dem Tisch und ein Paar Augengläser auf der Nase, von der Pariser Kunst, die Musik in die rechte Form zu bringen. Franz hörte ihm genau zu und glaubte hin und wieder auch, etwas verstanden zu haben. Doch wenn er das Gehörte auf seine Lieder anwenden sollte, sträubten sie sich. Er musste die Tonfolge im Kopf berechnen, dann auf die Finger übertragen. Irgendwo auf dem Weg ging das neu Gelernte verloren; was er spielte, klang einfach wie immer.

Elbelin und Gottfrid dagegen schienen keine Schwierigkeiten zu haben. Sie hörten zu und spielten nach, als ob sie ihr Lebtag nichts anderes getan hätten. Melodie war Melodie, Diminution war Verzierung, sie spielten jede Phrase so lange, bis auch Franz sie ihm Ohr hatte.

Robert Piper und seine Familie hatten ihre eigene Art der Verzierung. Er spielte sie unverdrossen auf seinem kleinen, schrillen Pfeiflein, auch wenn Meister Wolfram etwas anderes erklärte. Marjorie schüttelte dann unzufrieden den Kopf und versuchte, auf der Harfe die Anweisungen des Meisters zu befolgen. Robert war jedoch meist lauter. Franz gab sich Mühe, den Pfeifer zu überhören.

Tamas der Ungar schien überhaupt nicht zuzuhören, solange gesprochen wurde. Meister Wolfram hatte ihm ein paarmal auf die Finger geschlagen, damit er wenigstens nicht weiterspielte. Erst, wenn wieder musiziert wurde, lauschte er mit schräg gelegtem Kopf, setzte die Fidel an und spielte gleich nach. Spätestens im dritten Anlauf hatte er begriffen. Franz bewunderte ihn. Jemand, der nicht einmal die Sprache recht verstand, ein wandernder Bärenführer, tat es ohne Weiteres den gelehrten Musici aus Paris nach.

Auch der Jude Israel schlug sich wacker, obwohl Elbelin und Gottfrid taten, als wäre er gar nicht vorhanden. Sie spielten, wenn er sprach, und lenkten den Meister mit Fragen nach Kleinigkeiten ab, wenn Israel spielen sollte. Dieser ließ sich das ein paarmal gefallen, dann nahm er keine Rücksicht mehr. Er führte aus, was er vorhatte.

Meister Wolfram war bei all dem offenbar nicht daran gelegen, Frieden zu halten. Er unterbrach seine Schüler bei jeder Gelegenheit. Was sie spielten, sei steifes, altbackenes Zeug, solche Musik könne ein kunstverständiger Mensch nicht mehr anhören. Dann führte er noch einmal vor, wie er es eigentlich gemeint hatte. Er ließ den Leuten kaum Zeit, die vorgetragenen Melodien nachzuspielen. Unnachgiebig wiederholte er seinen Gegenvorschlag, bis sich alle auf die von ihm gewünschte Linie eingeschwungen hatten.

 

Um ihren Ärger loszuwerden, eilte Alheit in die Stadt. Doch es half nichts. Auf der Gasse wimmelte es von Spielleuten, die einander überschwänglich begrüßten und von ihren neuesten Abenteuern erzählten. Vor dem Stand mit den Trompeten, wo sie vorgestern so unhöflich weggeschickt worden war, hatte sich ein halbes Dutzend junger Männer versammelt, die herrschaftliche Wappen auf ihren Gewändern trugen. Alheit erkannte den schwarzen Löwen der Pfalzgrafen, den roten von Katzenelnbogen, das Mainzer Rad und das Kreuz von Trier. Diese Leute schienen Alheit gar nicht wahrzunehmen. Sie probierten Instrumente aus und verhandelten mit dem Händler und seinem Gehilfen über Preise, die Alheit nicht mit den Einnahmen aus zehn Jahren auf Fahrt bezahlen könnte. Das verringerte ihren Zorn keineswegs.

Grimmig überlegte sie, ob es nicht nützlicher wäre, sich nach anderen Waren umzutun, wenn sie schon nicht zur Bruderschaft derjenigen gehörte, denen ein neues Instrument zustand. Sie könnte ein buntes Gewand für Auftritte auf der Straße gebrauchen. Franz bekam gelegentlich so etwas geschenkt. Dann änderte sie seine alte Cotte für sich um, wenn der Stoff noch fest genug war, oder tauschte sie ein. Neues Leinenzeug wäre auch angebracht.

Gedanken einer guten Hausfrau, auch wenn sie kein Haus besaß.

Auf dem Marktplatz boten Bauern aus dem Umland ihren Kohl und ein wenig Korn feil. Selbst für die Jahreszeit erschien Alheit das Angebot sehr spärlich. Die Heuschrecken hatten zu viel von der letzten Ernte aufgefressen.

In den Seitengassen entdeckte sie etliche weitere Händler, die eigens gekommen waren, um mit den Spielleuten zu handeln. Sie boten Instrumente an, auch solche, die offensichtlich ein langes Leben auf der Landstraße hinter sich hatten. Zwar widerstrebte ihr der Gedanke, doch wenn sich auf anderem Weg kein zweites lautes Instrument auftreiben ließ, würde sie hierher zurückkehren.

Ein Stand wurde noch aufgebaut. Ein stämmiger Mann in knielanger, rostroter Cotte aus gutem Tuch, aber mit einfachen Borten besetzt, überwachte das Treiben. Die Hände in die Seiten gestützt, gab er drei deutlich jüngeren Männern in bunten Gewändern Anweisungen, wie mit den Stangen, Seilen und Planen zu verfahren war.

Alheit glaubte, die übermütigen Burschen zu erkennen, die Franz und ihr am Montag aufgefallen waren. Schmunzelnd sah sie ihnen eine Weile zu. Obwohl ihnen die Arbeit nicht leicht von der Hand ging, flogen derbe Scherze hin und her. Offenbar hatten sie noch nicht einmal eine Herberge gefunden, denn ihre Bündel lagen wenige Schritte entfernt an einer Hauswand.

ťIch glaube nicht, dass Ihr meine Waren kaufen würdet, gute FrauŤ, sagte der Mann, den Alheit als den Herrn des Standes ansah.

ťWieso? Was verkauft Ihr?Ť

ťWenn die Faulenzer da je fertig werden, Dudelsäcke.Ť

ťSicher macht Ihr lieber Geschäfte mit Emich dem König und Seinesgleichen, aber die Heller der einfachen Fahrenden sind ebenso viel wert.Ť

Der Händler sah erstaunt zu ihr auf. ťWoher kennst du Emich?Ť

ťEr sammelt seine Schüler im Haus zum Schwarzen Bären, nicht wahr?Ť

Misstrauisch kniff er die Augen zusammen. ťUnd dabei sind Elbelin und Gottfrid aus Flandern, nicht wahr?Ť

Verwirrt schüttelte Alheit den Kopf. ťDie beiden wohnen im Wilden Mann.Ť

Da lachte der Händler. ťDas hätte ich mir denken sollen, dass Emich sich nicht seinen größten Rivalen auf den Hals holt. Und Burkhard wird es auch das Herz im Leib umdrehen.Ť

Burkhard? Oh ja, der Wirt. Wieso sollte er sich an den musikalischen Fertigkeiten seiner Gäste stören?

ťAber du siehst nicht aus wie eine SackpfeiferinŤ, fuhr der Händler fort.

Alheit griff nach ihrem Gürtel, doch sie hatte ihr Instrument in der Herberge gelassen. ťIch spiele SchalmeiŤ, verkündete sie.

ťOh ja? Aber zufällig hast du dein Instrument nicht dabei?Ť

Der Ton des Händlers gefiel Alheit nicht. Er schien sie für eine von Lenes Zunft zu halten.

ťAber da kann ich dir aushelfenŤ, fuhr er fort. Er trat ein wenig zur Seite, zum Gepäck seiner wohl nicht ganz freiwilligen Helfer, und kehrte mit einer recht zerkratzten Schalmei zurück. Mit einem falschen Lächeln hielt er sie Alheit hin.

Sie betrachtete stirnrunzelnd das Rohrblatt. Offenbar hatte es die Reise recht gut überstanden. Sie setzte die Pirouette an und probierte ein paar Töne. Das Instrument erforderte viel mehr Luft als ihres, doch der erste Teil ihres Lieblingsreigens gelang ihr gut.

Die drei Jungen ließen die Plane fahren, die sie aufspannen sollten, und beschwerten sich lauthals: ťHe, wir arbeiten doch für dich!Ť

ťArbeiten nennt ihr das?Ť, entgegnete der Standbesitzer. ťIhr zerlegt ja alles wieder!Ť Mit einem noch viel unechteren Lächeln wandte er sich an Alheit: ťGefällt sie dir?Ť

Sie vermutete, dass seine Schadenfreude diesmal nicht ihr galt. ťDanke, ich bleibe meinem alten Instrument treu.Ť

ťDas ist löblich.Ť Der Händler nickte anerkennend. Dann nahm er ihr die Schalmei ab und verstaute sie wieder in dem Bündel, aus dem er sie genommen hatte. Das Rohrblatt steckte er in eine gedrechselte Dose.

Seine Helfer atmeten auf und brachten die Plane wieder an die richtige Stelle.

ťWenn du es dir doch anders überlegstŤ, fuhr der Händler fort, ťdann trag deine sauer verdienten Heller aber nicht zu Gerlach von der Heide. Der steht gleich am Marktplatz. Er gibt sich gern für Timo Widner aus, aber seine Ware taugt nicht einmal halb so viel.Ť Er zuckte die Achseln. ťNur weil einer aus Thüringen kommt, baut er noch lange keine guten Instrumente.Ť

Alheit versuchte, sich alle diese Namen zu merken, denn der richtige konnte wie ein Zauberspruch wirken.

ťSelbst ich kann dir da etwas Besseres anbieten.Ť Er warf einen Blick auf den Stapel Kisten und Truhen hinter sich und schüttelte den Kopf. ťVielleicht kommst du morgen oder übermorgen noch einmal vorbei, wenn ich alles ausgepackt habe.Ť

ťGernŤ, sagte Alheit, nur, um etwas zu sagen. Ihrer Meinung nach brauchte sie nicht ausgerechnet eine neue Schalmei.

ťMein Name ist übrigens Johann Schure, falls du mich einmal suchen solltest.Ť Er trat einen Schritt näher an Alheit heran. ťUnd hör auf meinen RatŤ, murmelte er, ťhalt dich von diesem Gottfrid fern.Ť

War es nicht gerade noch ein Gerlach gewesen? Oder meinte der Händler wirklich Elbelins rothaarigen Gesellen?

Alheit machte sich auf den Rückweg. In den Seitengassen rund um das Paulusstift fand sie kleine Läden, in denen vor allem Krämerinnen ihre Waren anboten. Es gab gebrauchte Kleidung, Leinen in Stücken, die allein nicht mehr für ein Hemd reichten. Hier wurde sie fündig.

Wenn sie Franz’ Cotte vom letzten Sommer umarbeiten wollte, brauchte sie Blau und Gelb, vielleicht zwei Ellen von jedem. Es durfte ruhig ein wenig verblichen sein oder kleine Fehler haben. Auch die Leinenabschnitte und das Garn rissen kein allzu großes Loch in den Beutel.

Alheit beschloss, ein Stück mehr zu kaufen, als sie dringend brauchte, und den feinsten Stoff für eine neue Haube zu verwenden. Solange sie hier festsaßen und Meister Wolfram sie von seinem Unterricht fernhielt, hatte sie Zeit zum Nähen.

Als sie mit ihren Schätzen das Stadthaus passierte, glaubte sie dort Lene zu entdecken, die verstohlen aus einem Türspalt lugte. Erst wollte Alheit sich abwenden, doch dann erschien es ihr nützlicher zu wissen, was Lene tatsächlich in der Stadt trieb. Nichts Gutes, so viel war sicher.

Lene trat heraus auf die Gasse, wandte sich noch einmal kurz um und winkte jemandem, wie zum Abschied. Alheit versuchte, so nah heranzukommen, dass sie diesen Menschen sehen konnte. Lene ging inzwischen davon, als wollte sie nichts weiter als auf dem Markt einkaufen. Alheit folgte ihr langsam.

Aus der Pforte kam nun ein Mann mit langen grauen Locken und einer fast knöchellangen Samtcotte. Er blickte in die Richtung, in die Lene verschwunden war. Nach einem tiefen Seufzer ging er wieder hinein und schloss die Tür hinter sich.

Alheit würde ihn wiedererkennen, wenn sie ihn traf. Seiner Kleidung nach zählte er zu den bessergestellten Bürgern, nicht zu den allgegenwärtigen Spielleuten.

Sie kehrte in den Wilden Mann zurück. Auf der Treppe zu ihrer Schlafkammer war es zwar kalt, aber hell genug zum Nähen. Als Erstes nahm sie sich die blau-gelbe Cotte vor.

Bei der gleichförmigen Arbeit wanderten ihre Gedanken zu all den neuen Leuten, die sie in den letzten Tagen getroffen hatte. Obwohl sie nun schon einige Jahre mit Franz unterwegs war und sich manchmal einredete, auf der Schalmei recht gut zu spielen, stand sie hier nur am Rand. Die Leute nannten Namen, erinnerten an Begebenheiten, die für sie alle eine Bedeutung hatten, nur für Alheit nicht. Es hätte der Abweisung durch Meister Wolfram nicht bedurft, um ihr zu zeigen, dass sie nicht dazugehörte.

Aber wo gehörte sie denn hin? In die Welt der sesshaften Bürger führte kein Weg zurück.

In der Gaststube klang Musik auf. Mit den ersten Tönen kehrte Alheits Wut wieder. Sie schwor sich, keinen zweiten Tag mit Nähen zu verbringen, sondern bei dieser Schule so viel zu lernen, wie sie konnte.

Ihre Stiche wurden länger und hastiger. Um ihren Vorsatz wahr zu machen, musste sie auch die Stunde zwischen dem Ende des Unterrichts und dem Essen nutzen, während die anderen in die Gassen ausschwärmten. In kleinen Gruppen verließen die Spielleute den Hof. Alheit achtete nicht genau darauf, wer ging. Sie war nicht einmal sicher, ob Franz noch da war. Dennoch ertönte die Musik weiter. Jemand spielte auf dem Dudelsack Melodien, die Alheit nicht kannte, in halsbrecherischer Geschwindigkeit. Dabei quiekte das Instrument hin und wieder, oder die Verzierungen gerieten aus dem Takt, vor allem bei den tieferen Tönen. Elbelin war es nicht, der da spielte. Er hätte an Alheit vorbeigehen müssen, um an sein Instrument zu gelangen. Israel hatte die Herberge bereits verlassen, oder? Vielleicht stand er noch irgendwo in einer Ecke und übte.

 

Nach dem Essen begann das Spielen ein wenig zögerlich, doch nach und nach brachten die Männer ihre Lieblingsstücke zum Vorschein, die ihnen nach dem anstrengenden Tag keine Mühe bereiteten. Wieder erschien Heinrich von Alzey in Begleitung seines Knappen und spielte mit den anderen.

Alheit hörte aufmerksam zu, sie hoffte, doch noch etwas Neues zu lernen. Marjorie gesellte sich bald mit der Harfe dazu, und Katherine sang in einer unbekannten Sprache zu den Tanzmelodien. So schnell war Alheit nicht. Sie brauchte jemanden, der ihr genau erklärte, wie sie die Finger setzen musste.

Hinter Alheit befand sich noch ein Zuhörer. Die Tür zur Küche war nur angelehnt. Daneben stand Burkhard und summte leise die Melodien mit. Alheit glaubte sogar zu sehen, dass er die Finger bewegte, als spiele er ein Instrument.