XX

Var, der wie elektrisiert in Aktion trat, als er die Schüsse hörte, startete den Laster und fuhr vorsichtig auf die Menge zu. Falls Soli etwas zugestoßen war, würde er den Kaiser einfach überfahren!

Dann aber sah er den Wagen losfahren, den Herrn am Steuer, Soli neben ihm, zwei Gladiatoren dahinter. Sie hatten es geschafft!

Doch die Soldaten, die sich nur momentan hatten überrumpeln lassen, rotteten sich zusammen und brachten ihre Waffen in Anschlag. Var gab Gas, fuhr ihnen in den Weg und verstellte ihnen die Schußbahn, während der andere Wagen davonjagte. Männer sprangen ihn an. Er wich aus, erkannte dann aber die nackten Leiber der übrigen zwei Gladiatoren. Er trat auf die Bremse und ließ sie aufsteigen. Dann ging es los.

Niemand konnte sich des Lasters bemächtigen, solange die zwei Leibwachen an Bord waren. Doch kamen ihm keine anderen Fahrzeuge entgegen, die ihm seinerseits hätten Deckung geben können, indem sie die Schußlinie behinderten. Schüsse knallten. Seine Reifen platzten. Var fuhr wie benommen weiter, weil er wußte, daß sie alle geliefert waren, wenn er anhielt.

Das Steuer riß an seiner Hand. Der Motor wurde langsamer und starb ab. Er trat die Kupplung, gab Gas und brachte ihn wieder auf Touren. Der Laster holperte und stotterte mit seinen demolierten Reifen dahin, doch er bewegte sich weiter.

Aber nicht schnell genug. Die Truppen hatten sie zwar abgehängt, und eine leichte Steigung der Straße entzog sie dem direkten Feuer, doch würden andere Wagen sie in Minutenschnelle einholen. »Wir müssen laufen!« rief Var, als der heißgelaufene Motor schließlich seinen Geist aufgäbe.

Sie sprangen ab und hatten schon den Wald erreicht, als der erste Wagen der Verfolger auftauchte. Schreie und Schüsse wurden hörbar, als die Soldaten den Laster sahen. Sie wußten ja nicht, daß er leer war.

Var und die zwei Gladiatoren liefen immer weiter. Die Soldaten des Kaisers würden ihre Fährte noch früh genug aufnehmen, das wußten sie. Allein hätte Var sich mit Leichtigkeit durchschlagen können, denn der Wald war ja sein natürliches Zuhause, und er konnte sich dann im Ödland verstecken. Doch die anderen, die zwar im Kampf sehr geschickt sein mochten, wirkten hier wie unbeholfene Monstren. Das schreckliche Ende war vorauszusehen, wenn sie sich nicht bald trennten.

Er konnte sich natürlich davonstehlen und die Gladiatoren ihrem Schicksal überlassen. Das wäre an sich kein Problem gewesen. Aber war es auch fair? Sie hatten ihm bei der Befreiung Solis geholfen, ihr Leben dabei aufs Spiel gesetzt, und einer war bei diesem Unternehmen verwundet worden. Aber er hatte immerhin vorher die Gladiatoren befreit und dabei sein Leben aufs Spiel gesetzt. Wer schuldete nun wem etwas?

»Wir haben unsere Schuld abgetragen«, keuchte einer der Männer. »Und jetzt müssen wir bei unseren Leuten Zuflucht suchen, und das kannst du nicht. Andernfalls werden wir alle sterben, denn Ch’in ist erbarmungslos.«

»Ja«, gab Var ihm recht. »Es ist gerecht. Es tut uns leid, aber es muß sein.«

Sie glaubten tatsächlich, sie beschützten ihn! Und daß er sterben würde, sobald sie ihn verließen! Die drei hatten durch falsch verstandene Treue fast den eigenen Untergang heraufbeschworen.

»Es ist gerecht. Geht eures Weges«, wiederholte Var. Er winkte ihnen zum Abschied zu und war in der Wildnis verschwunden.

Nun war er vorerst vor Verfolgung sicher und konnte sich Sorgen um die anderen Machen. Soli, ihr Vater und der Herr waren in nördlicher Richtung davongefahren. Würde es ihnen gelingen, eine sichere Entfernung zwischen sich und die Leute des Kaisers zu legen und endgültig zu entkommen? Und wenn, würde er feststellen können, wo sie sich aufhielten?

Würden sie es überhaupt zulassen, daß er sie suchte? Sol war mit seiner Tochter wieder vereint worden, nachdem Var sie beide unabsichtlich lange Jahre getrennt hatte. Sie konnten jetzt zurück nach Amerika. Sie brauchten den Jungen aus der Wildnis nicht mehr. Und sie wollten ihn vielleicht gar nicht. Denn was würde er schon anfangen, außer Soli wieder mit sich nehmen? Falls Soli überhaupt eine Neigung dazu zeigte. Var wurde von nicht geringen Zweifeln beschlichen. Sie war außer sich gewesen, als er sie in die Schule schaffte, und bei den seltenen Gelegenheiten ihres Zusammenseins hatte sie sich seither abweisend verhalten. Ihr hatte eine hervorragende Heirat bevorgestanden, ehe er die Verbindung sprengte. Und jetzt war sie bei ihrem Vater, einem besseren Mann, als Var es war. Gewiß würde sie entweder bei Sol bleiben oder zurück zu Ch’in wollen.

Am besten war es, er verbarg sich im Ödland und ließ sie ihren Weg gehen.

Im Bogen schlich er zur Straße zurück, weil er wußte, dort würde man ihn am wenigsten vermuten. Er trottete in der Richtung weiter, in die der Wagen gefahren war, nach Norden. Er hatte sich noch nie im Leben für die beste Lösung entschieden. Ständig fuhren Fahrzeuge vorüber, und Var sprang jedesmal in den Graben und versteckte sich, worauf er sofort wieder heraussprang und seine einsame Wanderung fortsetzte. Früher oder später würde er bestimmt den Wagen einholen oder auf die Stelle stoßen, wo die ganze Gruppe ausgestiegen war. Und dann…

Wieder holperte ein Laster vorüber, diesmal in südlicher Richtung. Var sprang in Deckung. Er roch Staub, vermischt mit Treibstoffdämpfen, und… Solis Parfüm.

Er sprang zurück auf die Straße und schrie. Entweder Ch’ins Leute hatten sie gefangen oder -

Der Laster hielt an. Soli stieg artig herunter, schwenkte ihren Hut, und sah dabei unglaublich vornehm aus. »Steig ein, du Idiot«, rief sie. »Ich wußte ja, daß du verlorengehen würdest.« Die vier waren nun zum erstenmal beisammen: Var, Soli, Sol und der Herr. Die zwei anderen Gladiatoren waren ebenfalls gegangen, nachdem sie ihre Aufgabe erfüllt hatten.

»Jetzt müssen wir wohl darangehen, unsere Flucht zu planen«, sagte der Herr, während er den Wagen steuerte. »Wir werden auf Straßensperren stoßen. Wir konnten die Verfolger zwar nasführen, indem wir in ein anderes Fahrzeug umstiegen, aber das wird ein zweites Mal nicht klappen. Wir müssen uns bald ins Gebirge schlagen, und man wird uns mit Hunden hetzen. Dieser Ch’in ist keiner, der leicht aufgibt, und sein General ist ein wahrer Meister in Verfolgungsjagden. Wahrscheinlich werden wir Verluste haben – wir müssen mit fünfzig Prozent rechnen.« Var kannte diesen Ausdruck nicht. »Wieviel?«

»Zwei von uns könnten draufgehen.«

Var sah Soli an. Sie saß auf Sols Schoß, zwischen Var und dem Herrn. Ihre Frisur war makellos geblieben. Sie war so schön und entrückt, eine richtige Dame – ein abgrundtiefer Gegensatz zu den viehischen, stinkenden Männern um sie herum. Wie gut ihr die Ausbildung bekommen war!

Und wie weit sie sich über ihn erhoben hatte! Seine Wunschvorstellungen waren lächerlich. Sie brauchte ihn nicht. Sie war wieder bei ihrem Vater, die jahrelange Verfolgungsjagd lag hinter ihnen, und Var war überflüssig geworden. Sie hatten aus purem Anstand kehrtgemacht und waren ihn holen gekommen, mehr nicht.

»Var, du bist schon seit einem Jahr da«, sagte der Herr. »Du kennst das Gebiet. Was wäre unser bester Fluchtweg, und wo können wir am besten in Verteidigungsstellung gehen, wenn man uns fängt?«

Var überlegte. »Das Land ist nach Süden hin einigermaßen offen, doch das ist Ch’ins Gebiet. Im Osten und Westen sind Gebirgszüge, über die keine Autostraße führt. Zwar könnten wir einen der Pässe zu Fuß schaffen. Ach ja, die Hunde«, setzte er hinzu, weil ihm im gleichen Augenblick klargeworden war, daß sie die Flucht unbedingt mit dem Fahrzeug fortsetzen mußten.

»Der Norden ist noch am besten, bis auf die…«

Er hielt inne und schätzte die mißliche Lage ab, in der sie steckten. Weit oben im Norden war das Land wild und offen, so daß eine Verfolgung sich schwierig durchführen ließ, auch wenn viele Menschen und Hunde daran beteiligt wären. Wilde Stämme kämpften gegen alles, was eine organisierte, zivilisierte Macht darstellte, doch sie ließen Flüchtlinge in Ruhe. Also ideal für diese Gruppe. Doch der Norden präsentierte sich zunächst als enger Flaschenhals. Kaum fünfzig Meilen jenseits des Gebietes, wo er die Gladiatoren gefunden hatte, begann das noch strahlungswirksame Ödland. Diese Strahlungsgebiete reichten Hunderte von Meilen nach Osten und Westen und wirkten wie unüberwindliche natürliche Schranken zwischen den zivilisierten Südländern und den primitiven Stämmen.

Nur eine Straße führte hindurch, denn es gab nur einen Paß, der frei war von Strahlung, und auch das nicht mit Sicherheit. Dieser Paß war befestigt und ständig besetzt. Er und Soli hatten ihn passieren müssen und hatten Maut bezahlt, damals als sie zu Fuß nach Süden gezogen waren. Der Paß lag nicht auf Ch’ins Gebiet, doch war die Besatzung ihm freundlich gesinnt. Ch’ins Beziehungen zu solchen Schlüsselposten in Randgebieten waren immer sehr gut, einer der Gründe, warum seine Macht ständig wuchs.

»Ich glaube, wir müssen den Paß durchs Ödland nehmen«, sagte der Herr.

Keiner gab Antwort. Das war ein fast unmöglich zu vollbringendes Wagnis.

»Während meiner Zeit als Gladiator«, sagte der Herr, »da ließ ich mir dies als theoretisches Problem durch den Kopf gehen. Wie ein halbes Dutzend kühner Männer den Stützpunkt nehmen und den Paß für immer halten könnte.«

»Aber wir sind vier!« hielt Var dagegen. Auch mit hundert Mann wäre das nicht zu schaffen. Diese Festung hatte in der Vergangenheit schon ganze Armeen abgeschmettert.

Der Namenlose zuckte die Schultern und fuhr weiter. Immer wenn sie einem anderen Fahrzeug begegneten, duckten sich die Mitfahrer, um keine unliebsame Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. An der richtigen Stelle bog er von der Hauptstraße ab und hielt auf die an den Paß angrenzenden Ödland-Regionen zu. »Du mußt uns warnen«, sagte er zu Var.

Und Var warnte sie. Der Herr hielt sofort an und machte an jenen Stellen kehrt, die er ihm als verseucht meldete. »Und jetzt suche uns einen heißen Steinbrocken, den wir dann mit entsprechender Abschirmung auf unseren Laster nehmen können. Am besten gleich mehrere. Du solltest sie nicht berühren, sondern nur uns zeigen. Dann errichten wir eine Art Kran und hängen die Steine an. An eine zehn Fuß lange Stange.« Er lächelte aus irgendeinem Grund.

So wurde es gemacht. Var suchte ein paar kleine Steine mit intensiver Radioaktivität aus, und diese wurden mit Hilfe von Seil und Stock auf die Ladefläche gehoben. Es ließ sich nicht vermeiden, daß die Männer eine gewisse Strahlendosis abbekamen, aber die war nicht gefährlich. Soli sah zu, voller Sorge und nicht ganz einverstanden mit dem Manöver. Var gab ihr insgeheim recht. Die Arbeit war gefährlich und diente keinem ersichtlichen Grund, und sie verschlang vor allem Zeit, die man viel besser zur Flucht vor den Suchtruppen Ch’ins verwandt hätte.

Dann warfen sie größere Brocken und Sand auf die Ladefläche. Das sollte als Schirm zwischen dem Fahrerhaus und der Strahlung dienen. Als Var das Führerhaus für sauber erklärte, schütteten sie ihren restlichen Treibstoff – den letzten von mehreren großen Kanistern, die der Laster als Standard-Vorsichtsmaßnahme mit sich führte, da die Abstände zwischen den Tankstellen sehr groß waren – in den Tank und fuhren bergauf, dem Paß entgegen.

»Jetzt kommt der harte Teil«, erklärte der Herr unterwegs. »Die Garnison verfügt über Geiger-Zähler. Und wir können davon ausgehen, daß man sehr mißtrauisch ist, auch kleinen Strahlungsmengen gegenüber. Die Festung gilt als harter Einsatz, eben wegen dieser Strahlung. Die Besatzung wird sehr häufig ausgewechselt, um der Gefahr einer Verseuchung zu entgehen.«

Der Herr hatte offenbar mehr getan, als nur über diesen Paß nachzudenken. Er hatte ihn studiert, wahrscheinlich sogar Bücher zu diesem Thema gelesen. Var fragte sich, auf welche Weise ein Gladiator an Bücher herankommen konnte. Aber auch noch so eingehende Studien konnten ihnen den Weg nicht frei machen.

»Diese Männer werden vor Strahlung ganz automatisch zurückschrecken, und sie werden in blinde Panik geraten, wenn sie sich darin gefangen finden«, sagte der Herr.

»Wer nicht?« sagte Soli. »Es ist ein schrecklicher Tod. Allein, als ich euch beim Hantieren mit diesen Steinen zusah, habe ich mich vor Schreck dreimal in die Zunge gebissen.«

Var dachte an die böse Erfahrung, die der Herr selbst im amerikanischen Ödland gemacht hatte. Sonderbar, daß er sich nicht mehr fürchtete. Doch langsam ging ihm auf, daß diese Ladung einen Zweck hatte. Sie schleppten eine ganze Wagenladung des Schreckens mit sich…

»Wir werden sie damit vertreiben«, sagte der Herr. »Die Soldaten werden nicht einen Schuß abgeben, weil sie damit radioaktive Teilchen über die ganze Station zerstäuben könnten. Sie werden sich schleunigst zurückziehen. Weil ihnen nichts anderes übrigbleibt.«

»Warum aber sollten sie Strahlung in einem abgeschirmten Laster fürchten?« fragte Var.

»Die bleibt nicht im Laster. Wir schaffen sie ins Innere der Festung.«

Var wurde ebenso von Entsetzen erfaßt wie die anderen. »Das Zeug tragen? Ohne Stangen?«

»Zwei Personen schaffen das. Und die können dann nachher den Paß stundenlang halten. Und die anderen zwei können entkommen, die Wildnis erreichen und später die Küste und – «

»Nein!« riefen Soli und Var wie aus einem Munde. »Ich habe von fünfzig Prozent Verlusten gesprochen«, erwiderte der Namenlose. »Ihr Jüngeren seid vielleicht vom zivilisierten Leben verweichlicht. Habt ihr denn noch Illusionen, was es bedeuten würde, den Leuten Ch’ins in die Hände zu fallen? Und wenn wir aus dieser Gegend nicht sehr bald verschwinden, dann wird sich das nicht vermeiden lassen. Sicher hat man die Spürhunde von den Leinen losgemacht, und diese Biester sind nicht eben sanftmütig. Sol und ich haben sie kennengelernt.« Var wußte, daß er recht hatte. Die Gladiatoren konnten der Wirklichkeit besser ins Auge sehen und damit auch der Aussicht auf Folter und Tod. Sie mußten über den Paß und würden es mit einer List allein nicht schaffen. Man kannte sie und wußte um ihr Vergehen, und diese Soldaten waren rauh und kampferprobt. Sie ließen sich durch kein Flehen erweichen, durch keine leere Drohung einschüchtern. Nur Artillerieeinsatz würde sie wanken lassen… und Strahlung.

»Wer entkommt?« fragte Soli kleinlaut. »Du«, sagte der Herr unwirsch. »Und einer, damit er dich beschützt.«

»Wer?« fragte sie wieder.

»Einer, der dir nahesteht. Dem du vertraust. Den du liebst.« Und nach einer Pause. »Nicht ich.«

Blieben also zwei, die in Frage kamen, dachte Var bei sich. Er selbst und Sol. Ihm war klar, was nötig war. »Ihr Vater.«

»Sol«, sagte der Herr hastig.

Sol, der ohne Stimme war, sagte gar nichts. Und so wurde entschieden. Var fühlte Kälte durch und durch, da er nun wußte, daß er sterben würde, und daß es nicht schnell gehen würde. Seine Haut würde ihn zwar vor der Strahlung warnen, konnte ihn aber ansonsten nicht weiter schützen. Er überlebte die Strahlung, weil er ihr ausweichen konnte, während andere ohne es zu wissen, tödliche Mengen bekamen. Wenn er einen dieser Steine anfaßte…

Doch lag darin auch eine gewisse morbide Befriedigung. Nie hatte er mehr verlangt, als das Recht neben dem Herrn leben und sterben zu dürfen. Und so würde es nun kommen. Soli wäre gerettet, und ihr Vater würde sie beschützen wie früher. Sie würden nach Amerika zurückgehen, ins Land des Ring-Ehrenkodex. Er verspürte gewaltiges Heimweh danach, nach seinen zeremoniellen Riten, den Zweikämpfen und sogar nach den verrückten Irren.

Und genau das war das wichtigste für Var: Daß Soli in Sicherheit war, daß sie glücklich und zu Hause sein würde.

Mit dem Gedanken an sie und mit ihrer Liebe zu ihr würde er sterben.

Der kritische Punkt der Herausforderung kam in Sicht. Metallschranken versperrten die Straße. Und als der Laster davor anhielt, senkten sich dahinter andere, von einer massiven Winde heruntergelassene Schranken. »Aussteigen!« kläffte der Posten von seinem Turm.

Die vier stiegen aus und nahmen vor dem Laster Aufstellung.

»Das ist das Mädchen!« rief der Posten. »Ch’ins Braut, die Ausländerin!«

Der Herr drehte sich um, und plötzlich war ein Bogen in seiner Hand. Der Pfeil lag im Anschlag. Schnellte ab, zischte durch die Luft, und der Turm-Posten brach zusammen, lautlos. Der Pfeil hatte sich durch seine Luftröhre gebohrt.

Jetzt hieß es, die Steine zu befördern. Var ging nach hinten, auf den stechenden Kontaktschmerz gefaßt, da fiel die große Hand des Herrn auf seinen Arm. Var taumelte rücklings. Und dann wurde er brüsk vorgeschoben.

Gleichzeitig hatte Sol seine Tochter gefaßt und hielt sie, an den Armen hochgehoben, vor sich. Sie und Var waren einander von Angesicht zu Angesicht gegenüber, ein jeder von hinten gehalten. Die Hand des Herrn umfaßte Vars Gelenk und schob den Armreif herunter. Sol nahm ihn und streifte ihn Soli über. Dann wurden Var und Soli losgelassen, und sie umarmten einander, schon um nicht umzufallen.

Als sie einander losließen und sich aufrichteten, sahen sie, daß Sol und der Namenlose bereits heiße Steine gepackt hatten. Die zwei Männer sprangen auf die Gitter zu und erklommen sie eilig, die tödlichen Steine in die Gürtelbänder gesteckt. Das war eine Kunst, die der Herr früher nicht beherrscht hatte. Als die anderen Wachen entdeckten, was da eigentlich vor sich ging, waren sie schon oben.

Der Herr schleuderte einen Stein gegen eine Wand. »Hört!« schrie er. Var hörte das fieberhafte Klappern der Irren-Klick-Kästchen. Dann Schreie, die von Entsetzen und Überraschung kündeten.

Der Herr fing nun an, das vordere Gitter hochzukurbeln. Var sah, daß die Gegengewichte sich senkten und daß der Weg frei wurde.

»Los!« rief der Herr von oben. Ohne Überlegung gehorchte Var. Er setzte sich ans Steuer, Soli neben ihn. Der Motor lief. Er war gar nicht erst abgestellt worden. Der Herr hatte alles bis ins Detail geplant.

Der Weg war frei, und er fuhr los. Das Dach des Führerhauses streifte die Stäbe. Dann waren sie frei.

Und als es den Nordhang bergab ging, da hörte es Var hinter sich krachen. Der Herr hatte ganz plötzlich das Gitter fallen lassen. Womöglich hatte er das Seil mit den Gegengewichten durchgeschnitten, so daß sich die Schranke ohne komplizierte Reparaturen nicht mehr heben ließ. Sie waren also sicher vor einer etwaigen Verfolgung durch Fahrzeuge.

In sicherer Entfernung von der Festung trat Var auf die Bremse. »Das ist nicht richtig«, sagte er. Er hatte nun sein Gleichgewicht wiedergefunden. »Ich sollte eigentlich dort hinten sein.«

»Nein«, sagte Soli. »Die beiden haben es so gewollt.«

»Aber Soli…«

»Var«, entgegnete sie.

Var starrte das Goldband an ihrem Arm an. Jetzt erst wurde ihm klar, was es bedeutete. »Ja, habe ich denn…?«

»Ja, du hast«, sagte sie.

Var verharrte lange Zeit im Schweigen. Schließlich aber sah er alles klar vor sich.

»Wir müssen zurück nach Amerika, müssen ihnen berichten, was wir wissen. Wir haben die übrige Welt gesehen und wissen nun, daß das, was wir zu Hause haben, das Beste ist. Wir dürfen es nicht zerstören durch das Imperium. Helicon muß wieder aufgebaut werden, die Nomadenstämme müssen sich wieder auflösen, die Feuerwaffen müssen abgeschafft werden. Wir werden nach Amerika gehen und es ihnen sagen.«

»Ja, mein Gatte«, sagte Soli. Sie bewunderte den neuen, machtvollen Ton in Vars Sprache.

»Denn Sos und Sol opferten sich für uns und waren am Ende wieder Freunde. Wir dürfen nicht zulassen, daß Amerika in mehrere einander bekämpfende Lager geteilt wird.«

Er legte den Arm um Soli, seine Frau, seine wilde Gefährtin. Und als vor ihnen die Schatten länger wurden, da saßen sie da und blickten nach Osten, dorthin, wo ihre lange Fahrt sie hinführen würde. Morgen begann die Heimreise.

ENDE