XVIII

»Ich habe herausbekommen, wessen Männer sich hier den ganzen letzten Monat versammelten«, sagte der Alte.

Im Laufe eines Jahres hatte Var gelernt, sich mit ihm zu verständigen, obwohl er noch nie Gelegenheit gehabt hatte, zu erfahren, wie der Mann hieß. Er steckte immer voller Klatsch, und Var war daran uninteressiert. Er hatte selbst die Truppen gesehen und gewußt, daß es sich um die Vorhut einer Person von königlichem Rang handeln mußte. Die meisten hier auf der Schule untergebrachten Mädchen waren edlen Geblütes, und es galt als Zeichen von Ansehen, stilvoll mit einem bewaffneten Gefolge von der Schule abzugehen, auch wenn das Gefolge zu diesem Zweck eigens gemietet werden mußte. Oft kamen die Leute schon vor dem Schlußexamen, und die Schule bot gegen Ende des Schuljahres den Anblick eines Heerlagers. Var war einigen Kriegern im freundschaftlichen Zweikampf mit den Stöcken entgegengetreten, doch die meisten trugen Feuerwaffen.

»Die Männer in der Goldlivree«, sagte der Alte, die schwindende Aufmerksamkeit seiner begrenzten Zuhörerschaft ahnend. »Die mit niemandem sprechen und auf einem eigenen Feld üben.«

Diese Krieger waren auch für Var hochinteressant. Niemand wußte, welchem Herrn sie dienten oder bei welchem Mädchen sie Ehrendienst versehen würden. Es waren ihrer zwanzig, in prächtigen Uniformen. Und es waren Elitetruppen. Var hatte sie heimlich bei ihren Übungen beobachtet.

Kaum merkte er, daß Vars Interesse erwachte, legte der Alte los. »Sie dienen Kaiser Ch’in. Sicher hat er sich wieder eine Braut erwählt.«

Var war gebührend beeindruckt. Ch’in hatte die größten der rivalisierenden Königreiche des Südens in seiner Gewalt. Mittels politischer Intrigenspiele und klugen Einsatzes von Truppen hatte er in der letzten Zeit seine Einflußsphäre beträchtlich erweitern können. So wie der Herr in Amerika ein Imperium errichtet hatte, so hatte dieser Mann hier in China eines geschaffen, wenn es auch nicht so groß war wie das Reich des Herrn und auch nicht die Gegend umfaßte, in der diese Schule lag. Er hatte bereits etwa dreißig Frauen und war dennoch ständig auf der Suche nach hübschen Mädchen oder politisch einträglichen ehelichen Verbindungen. Offensichtlich war sein Auge auf eine der Schülerinnen gefallen, und er wollte sichergehen, daß sie bis zu seiner Ankunft wohlbehütet blieb.

Das alles ging Var nichts an. Er hoffte, Soli würde die Lehre erfolgreich abschließen und in einen wohlhabenden Haushalt einziehen. Sodann wollte er sich ins Ödland zurückziehen. Er würde es sehr bedauern, daß er sie nicht wiedersehen konnte, unendlich bedauern, doch er hatte diese schwere Entscheidung damals getroffen, als er sie in die Schule brachte. Mit der Zeit würde sie ihr Glück finden, und das war das wichtigste. Die Kindheit lag hinter ihr, und er war Teil dieser Kindheit.

Die Vorsteherin ließ ihn kommen. »Ich habe gute Nachrichten für dich«, sagte sie und sah ihn an, als sei mit diesen Nachrichten auch eine dunkle Seite verknüpft. »Wir haben für deinen Schützling eine Bleibe gefunden.«

Diese Neuigkeit zerstörte ihn am Boden. Und plötzlich wurde ihm klar, was die Vorsteherin vielleicht von Anfang an gewußt hatte: Daß er nämlich gar nicht wollte, daß Soli einen Freier fand.

Er konnte sie jetzt nicht freiwillig aufgeben, allen seinen Plänen und Absichten zum Trotz.

»Immerhin wolltest du das«, rief sie ihm sanft ins Gedächtnis.

»Ja.« Wie betäubt nickte er.

»Und wie in solchen Fällen üblich, wird das Geld für ihre Erziehung zurückerstattet. Wir werden es dir anstatt eines Lohnes für das vergangene Jahr geben. Ein hübsches Sümmchen, wie du sehen wirst.«

Var konnte ihr nicht leicht folgen. »Ihr verlangt nichts für ihre Ausbildung?«

»Und ob wir etwas verlangen! Wir sind kein Wohltätigkeitsverein. Aber nun hat eben ein anderer die Deckung der Unkosten übernommen. Du brauchst es nicht mehr zu tun, obgleich wir mit deiner Arbeit sehr zufrieden waren. Wenn sie uns verläßt, schulden wir dir Geld.«

»Wer… warum?«

»Der Herr, der sie heiratet, natürlich.« Wieder dieser eindringliche Blick. »Wir sind hocherfreut über dieses Arrangement. Eine sehr günstige Verbindung.«

»Ch’in!« rief er aus, weil ihm plötzlich die Zusammenhänge klarwurden.

»Er möchte vor der Zeremonie die Anonymität gewahrt wissen«, sagte sie. »Aus diesem Grund habe ich seinen Namen nicht erwähnt. Aber du verdienst es, daß du es weißt, und da sein Gefolge nicht zu übersehen ist… Er war auf der Suche nach einer fremdländischen Braut, da er im Moment der einheimischen Affären überdrüssig ist.«

Ihre gewandte Ausdrucksweise war an ihn verschwendet. »Aber Ch’in?«

»Ist es nicht genau das, was du wolltest? Die bestmögliche Stellung für deinen Schützling, damit sie nie wieder Not leidet, nie wieder mit einem Wilden durchs Land streift?« Wieder dieser undeutbare Blick. Ja, genau das hatte er gewollt. Oder vielmehr, er hatte sich in dem Glauben gewiegt, er wünschte es. Die Vorsteherin hatte den Handel mehr als genug erfüllt, jetzt konnte er nicht mehr zurück.

»Daß du dich von ihr trennst, wird nicht nötig sein«, setzte sie mit berechnendem Mitgefühl hinzu. »Kaiser Ch’in hält ständig nach starken Kämpfern Ausschau, und für eine Frau zeigt er ohnehin allerhöchstens ein Jahr lang Interesse. Seine früheren Gemahlinnen genießen beträchtliche Freiheiten, vorausgesetzt sie lassen Vorsicht walten.«

Var war einst in solchen Dingen sehr naiv gewesen, doch hatte er aus Erfahrung gelernt. In diesem Land war der Schein oft wichtiger als die Wirklichkeit, so wie auch in Amerika. Sie hatte ihm also vorgeschlagen, er solle sich beim Kaiser verdingen und es dann nach etwa einem Jahr bei ihr versuchen, nachdem sie Ch’in vielleicht ein Kind geboren hatte, und wenn eine neue Braut Ch’ins Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Diese Arrangements waren nicht ungewöhnlich, und der Kaiser, der davon natürlich wußte, war dem allem nicht abgeneigt – solange es nicht an die Öffentlichkeit drang. Soli konnte ein königliches Leben führen, und Var konnte Soli haben, wenn sie sich geduldig und diskret verhielten.

Die Vorsteherin hatte ihm den leichtesten Weg gezeigt. Er bedankte sich und ging. Aber zufrieden war er nicht, und er war noch nie zuvor den Weg des geringsten Widerstandes gegangen. Plötzlich hatte der Gedanke an Soli in den Armen eines fetten chinesischen Kaisers etwas Abstoßendes für ihn. Von diesem Standpunkt aus hatte er die Sache noch nie gesehen, nämlich daß sie sich den Luxus mit ihrem Körper erkaufen mußte, so wie er ihre Ausbildung mit seinem Körper erkauft hatte. Er spürte wahnsinnige Eifersucht auf den Freier, den er nie gesehen und den Soli nie gesehen hatte.

Da fiel ihm Solis beharrliche Behauptung ein, daß sie die Schule hasse und nichts lieber täte, als wieder mit ihm auf Wanderschaft zu gehen.

Und plötzlich erschien ihm dies als viel wichtiger. Würde sie dieselben Gefühle hegen, nun, da sie sich reich verheiraten konnte?

Er mußte sie unbedingt fragen.

Natürlich konnte er nicht schnurstracks in den Schlafsaal gehen und ihr die Fragen vorlegen. Die Regeln waren sehr streng. Man würde sie schlagen, wenn man sie im Gespräch mit ihm ertappte, so wie jedes Mädchen geschlagen wurde, das gegen eine Schulregel verstieß, und wenn sie noch so geringfügig war. Das Schuljahr war schon so weit vorgerückt, daß man von den Zöglingen Selbstdisziplin erwartete. Jedes auch noch so kleine Vergehen wurde als besonders verwerflich betrachtet. Soli als Ausländerin hatte ebensoviel Feingefühl dafür entwickelt wie die Einheimischen. Var ging bei seiner Annäherung also sehr vorsichtig vor. Wenn er klug war, dann konnte er sie sprechen – wenn man sie nicht erwischte.

Er mußte entdecken, daß die Leute des Kaisers bereits ihres Amtes walteten. Jeder Zugang zu Solis Gemächern wurde überwacht.

Var, der sich von bloßen physischen Schranken nicht abschrecken ließ, suchte sich die Schwachstelle in der Verteidigung heraus und machte sie sich zunutze. Es war der Garten, unter ihrem, im ersten Stock gelegenen Fenster. Er wollte den einzelnen Posten dort mit einem Stockhieb außer Gefecht setzen, doch der Mann ließ sich nicht überrumpeln. Er wich dem Hieb aus und feuerte seine Pistole ab. Zwar konnte Var ihn zu Boden bringen, aber es ging hart auf hart, und es konnte keine Rede mehr davon sein, daß er die Mauer erkletterte, ehe Verstärkung kam.

Sie waren gut organisiert und hatten Gewehre. Ein Halbkreis Bewaffneter rückte immer näher und nagelte ihn auf eine immer kleiner werdende Fläche an der Mauer fest. Ein Fahrzeug raste durch das Buschwerk und ließ ihn zusammenzucken, denn er hatte diese Büsche in den vergangenen Monaten sorgsam gepflegt. Ein Licht leuchtete aus dem Wagen und nagelte ihn fest.

»Wer ist es?« rief eine Stimme vom Wagen her.

»Einer der Arbeiter«, war die Antwort. »Ich habe ihn hier schon gesehen.«

»Was macht er hier?«

»Er schneidet die Hecken.«

»Jetzt – in der Nacht?«

»Was treibst du da, Arbeiter?« Diese Frage war an Var gerichtet.

»Ich muß… mit einem Mädchen sprechen«, sagte er und merkte sogleich, daß er sich mit seiner Ehrlichkeit schadete.

»Mit welchem Mädchen?«

»Soli.«

Hinter dem Licht entstand Durcheinander. Var fiel ein, daß man Soli umbenannt hatte, um ihre einfache Herkunft zu vertuschen. Der Name, den er genannt hatte, war ihnen fremd, und er hätte auch jetzt noch der Wahrheit ausweichen können. »Die, die ihr bewacht. Die Ch’in versprochen ist.«

»Schafft ihn in die Baracken«, befahl der Offizier.

Man brachte ihn hin. »Was willst du von diesem Mädchen?« wollte der Offizier wissen, als sie ungestört in dem eigens für die Soldaten rasch aufgeführten Bau standen.

»Ich wollte fort mit ihr, falls sie mitkommen wollte.« Die Wahrheit klang tröstlich, wenn man sie aussprach, ungeachtet der Wirkung auf diese Männer. Er wollte Soli, auch wenn es sie all den Luxus kosten mochte. Das wußte er jetzt.

»Ist dir klar, daß wir jeden töten werden, der einen solchen Versuch unternimmt?«

»Ja.«

Der Offizier mußte ihn für einen Narren oder Einfaltspinsel halten. »Du hast den Posten niedergeschlagen?«

»Ja.«

»Warum möchtest du eben dieses Mädchen mitnehmen?«

»Ich liebe sie.«

»Und warum glaubst du, würde sie mit dir gehen? Mit einem häßlichen Buckligen, wenn sie doch das allerhöchste Ziel erreichen kann, falls sie bleibt?«

»Ich habe sie hierhergebracht.«

»Du hast sie also schon vorher gekannt?«

»Wir sind vier Jahre lang miteinander umhergezogen.«

»Holt die Vorsteherin«, sagte der Offizier zu einem der Männer. »Macht das Messer heiß«, zu einem anderen. Und zu Var. »Streitet sie deine Geschichte ab, dann wirst du als Beispiel für jene sterben, die sich Ch’in in den Weg stellen. Bestätigt sie die Geschichte, wirst du bloß das Interesse an diesem Mädchen verlieren. An jedem Mädchen.«

Var sah zu, wie das Messer in der Flamme einer großen Kerze gedreht wurde und überlegte, wie viele er wohl töten konnte, ehe ihn die Klinge berührte.

Die Vorsteherin kam. »Es ist wahr«, sagte sie. »Er hat sie gebracht und hat ihren Unterhalt durch seine Arbeit bezahlt. Er hat dafür gesorgt, daß sie bleibt, als sie fliehen wollte. Er hat das Recht, sie wieder mitzunehmen, wenn sie mit ihm gehen möchte.«

»Er hatte das Recht«, sagte der Offizier grimmig, »bis Kaiser Ch’in sie für seinen Hofstaat erwählte. Jetzt gibt es daneben kein anderes Recht mehr.«

Sie sah ihn gelassen an. »Wir befinden uns nicht auf Ch’ins Hoheitsgebiet.«

»Zu diesem Gebiet könnten Sie sehr bald gehören, Gnädigste.«

Sie hob die Schultern hoch. »Ein Vorstoß in diese Region und zu diesem Zeitpunkt würde die Feinde Ch’ins im Norden einen, zu einer Zeit, da seine Hauptstreitmacht im Süden gebunden ist. Ist eine Braut das wert?«

Der Offizier überlegte, einigermaßen verblüfft vom politischen Verstand der Vorsteherin. »Der Kaiser möchte nicht, daß sein Hochzeitstag durch Blutvergießen getrübt wird. Wir werden diesem Mann seine Forderung um einen gerechten Preis ablösen und ihn aus dieser Gegend entfernen – unversehrt. Sollte er vor der Vermählung wiederkehren, wird er festgehalten, bis der Tag vorüber ist, und sodann den Tod der tausend Schnitte erleiden.« Er nahm einen Sack Münzen. »Das wird wohl genügen.«

Die Vorsteherin sah Var ernst an, »Sein Vorschlag ist vernünftig. Du solltest darauf eingehen, Nomade. Und du solltest das nehmen.« Sie übergab ihm ein Paket.

In Var wurde dabei die Erinnerung an das Verhalten Mino’s wach, des Gottes von Neu Kreta, als er Soli die Schlüssel zum Motorboot gab. Ihm war klar, daß die Vorsteherin ihm auf subtile Weise helfen wollte. Entweder er kämpfte jetzt, was den sicheren Tod bedeutete, wie viele er auch mit sich nehmen mochte – oder aber er konnte sich ihrer Führung anvertrauen und auf die Bedingungen des Offiziers eingehen.

Er nahm das Geld und das Paket und ging mit den Posten zu ihren Fahrzeugen. Er hatte nicht aufgegeben, doch schien ihm das im Moment der bestmögliche Kurs.

Sechs Stunden später wurde er abgesetzt, allein, etwa hundert Meilen weiter nördlich. Die Dämmerung senkte sich übers Ödland.

Das Paket enthielt eine Karte und einen menschlichen Daumen.

Die Karte war nichts Besonderes, sie bezog sich auf das gesamte Gebiet hier. Aber da war eine Stelle, rot markiert.

Der Daumen -

Var kannte sich bei Gliedmaßen aus, da seine eigenen deformiert waren. Er konnte bestimmte Menschen ebensogut an ihren Händen wie an den Gesichtern erkennen. Dies da war nicht der Daumen eines Chinesen. Er gehörte einem Amerikaner. Massiv, feines Gewebe unter der Haut, narbig – es war der Daumen des Herrn.

Offenbar wußte die Vorsteherin, wo sich der Herr befand, tot oder lebendig. Und sie wußte es schon seit geraumer Zeit. Also mußte sie um die Verbindung zwischen Var und Soli und dem Namenlosen wissen. Und jetzt hatte sie sich entschlossen, ihre Information an Var weiterzugeben. Warum?

Er schüttelte den Kopf, weil er es nicht fassen konnte. Sie war eine ehrenwerte Frau, aber wie so viele dieses Volkes, auf ihre Weise ein Rätsel.

Ihm blieben nicht ganz zwei Wochen, um Soli zu holen, wenn er es tun wollte, ehe Ch’in sie auf sein Lager zog. Wenn er sie überhaupt vor die Wahl zwischen dem häßliche Nomaden und dem reichen mächtigen Kaiser stellen wollte.

Er konnte noch rechtzeitig die Schule erreichen, denn man hatte seine tägliche Laufleistung offensichtlich unterschätzt. Doch wußte er, daß der Offizier nicht geblufft hatte, als er ihm das Schicksal beschrieb, das ihn erwartete. Und plötzlich wurde er von Ungewißheit erfaßt, was Solis Reaktion betraf. Sie war so zornig gewesen, und sie hätte ein Leben voller Luxus führen können…

Nach einer Woche Fußmarsch hätte er den eingezeichneten Fleck auf der Karte erreichen können. Gewiß stammte der Daumen des Herrn von dorther. Es wurde Zeit, daß er seinen Konflikt mit seinem langjährigen Freund und Mentor zu einem Ende brachte – oder mit Sicherheit feststellte, daß er nie zu Ende sein würde. Wenn der große Mann nun tot war…

*

Es war eine Arena. Gladiatoren traten gegeneinander und gegen wilde Tiere zum Todeskampf an, zum Vergnügen des zahlenden Publikums. Aber die größte Attraktion waren zwei Wilde aus der Fremde, Gefangene, die vor einem halben Jahr von den Truppen eines kleineren Königreiches bei einem Grenzscharmützel festgenommen wurden. Sol und der Herr, natürlich.

Ein paar kurze Fragen vermittelten Var wenigstens ein annäherndes Bild der Wahrheit. Die beiden waren Var in den Tunnel zu den Aleuten gefolgt, waren aber geschickter als er dem automatischen Kehrgerät ausgewichen. Die Amazonen hatten sie abwehren können, waren aber von der Strahlung an der Brücke aufgehalten worden. Deshalb hatten sie einen großen Umweg machen müssen, wohl wissend, daß Var nicht haltmachen würde, ehe er nicht das Festland auf der anderen Seite des Ozeans erreicht hätte. Sie hatten manches fremde Gebiet durchquert, Feinde belebter und unbelebter Art abgewehrt, und das alles hatte Jahre gedauert. Und dann waren sie einer Grenzpatrouille in die Arme gelaufen – eigentlich einer quasi-offiziellen Banditenbande – und hatten vor den schweren Schußwaffen des Gegners aufgeben müssen.

Kaum waren ihre Wunden verheilt, verkaufte man sie beide an die Arena. Man schnitt ihnen ihre linken Daumen ab, zur Kennzeichnung ihres Status. Und jetzt mußten sie schuften, und das um einen Lohn, bei dem es ein Jahrzehnt dauern würde, bis sie den Preis zum Freikauf beisammen hatten.

»Ich werde sie auslösen«, sagte Var. Er drückte dem Mann am Arena-Tor den Sack Münzen in die Hand.

Der Mann zählte nach und nickte. »Ch’in-Währung. Sehr stark. Für wen?«

Var beschrieb den Herrn.

»Sehr gut.« Var hatte eigentlich ein großes Hinundher erwartet, denn das Säckchen konnte wohl kaum den Gegenwert eines Zehn-Jahres-Vertrages enthalten. Der Mann gab ihm einen mit chinesischen Schriftzeichen beschriebenen Zettel. Var nahm ihn begierig in Empfang und betrat das Arenagelände. Er schlug schnurstracks den Weg zu den Unterkünften der Gladiatoren ein. Erstaunlich glatt war alles verlaufen. Doch da fiel ihm etwas ein, und er blieb stehen und enträtselte die Symbole. Der Zettel war wertlos. Damit wurde ihm nur der Zutritt zum Gelände gewährt und sonst gar nichts. Man hatte ihn hereingelegt.

Wütend wollte er zurück, doch ihm wurde sogleich klar, daß der Mann das Geld sicher schon versteckt hatte und vielleicht sogar selbst nach diesem ungesetzlichen Fischzug verschwunden war. Eine Kampfarena galt als Brutstätte von Laster und Korruption. Er hätte sich vorsehen müssen.

Nun, damit war der Kurs festgelegt. Man war seinem ehrenhaften, wenn auch naiven Vorschlag mit Unehrlichkeit begegnet. Vars ethische Begriffe waren ihm nicht fundamental eingegeben, denn er hatte sie ja nur durch seinen Kontakt mit dem Herrn kennengelernt, und außerhalb Amerikas hatten seine Abenteuer ihn darin nicht eben gekräftigt. Er kam anderen entgegen wie sie ihm entgegenkamen und wußte nun, daß er hier nicht auf Ehre rechnen konnte.

Er warf den Zettel weg und ging weiter zum Lager der Gladiatoren. Es handelte sich um ein mit einem hohen Drahtzaun umgebenes Lager, an dessen Ecken sich Holztürme erhoben. Vor jeder der darin befindlichen Unterkünfte stand ein Bewaffneter und hielt Wache.

In der Nähe waren die Tierkäfige. Tiger, Bisons, Schlangen, wilde Hunde und verschiedene Mutanten aus dem Ödland. Wenn sie nicht in der Arena gebraucht wurden, durften sie als zusätzliche Attraktion besichtigt werden. An den zahlreichen Wunden sah Var, daß die Tiere häufig eingesetzt wurden. Wahrscheinlich bekamen die Gladiatoren Belohnungen, wenn sie ein Tier wirkungsvoll besiegten, dabei aber eine Tötung vermeiden konnten.

Er suchte die ganze Anlage ab. Es war ein Tag ohne öffentliche Vorstellung. Die Schaukämpfe fanden nur alle drei bis vier Tage statt. Es trieben sich relativ wenig Schaulustige wie er herum. An einer Seite des Geländes waren ein paar Laster abgestellt, die hin und wieder zum Transport von Tieren und Ausrüstung verwendet wurden. Das Unternehmen wechselte den Schauplatz nach ein paar Wochen und suchte sich neue Weidegründe und neues Publikum – vielleicht auch Schutz vor Rachsüchtigen.

Befriedigt zog Var sich auf einen ruhigen Fleck in der Wildnis zurück und schlief sich aus. In der Nacht würde er alle seine Energien brauchen.

Ausgeruht schlich Var in der Dunkelheit wieder auf das Gelände. Er drückte das Fenster eines versperrten Lasters herunter, bekam die Tür auf und machte sich mit Drahtzangen an den Drähten zu schaffen, wie er es als Arbeiter im Umgang mit großen Werkzeugen gelernt hatte. So löste er die Blockierung der Räder. Dann schlich er zum nächsten Wachturm, kletterte geräuschlos hoch und gab dem Gewehrträger mit einem Stock eins über den Kopf. Dasselbe machte er auf dem zweiten Turm. Seine kurze Erfahrung mit Ch’ins Leuten hatte ihn gelehrt, einem Gewehrträger keine Chance zum Reagieren zu lassen. Dieser Teil des Drahtzaunes war von den anderen zwei Türmen nicht völlig einzusehen, also war der Weg frei. Var schnitt sich mit einer Metallschere eine Öffnung. Er kroch hindurch, bewaffnet mit einer Handfeuerwaffe und einer Taschenlampe, die er dem zweiten Posten abgenommen hatte.

Die Gladiatoren wurden in einer versperrten Hütte gehalten, in der es nach Exkrementen roch. Var benutzte Schraubenzieher und Brecheisen und öffnete die Tür mit minimalem Geräuschaufwand. Die Insassen würden ihn zwar hören, aber nicht verraten, das wußte er. Aber vielleicht würden sie versuchen, ihn zu überwältigen und zu fliehen. Er mußte auf alles gefaßt sein.

Er trat die Tür ein, ließ den Lichtstrahl nach drinnen gleiten und hielt sich im Hintergrund. »Ich habe eine Pistole«, sagte er im einheimischen Dialekt und auf amerikanisch: »Kommt einzeln heraus und seid leise – wenn euch die Freiheit lieb ist!«

»Var der Stock!« sagte der Herr sofort, ganz leise, denn er wußte wohl, daß die Turmposten sie nicht hören durften. Seine Gestalt wurde im Eingang sichtbar. »Willst du mir mit einem Gewehr entgegentreten?«

Die vertraute Stimme bewirkte, daß ihn ein Schauder überlief, doch Var antwortete mit Festigkeit: »Nein. Wir sind nicht im Ring. Du hast gelobt mich zu töten, weil du glaubtest, ich hätte deine Tochter getötet. Das habe ich nicht. Ich werde dich zu ihr führen.«

Eine lange Pause trat ein. »Nicht meine Tochter – seine«, sagte der Herr schließlich. Und neben ihn trat Sol, ein ernster Schatten. »Wir dachten es uns, als man uns den Jungen beschrieb, der mit dir unterwegs war. Aber wir wußten es nicht mit Sicherheit, und du bist immer weitergelaufen. Wir mußten dir nach.«

Die ganze Jagd war also umsonst gewesen. Var hätte Soli zum Herrn bringen, oder sie Sol sehen lassen können, damals, als sie im Ring zusammentrafen, und der Eid wäre nichtig gewesen. Nicht einmal der Kampf um den Berg wäre davon beeinflußt worden, da Bob sich ja an das Abkommen nicht gehalten hatte. Was für eine Ironie!

Var sah auf und entdeckte, daß der Herr in Reichweite vor ihm stand. Aber natürlich würde der Waffenlose niemals außerhalb des Ringes zuschlagen, schon gar nicht gegen jemanden, der diese Konvention teilte. Und hätte er den Kodex verletzen wollen, dann hätte er etwas nach ihm werfen können. Doch das Fehlen des Daumens hinderte ihn wohl daran.

»Ich hätte dich fragen sollen«, sagte der Namenlose. »Schon am Tage, nachdem du fortgingst, wußte ich, daß ich falsch gehandelt hatte – denn du hattest ja nur getan, was ich dir auftrug. Es war der Berg Helicon, der uns beide betrog. Und der auch Sol betrog, denn er wußte nicht, daß man sein Kind geschickt hatte. Er wußte es nicht, ehe er von ihrem Tod erfuhr.«

Var fiel ein, daß Soli gesagt hatte, ihre Eltern wären ahnungslos gewesen, denn Bob sage nie die Wahrheit, und sie hätte nur mitgemacht, weil er das Leben ihrer Eltern bedrohte. Ein abscheulicher Handel – die Rache des Herrn der Unterwelt für den Angriff der Nomaden. »Und er ist gekommen, sie zu rächen?«

»Um sie zu begraben. Gerächt hatte er sie schon, als er Bob tötete und Helicon in Brand setzte. Sosa verschwand in diesem Gemetzel. Ihm blieb nur mehr übrig, Soli zu begraben, doch er konnte sie nicht finden. Und er kam, und wir trafen einander und beredeten alles. Und du warst schon wieder weg mit deiner… Schwester.«

Sie vergeudeten Zeit. »Komm mit«, sagte Var. »Sie ist in – in einer Schule. Es wird nicht ohne Komplikationen abgehen.«

Und es war, als hätte es nie Zwist zwischen ihnen gegeben. Sie kamen alle: Der Herr, Sol und vier andere Gladiatoren von sehr unterschiedlichem und groteskem Äußeren. Var führte sie durch die Lücke im Zaun, vorbei an den Tierkäfigen, bereit, die Tiere freizulassen, falls es Alarm gäbe. Fast enttäuschte es ihn, daß alles glattging. Sie kletterten auf den Laster, und Var startete ihn per Kurzschluß.

*

Kaiser Ch’in war mit seinem Gefolge eingetroffen, als die Wagenladung voller Gladiatoren sich bemerkbar machte und in verdächtiger Nähe des Schulgeländes parkte. Überall sah man Uniformierte. Ein Frontalangriff wäre der reinste Wahnsinn gewesen. Und man konnte ja nicht wissen, wie Soli sich zu alldem stellen würde.

»Sie wollte gar nicht auf die Schule?« fragte der Herr. »Ihr genügte es, mit dir auf Wanderschaft zu sein?«

»Das hat sie gesagt«, mußte Var gestehen. »Vor einem Jahr. Aber seither ist sie erwachsen geworden… «

»Warum sollte deswegen die Situation anders sein? Möchtest du wieder mit ihr umherziehen?«

Er wurde von schrecklicher Ungewißheit erfaßt. »Ich weiß es nicht.«

»Von diesem Ch’in habe ich gehört. Handelt es sich nicht um eine sehr günstige Heirat?«

»Ja.«

»Aber du möchtest nicht, daß es dazu kommt?«

Vars Verwirrung stieg. »Ich möchte mit ihr reden. Wenn sie Ch’in wirklich heiraten möchte – «

Der Herr brummte: »Wir werden sie dem Test unterziehen.«

Sie verbrachten die Nacht auf dem Laster im Wald. Die chinesischen Gladiatoren machten sich zielstrebig auf die Suche nach Nahrung und Treibstoff und genossen die Lage ungemein. Der Herr befragte Var über jeden Aspekt seines Zusammenseins mit Soli, während Sol, schweigsam zuhörte. Var spürte, daß er gar nicht wußte, was in den Köpfen dieser Männer vor sich ging. Was Soli betraf, so waren ihre Reaktionen undurchschaubar. Möglich, daß von ihnen kein Mitgefühl mit seinen Sehnsüchten und Träumen zu erwarten war.

Und er mußte feststellen, daß er seine Handlungsfreiheit verloren hatte, seitdem er diese Männer freigelassen hatte. Der Herr beherrschte die gesamte Gruppe, und ließ seine Überlegenheit leuchten. Var aber erkannte in diesem Mann die Eigenschaften wieder, die Soli zu dem machten, was sie war und was sie für ihn eigentlich so anziehend gemacht hatte – und doch leugnete der Herr, sie gezeugt zu haben. Also wollte die Verwirrung kein Ende nehmen.

Var spähte klopfenden Herzens vom Laster hinunter, während die anderen sich davon machten, um bei der Abschlußfeier zuzusehen. Vibrierend vor Ungeduld, endlich aktiv zu werden, war er doch hilflos und abhängig von den Motiven anderer und seiner eigenen Beweggründe nicht sicher.