XIV

Sie marschierten den ganzen Winter über nach Norden und langten schließlich im Frühling weit jenseits des Bereichs der Irren an. Hier trafen sie auf völlig Fremde: Männer und Frauen, die Feuerwaffen und Bogen trugen, aber keine richtigen Waffen. Ihnen war der Kampf im Ring unbekannt, und sie lebten in Bauten, die primitiven, baufälligen Herbergen glichen. Um diese Häuser zu beheizen, verbrannten sie Holz, denn es gab keinen elektrischen Strom. Zur Beleuchtung dienten ihnen rußige Öl-Laternen. Sie sprachen einen unangenehm klingenden Dialekt und benahmen sich nicht sehr entgegenkommend. Es schien, als bilde jede Familie eine Insel für sich, bestellte ihre eigenen Äcker, jage in ihrem Revier und lasse alle Fremden unbehelligt. Man griff sie nicht an, half ihnen aber auch nicht weiter.

Noch immer war ihnen der Herr auf der Spur. Er fiel einen Monat zurück, holte sie dann aber fast bis auf Sichtweite ein und zwang ihnen ein schnelleres Tempo auf. Und nun begleitete der Schweigsame, mit dem Var gekämpft hatte, den Namenlosen. Die gelegentlich auftauchenden Gerüchte und Nachrichten beschrieben ihn so treffend, daß Var ihn identifizieren konnte. Soli sagte er von all dem kein Wort. Wenn sie gewußt hätte, daß ein Krieger dieser Qualität sich dem Herrn angeschlossen hatte…

Hatten die beiden miteinander gekämpft, und der Herr hatte den Fremden zum Angehörigen des Imperiums gemacht? Oder hatten sie sich nur zusammengetan, um mit vereinten Kräften den Unbilden des gefährlichen Hinterlandes zu trotzen?

Sommer. Das Land blieb zerklüftet, und die Verfolgung ging weiter. Soli war größer und kräftiger geworden. Sie wuchs sehr schnell und stellte sich sehr geschickt an. Von Var lernte sie, wie man im Wald mit Ranken Schlingen legte und kleines Getier fing. Wie man es abhäutete und ausnahm. Wie man Feuer anmachte und das Fleisch briet. Sie lernte, wie man eine Fallgrube anlegte und wie man sehr behaglich auf einem Baum schlafen konnte. Ihr Haar wuchs dicht und schwarz, und sie wurde ihrer leiblichen Mutter immer ähnlicher.

Soli lehrte ihn als Gegenleistung, was sie an waffenlosen Kampfgriffen von Sosa gelernt hatte und auch die ihr von Sol, ihre ihrem Vater erklärten Kampfstrategien. Denn beide wußten, daß der Herr sie schließlich doch einholen würde, und daß Var dann den entscheidenden Kampf ausfechten mußte. Der Namenlose würde den Kampf erzwingen.

»Aber es ist besser, wenn wir laufen, solange es geht«, sagte sie. Ihre Haltung hatte sich diesbezüglich im Laufe der Monate geändert. »Der Waffenlose besiegte Sol im Ring vor langer Zeit, als ich noch klein war, und Sol war der beste Kämpfer seiner Zeit.«

Var fragte sich, ob Sol so gut gewesen war, wie der Stockkämpfer, der nun mit dem Herrn ging, aber diese Überlegung behielt er für sich.

»Es war der Waffenlose, der meinen Vater auf die Kehle hieb, so heftig, daß er die Sprache verlor«, sagte sie, als wäre es ihr eben eingefallen. »Und doch sagt man, sie wären Freunde gewesen.«

»Sol kann nicht sprechen?« Vars ganzer Körper geriet ins Zittern, als in ihm der Argwohn wuchs. Plötzlich fiel ihm die Geschichte ein, die sie ihm auf dem Plateau erzählt hatte. Wie ihr Vater verletzt worden war und seine Sprache verloren hatte.

»Nein, er kann es nicht. Der Unterwelt-Chirurg wollte ihn operieren, aber Sol duldete das Messer nicht. Es war, als hätte er das Gefühl, er müßte diese Wunde weiterhin tragen. So hat Sosa es mir erzählt. Ich sollte nicht darüber sprechen, sagte sie noch.«

Var dachte an den hübschen Fremden, den Meister mit dem Stock.

Er glaubte nun zu wissen, wer dieser Mann war. »Was würde dein Vater wohl tun, wenn er glaubte, du wärest tot?«

»Ich weiß nicht. Diese Überlegung stelle ich nicht gern an, deswegen lassen wir das lieber. Er fehlt mir, und es tut mir richtig leid – « Doch sie ließ den Gedanken unvollendet. »Bob würde es ihm wahrscheinlich nicht sagen. Ich glaube, Bob tat so, als hätte man mich hinaus auf Erkundung geschickt und ich wäre nicht zurückgekommen. Bob sagt fast niemals die Wahrheit.«

»Aber wenn Sol herausfände – «

»Ich glaube, er würde Bob töten und – «Ihr blieb der Mund offen. »Var daran habe ich ja nie gedacht! Er würde aus der Unterwelt ausbrechen und – «

»Ich bin ihm begegnet«, sagte Var unvermittelt. »Als du krank warst. Wir kannten einander nicht. Und jetzt geht er mit dem Herrn.«

»Sol ist der Gefährte des Namenlosen? Das hätte mir von Anfang an klar sein müssen. Aber das ist ja herrlich, Var! Sie sind wieder beisammen. Sie müssen wirklich Freunde sein.«

Var erzählte ihr nun alles übrige. Wie er mit Sol gekämpft hatte und versucht hatte, ihn dem Herrn entgegenzuschicken. Auch von der sonderbaren Großmut des anderen berichtete er. »Ich hatte ja keine Ahnung«, schloß er. »Ich habe ihn vor dir ferngehalten.«

Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange. Eine beunruhigend weibliche Geste. »Du wußtest es nicht! Und du hast für mich gekämpft?

-Du kannst zu ihm zurück.«

»Wie gern würde ich das«, sagte sie. »Aber was würde aus dir?«

»Der Herr hat geschworen, mich zu töten. Ich muß weiter.«

»Wenn Sol mit dem Waffenlosen geht, muß er mit ihm eines Sinnes sein. Jetzt wollen sie dich beide töten.«

Var nickte bedrückt.

»Ich liebe meinen Vater mehr als alles andere«, sagte sie langsam. »Aber ich werde nicht zulassen, daß er dich tötet, Var. Du bist mein Freund. Du hast mir Wärme auf dem Gipfel gespendet, du hast mich vor Krankheit und Schnee gerettet.«

Er hatte gar nicht gewußt, daß sie diesen Dingen so große Bedeutung beimaß. »Du hast mir auch geholfen«, meinte er rauh.

»Laß mich noch ein Stück mit dir gehen. Vielleicht finde ich eine Möglichkeit, mit meinem Vater zu reden, und es gelingt ihm, den Namenlosen von der Jagd auf dich abzubringen.«

Var war ihr für diesen Entschluß überaus dankbar, doch war er nicht imstande, dieses Gefühl genauer zu analysieren. Vielleicht war es der Hoffnungsschimmer auf Versöhnung mit seinem Wohltäter, dem Herrn. Vielleicht war es auch nur, weil er nicht mehr allein wandern wollte. Aber größtenteils war es die Treue, die sie nun bewies, eine Treue, die ein verstecktes, aber mächtiges Bedürfnis in ihm füllte, das ihn elend sein ließ, seitdem der Herr sich von ihm abgewandt hatte. Einen Freund zu haben, ja, das war das Allerwichtigste.

Im Norden vor ihnen lag nun die See und versperrte ihnen mit ihrer salzigen Weite den Weg. Die Verfolger rückten immer näher. Die abweisenden Eingeborenen gaben ihnen mit zynischer Befriedigung zu verstehen, daß sie in der Falle saßen. Im Westen und Süden war das Meer; im Norden der ewige Schnee und im Osten zwei zu allem entschlossene Krieger.

»Als einziges bleibt der Tunnel«, murmelte ein Ladeninhaber mürrisch.

»Tunnel?« Var dachte an den Untergrundbahn-Tunnel in der Nähe des Berges. In einer solchen Röhre konnte man sich gut verstecken. »Strahlung?«

»Wer weiß das? Da kommt niemand mehr heraus.«

»Aber wohin führt der Tunnel?« fragte Soli.

»Hinüber nach China vielleicht.« Mehr wollte er ihnen nicht sagen. Mehr wußte er wahrscheinlich auch gar nicht.

»In China gibt es auch ein Helicon«, sagte Soli später. »Es heißt zwar anders, aber es ist dasselbe. Manchmal tauschten wir mit denen Nachrichten aus. Über Funk.«

»Aber wir kämpfen gegen den Berg!«

»Der Namenlose kämpft gegen ihn. Oder hat ihn bekämpft.

Sol nicht. Wir nicht. Und es handelt sich um ein anderes Helicon. Vielleicht können wir von dort aus mit Sol Kontakt aufnehmen. Ich weiß nämlich in etwa, wo es liegt.«

Var blieb schwankend, hatte aber keine bessere Alternative anzubieten. Falls es einen Fluchtweg gab, mußte er ihn ausprobieren.

Der Tunneleingang war riesig, so groß, daß er dem größten Irren-Traktor Platz geboten hätte, ja sogar mehreren nebeneinander. Die Decke war gewölbt, die Wände etwas gekrümmt, ob mit Absicht oder als Folge eines beginnenden Zusammenbruchs, konnte Var zunächst nicht beurteilen. Aber bei näherer Untersuchung erwiesen sich die Wände als völlig verläßlich. Den Boden bedeckte eine feste Schmutzschicht, Metallschienen waren nicht vorhanden. Es war ein dunkles Loch.

»Wie die Unterwelt«, sagte Soli ungerührt. »Hinter dem Vorratsraum liegt eine alte Untergrundbahn mit Ratten darin. Ich spielte dort einige Male, aber Sosa sagte, der Bereich könnte strahlenverseucht sein.«

»Ja, das war er«, sagte Var.

»Woher weißt du das?«

Er berichtete von seinem Erkundungsgang. »Aber der Herr sagte, sie würde es ihnen sagen, und man würde uns Fallen stellen. Deswegen haben wir keinen Gebrauch davon gemacht.«

»Sie hat nichts gesagt. Bob wußte von der Untergrundbahn, doch er sagte, die Geigerzähler hätten angezeigt, daß der Tunnel unpassierbar sei. Deswegen befürchtete er von dieser Seite nichts. Als du dann kamst, war die Strahlung sicher schon geringer, aber Sosa verriet kein Wort.«

Also hätten sie über diesen Weg eindringen können! Warum hatte Sosa nichts verraten?

Dann fiel es ihm ein: Sos – Sosa. Irgendwann in der Vergangenheit war sie seine Frau gewesen, und sie mußte ihn immer noch lieben. Deswegen hatte sie nichts verraten. Aber er glaubte, sie hätte es gesagt, und als Folge davon hatte der Kampf an der Oberfläche begonnen. Nur eine Ironie unter vielen.

Soli zündete eine ihrer zwei Laternen an und marschierte voran. Var blieb nichts übrig, als ihr zu folgen.

War es möglich, daß diese große Röhre tatsächlich den ganzen Ozean unterquerte? Wie schützte man sich da bloß vor Wassereinbrüchen?

Und warum kam niemand mehr heraus, wenn doch einige hineingegangen waren? Wenn Strahlung der Grund dafür war, dann würde er rasch dahinterkommen. Doch er fürchtete, daß es einen anderen Grund dafür gab. Im Randgebiet der Strahlung gab es, wie er wußte, viele andere Gefahren. Tiermutationen, angefangen von todbringenden Faltern bis zu Riesenamphibien und harmlosen Formen wie dem leuchtenden Sperling. Und was würde es hier geben?

Tief drinnen im Tunnel waren die Wände mit Fliesen ausgelegt.

Das war sauber und viel schöner als das kahle Metall und Beton. Die Eingeborenen mußten die Fliesen in der Nähe des Ausgangs herausgerissen und für ihre Zwecke verwendet haben, hatten sich aber nicht weiter hineingewagt. Auch der Schmutz auf dem Boden wurde geringer, so daß sie nun auf der feinen grauen Fläche eines im Detail rauhen Materials marschierten, das aber als ganzes herrlich glatt war. Zum Laufen hervorragend geeignet, weil die Füße darauf gut hafteten.

Aber wie lange konnte es so weitergehen? Nach einem flotten Marsch von einer Stunde fragte er Soli: »Wie weit erstreckt sich der Ozean?«

»Jim hat mir eine Karte gezeigt. Er sagte, das wäre der Pazifik, und der ist zehntausend Meilen breit.«

»Zehntausend Meilen! Um da rüberzukommen, brauchen wir Jahre!«

»Nein. Das solltest du besser wissen. Du kannst doch rechnen. Wenn wir in einer Stunde vier Meilen zurücklegen, dann sind das an einem Tag nach zwölf Stunden fast fünfzig Meilen.«

»Also zwanzig Tage für tausend Meilen«, meinte er, nachdem er bedächtig nachgerechnet hatte. »Und für zehntausend Meilen – über sechs Monate. Und unsere Vorräte reichen kaum eine Woche!«

Sie lachte. »Hier in dieser Gegend ist die Entfernung nicht so groß. Vielleicht sogar weniger als hundert Meilen. Ich bin da nicht so sicher. Ich glaube, der Tunnel führt in gewissen Abständen an die Oberfläche, der Frischluftzufuhr wegen, und zwar auf den kleinen Inseln. Wir müssen die ganze Entfernung also nicht in einem zurücklegen.«

Var hoffte, daß sie recht hatte. Der Tunnel war künstlich angelegt, und seine feine Nase witterte bereits die Trockenheit, das Abgestorbene. Und wie sollten sie entkommen, wenn ihnen Gefahr begegnete?

So ging es eine weitere Stunde dahin. Soli schwang ihre Laterne, so daß die grotesken Schatten Kapriolen schlugen. Var war mittlerweile klargeworden, was ihn am meisten beunruhigte. In jenem anderen Tunnel, dem Untergrundbahntunnel, hatte es gewimmelt vor Leben, trotz der Strahlung. Und hier gab es weder das eine noch das andere. Var wußte, daß das Leben sich überall Einlaß verschaffte und an einem so geschützten Ort wie diesem hier hätte in irgendeiner Form gedeihen müssen. Warum war der Tunnel so sauber? Es mußte einen Grund dafür geben. Mäuse konnten hier nicht aufräumen, denn es waren nirgends Kotspuren zu sehen.

Sie legten eine kurze Rast ein und aßen und tranken und hinterließen die Abfälle ihres Stoffwechsels auf dem Boden, da sie sie nirgends vergraben konnten. Und weiter ging es.

Und dann kam ihnen plötzlich ein Ungeheuer entgegen. Es grollte und zischte, während es sich auf sie zu bewegte. Wasser schoß aus seinem Leib, und es war in Dampf gebadet. Ein gewaltiges Auge durchstach die Dunkelheit mit Licht.

Var erstarrte momentan vor Entsetzen. Dann aber gewannen seine Instinkte die Oberhand. Er wich zurück, drehte sich um, wollte loslaufen.

»Nein!« rief Soli, doch er beachtete sie nicht. Und weil er lief, lief sie mit – und faßte nach ihm, daß er hinfiel. Beide fielen, und der sich schnell nähernde Schein fiel auf sie. »Maschine!« schrie sie. »Von Menschen gemacht. Die tut keinem Menschen etwas!« Jetzt war das Ding schon so nahe, daß Sie nicht mehr davonlaufen konnten. Der Lärm war betäubend und erfüllte den Raum.

»Aufstehen!« rief Soli. »Zeig, daß du ein Mann bist!« Und das meinte sie wörtlich.

Var gehorchte, unfähig, einen eigenen Gedanken zu fassen. Menschen konnten ihm kaum Angst einjagen, doch ein Ding dieser Art hatte er noch nie erlebt.

Soli nahm seine Hand und blieb neben ihm stehen. »Stehenbleiben!« rief sie der Maschine zu und winkte mit einer Hand. Doch das Ding hielt nicht an.

»Seine Erkennungsanlage muß kaputt sein!« rief sie und war über dem Getöse kaum zu hören, obwohl ihr Mund knapp an seinem Ohr war. »Es erkennt uns nicht!«

Var wußte jetzt, warum der Tunnel so sauber war. Das aus dem Ding herausspritzende Wasser war vermutlich eine chemische Lösung wie die Irren sie zur Reinigung verwendeten, eine Substanz, die alles Organische abtötete und auflöste. Und Menschen waren organisch.

Ein Entkommen war unmöglich. Das Ungeheuer füllte den Tunnel ganz aus und sprühte seine Chemikalien gegen Seitenwände und Decke. Die vorderen Fegeeinrichtungen saugten Schmutz in einen Trichter und vernichteten ihn. Sie konnten weder daran vorbei, noch konnten sie davonlaufen. Sie mußten den Kampf aufnehmen.

Und dann war es da.

Var hob Soli hoch und warf sie über den Trichter. Als er sah, daß ihr Körper an der Maschine Halt fand, sprang er selbst.

Er landete hart auf der Maschine und kämpfte darum, sein Bewußtsein nicht zu verlieren. Er breitete die Arme aus, und als er gegen etwas Weiches stieß, faßte er danach und zog es an sich. Mit der anderen Hand ertastete er einen Metallstab, an dem er sich festhielt.

Soli hielt er fest umfaßt. Den Körper an den warmen Scheinwerfer gedrückt, die Füße gegen den oberen Rand des Trichters gestützt, so fuhren sie auf der Maschine dahin.

Kaum fühlte er sich in seiner Stellung halbwegs sicher, untersuchte er Soli… Sie war völlig schlaff. Er rückte sie nun so zurecht, daß ihr Kopf von seinem gestützt wurde. Dann legte er das Ohr an ihren Mund und spürte einen kleinen Luftzug, der bewies, daß sie noch am Leben war. Er besah Kopf und Körper so gut es eben ging – abwechselnd von dem grellen Licht geblendet und ins Dunkel getaucht – und konnte kein Blut an ihr entdecken. Sie lebte und war unversehrt, und falls die Gehirnerschütterung nicht zu schwer war, würde sie rechtzeitig wieder zu sich kommen. Er mußte sie bloß sicher und fest halten, bis die Maschine stehenblieb.

Er veränderte seine Position ein wenig und kauerte sich an den Trichterrand. Vor ihm wirbelten die Bürsten, hellbeleuchtet von der Lichtflut, und aus Düsen strömte Wasser, doch in der Luft lag noch immer Staubgeruch. Etwas Unsichtbares surrte und mahlte im Inneren des etwa metertiefen Trichters, etwas, das ihn an mahlende Zähne erinnerte. Er achtete darauf, nicht mit den Füßen in den Trichter zu geraten, da er mit Sicherheit wußte, daß er hier höchst gefährdet über einem gräßlich Tod kauerte. Wieder verlagerte er Soli, und legte sie quer über seine Schenkel, wobei er ihre Schultern mit der freien Hand stützte und ihre Beine mit seinem Bein. Er wollte verhindern, daß sie in diesen bedrohlichen Schlund geriet.

Seine Muskeln ermüdeten, verkrampften sich, doch er veränderte seine Stellung nicht. Er wußte, daß es bei dieser Geschwindigkeit nicht mehr lange dauern konnte und merkte es am zusammengepreßten Schmutz, wo die Maschine stehenbleiben mußte. Sie reinigte nur bis dahin und aus irgendeinem Grund nicht weiter. Und wenn sie anhielt, konnten sie herunterspringen und waren frei. Sie würden die ersten sein, die diesem grausigen Tunnel entkamen.

Es dauerte eine knappe halbe Stunde, und ein Licht wurde sichtbar, das blasse Oval des Eingangs jenseits der Reichweite des Lichtstrahles der Maschine. Das Fahrzeug kam keuchend zum Stehen, und seine eng zusammengedrängten Passagiere wurden in Dampf gehüllt. Var mußte entdecken, daß seine Füße eingeschlafen waren.

Soli war noch immer bewußtlos. Hilfe war von nirgendwoher zu erhoffen. Veränderte er jetzt seine Lage, dann rutschte er vermutlich samt Soli in den grauenvollen Trichter.

Die Maschine erbebte. Die wassersprühenden Düsen stellten sich ab. Das Mahlwerk zu Vars Füßen stellte die Tätigkeit ein, er sah jetzt, daß seine Ängste begründet waren. Aber jetzt konnte er wenigstens hinuntersteigen auf diese Getriebe, ohne daß ihm die Füße zerquetscht wurden. Damit würde er den Kreislauf in den Beinen wieder in Schwung bringen und konnte Soli hinunterheben.

Das Licht erlosch, und es blieb nur der blasse Schimmer vom Ausgang her. Die Maschine setzte sich ruckartig wieder in Bewegung, diesmal in die andere Richtung. Soli rollte weg, und Var mußte sie fest packen, und bis er sie wieder sicher gelagert hatte, hatten sie schon zuviel Fahrt. Sprang er nun mit seinen kribbelnden Beinen und ihrem Gewicht ab, würden sie sich beide verletzen.

Doch das Mahlwerk blieb ruhig. Für die Rückfahrt war es offenbar nicht eingeschaltet worden, auch die Sprühanlage und der Scheinwerfer nicht. Var bewegte einen Fuß abwärts und ließ sodann Soli hinuntergleiten. Das wiederkehrende Gefühl in den Beinen verursachte ihm zwar Schmerzen, doch nun standen sie sicher und bequem im Trichter und legten so den Rückweg zurück.

Aber warum kam sie nicht zu sich? Er bekam es mit der Angst zu tun. War sie mit dem Kopf allzu unsanft gegen den Scheinwerfer gestoßen und hatte einen Gehirnschaden davongetragen? Er hatte erlebt, daß Krieger, nachdem sie schwere Hiebe auf den Kopf bekommen hatten, daraufhin an geistiger Zerrüttung litten. Falls Soli ähnliches widerfahren war…

Immer weiter fuhr das Reinigungsfahrzeug und kehrte dorthin zurück, woher es gekommen war. Var, der sich völlig hilflos fühlte, hielt Soli fest im Arm und schlief ein.

Helles Licht riß ihn ruckartig aus seinem Schlummer. Die Maschine stand im Freien. Soli lag bewußtlos in seinem Arm.

Die Maschine hielt an, und plötzlich waren Menschen da. Erst waren es Männer mit merkwürdigen Waffen – nein, nein, das mußte Werkzeug sein – und dann große bewaffnete und in Rüstungen steckende Frauen, die ihn und Soli neugierig anstarrten. Manche trugen runde Scheiben aus bearbeitetem Leder, so daß ein Arm behindert und im Kampf nicht zu gebrauchen war.

»Seht euch das an!« rief eine verwundert. »Ein Bartgesicht und ein Kind!«

Var sagte zunächst nichts, da er Verdruß witterte. Diese Frauen hier waren aggressiv, kriegerisch, unweiblich, kurz, anders als alle, die er bisher gesehen hatte. Ihre Neugier schien nicht freundlichen Ursprungs. Wie Vögel sahen sie aus in ihren Metallhelmen.

Soli rührte sich nicht.

Die Haltung der Frauen ließ nichts Gutes ahnen.

Es war, als heckten sie irgendeine Scheußlichkeit aus. Var zog seine Stöcke hervor.

Sofort waren Bogen zur Hand, Pfeile mit Metallspitzen wurden aus verschiedenen Richtungen auf ihn gerichtet. Dagegen konnte er sich nicht schützen, und mit der noch immer bewußtlosen Soli war seine Lage schlechthin hoffnungslos. Er ließ seine Waffen fallen.

Die schweigsamen Männer kletterten auf die Maschine und machten sich mit ihren Geräten daran zu schaffen. Offenbar warteten sie das Fahrzeug, so wie die Irren ihre Traktoren warteten und sie nach jeder Fahrt einer Kontrolle unterzogen. Das war auch der Grund, warum diese Maschine noch funktionierte, obwohl ihre Schöpfer längst dahin waren.

»Heraus da!« rief die stämmige Frau, die hier wohl das Sagen hatte. In einer Hand hielt sie einen Speer, in der anderen einen Schild.

Var kam der Aufforderung nach und hob Soli behutsam herunter.

»Das Kind ist krank!« rief jemand. »Tötet es!«

Mit einem Arm hielt Var Soli umfaßt. Mit der anderen packte er die Anführerin der Weiber und bekam sie an den Haarflechten zu fassen. Er zerrte sie zu sich her und riß dabei ihren Kopf so stark nach vorne, daß ihr Nacken blank vor ihm lag. Ihr Schild war ihr im Weg und machte ihre verzweifelten Befreiungsversuche unwirksam. Var ließ mit gefletschten Zähnen ein Knurren ertönen.

»Erschießt ihn!« rief die Gefangene.

Doch die Bogenschützinnen zögerten. Sonderbar. »Dieser da sieht aus wie ein richtiger Mann«, sagte die eine. »Die Königin würde höchst ungehalten sein.«

»Wenn meine kleine Freundin stirbt, dann zerfleische ich diesen Nacken!« drohte Var. Sein Atem streifte den Nacken, den er gebeugt vor sich hielt. Und das war keine leere Drohung. Er hatte seine Zähne schon oft als natürliche Waffe benutzt, mochten sie auch stumpf und plump verglichen mit den Zähnen der Raubtiere sein.

Eine andere trat vor. »Laß unsere Herrin frei. Wir werden das Kind gesundpflegen.«

Var stieß die Geisel von sich. Die faßte sich sofort und rieb sich den Nacken. »Schafft ihn zur Königin«, befahl sie.

Eine der Frauen machte Anstalten, ihm Soli abzunehmen. Var aber ließ es nicht zu. »Sie bleibt bei mir. Erst müßt ihr mich töten, denn ich töte jeden, der ihr etwas tut.« Vor langer Zeit hatte er Solis leiblicher Mutter einen Schwur geleistet, aber das allein war nicht der Grund dafür, daß er jetzt so sprach. Nein, Soli war für ihn sehr wichtig geworden, und er wollte sie nicht verlieren.

Sie gingen nun auf Wasser zu. Var sah, daß sie sich auf einer kleinen Insel befanden, die nur so groß war, daß sie als Auftauch- und Endpunkt für den Tunnel ausreichte. Die Reinigungsmaschine stand da, und kühlte zischend aus, während die Mechaniker sich über sie hermachten. In dieser Kultur waren die Männer die Irren, und die Frauen Nomaden-Krieger, so hatte es jedenfalls den Anschein. Nun, ihm sollte es recht sein.

Hinter der Maschine sah er ein Stück ebenes Land, das sich im weiteren Verlauf zu einer gewaltigen Brücke aus Metall und Stein erhob. Sie überspannte eine ungeheure Wasserfläche und verlor sich irgendwo außer Sichtweite in der Ferne.

Auf dem Wasser schwamm ein Boot. Var und Soli hatten solche Wasserfahrzeuge im Verlauf ihrer Wanderung schon gesehen und begriffen ihren Zweck, doch hatten sie noch nie eines von so nahe zu sehen bekommen. Dieses Boot war aus Metall, und Var verstand nicht, warum es auf dem Wasser schwamm, da doch Metall schwerer war als Wasser, wie er wußte.

Er wehrte sich zunächst gegen das Einsteigen, wußte aber, daß es keine andere Alternative gab. Offenbar befand sich die Königin nicht auf diesem Atoll. Und wenn er zuviel Widerstand leistete, würden er und Soli sterben.

Das Boot schwankte hin und her, als sie einstiegen. Var sah nun, daß das unterste Deck eigentlich unter der Wasseroberfläche lag. Eine der Frauen zog an einer Leine, und der Motor erwachte scheppernd und prustend zum Leben. Dann glitt das ganze Ding weg vom Dock hinaus aufs freie Wasser.

Erstaunlich, daß außer Irren und Unterweltlern andere Menschen auch Motoren besaßen und beherrschten.

Das Boot durchpflügte den Ozean. Var, für den die schwankende Bewegung ungewohnt war, fühlte bald Übelkeit aufsteigen. Doch er setzte diesem Gefühl erbitterten Widerstand entgegen, da er wußte, daß jedes Zeichen von Schwäche ihn und Soli in Gefahr brachte. Wie lange würde Soli noch bewußtlos sein? Ohne sie fühlte er sich seltsam unbehaglich und verlassen.

Das Boot glitt parallel zur Riesenbrücke dahin. Träger und Pfeiler, ähnlich denen, die den Berg Helicon einfaßten, ragten aus dem Wasser, kreuzten sich in dieser und jener Richtung und bildeten so ein richtiges Verwirrspiel fürs Auge. Und doch waren die Träger planmäßig und funktionell. Sie dienten dazu, die hoch oben verlaufende Straße zu stützen. Irgendwo in diesem Gewirr war nämlich die Straße verborgen. Var konnte sie bloß von unten nicht sehen. Er hätte zu gern gewußt, warum die Amazonen nicht zu Fuß gingen, anstatt über das gefährliche Wasser dahinzurasen.

Nach einiger Zeit nahmen sie direkten Kurs auf die Brücke. Er sah einen großen Brückenbogen, unter dem ein Stück Wasserfläche frei war. Und in dieser Trägerwölbung hing etwas, das einem monströsen Hornissennest glich, ein Ding aus Holz und Seilen, verwoben mit Metall- und Glasstücken und anderen Materialien, die Var nicht erkennen konnte.

Darunter kam nun das Boot zum Halten, an einer Stelle, wo eine Glasglocke wenige Fuß über der Wasserfläche hing. Eine Strickleiter wurde heruntergelassen, die Frauen kletterten behende hinauf und verschwanden im Inneren.

Var mußte mit Soli hochklettern. Er legte sich die Kleine über die Schulter und faßte mit einer Hand nach der Leiter. Die geriet jedoch ins Schwingen und es sah fast so aus, als wäre sie nicht anstände, die doppelte Last zu tragen.

Nun denn, wenn sie riß, würde er schwimmen. Er war ohnehin nicht begeistert von der Aussicht, den Bienenstock betreten zu müssen. Diesen gepanzerten Weibern traute er nicht. Sprosse um Sprosse hantelte er sich und seine Last hoch, jedes Seilstück bedachtsam mit den unbeholfenen Fingern umfassend. Das Seil hielt die Last aus.

Die Leiter führte durch ein rundes Loch und war über einem metallenen Querstück befestigt. Var hielt sich daran fest und fand mit den Füßen auf einer Bretterplattform Halt. Er ließ Soli heruntergleiten. Sie befanden sich in einem engen Raum, dessen Seitenwände sich nach außen wölbten. Metallfolie war hier das am häufigsten verwendete Element.

Er sah jetzt, daß es noch andere Leitern gab. Und jede Etage war etwas größer als die vorhergehende, weil die Wände nach außen gewölbt waren. Er sah Türen und dazwischenliegende Kammern, mehr konnte er im Vorbeiklettern nicht ausmachen.

Schließlich standen sie in einem großen Raum mit anschließenden Kammern, ähnlich dem Hauptzelt des Herrn.

Auf einem Thron aus Rohrgeflecht saß die Königin: Aufgebläht, häßlich, ältlich, mit Juwelen behangen. Sie trug ein Kleid, dessen Gewebe funkelte und schimmerte. Von einem hohen steifen Kragen fiel es weit bis zu den dicken Fesseln. Vorne stand es offen.

Angeekelt wandte Var den Blick ab.

Waffen bedrohten ihn. »Fremdes Bartgesicht, sieh die Königin an!«

Er mußte hinsehen. Das gehörte wohl zum Protokoll. Sie erinnerte ihn an ein Figürchen, daß der Herr ihm einmal gezeigt hatte: An eine Fruchtbarkeitsgöttin, ein Kunstwerk der Alten. Der Herr hatte erklärt, daß in manchen Kulturen eine solche Figur als der Inbegriff der Schönheit gelte. In Vars Augen aber wurden die weiblichen Attribute ins Gegenteil verkehrt, wenn sie derart groteske Proportionen annahmen.

»Zieht ihn aus«, sagte die Königin.

Wieder mußte Var rasch einen Entschluß fassen. Er konnte kämpfen, allerdings nicht sehr wirkungsvoll, während er Soli im Arm hielt, und beide würden verwundet oder gar getötet werden. Oder aber er ließ es sich gefallen, daß ihn diese Weiber auszogen. Nacktheit stellte für ihn kein starkes Tabu dar, doch wußte er, was es für andere bedeutete, und er wußte auch, daß diese Forderung eine Beleidigung darstellte. Dennoch -

Er gab nach. »Ihr habt versprochen, daß ihr für meine Freundin sorgen werdet«, sagte er.

Die Königin vollführte eine gebieterische Geste, die ihre verschiedenen anatomischen Bestandteile in ein gewaltiges Beben versetzten. Eine Unbewaffnete trat vor und nahm ihm Soli ab. Sie legte sie auf einen Diwan aus Strohgeflecht und untersuchte Soli unter Vars nervösen Blicken, während die bewaffneten Frauen ihm die Kleider vom Leibe streiften.

»Also ist er tatsächlich unversehrt«, sagte die Königin mit einem Blick, als begutachte sie ein Tier.

Die Pflegerin, die sich Solis annahm, sagte: »Gehirnerschütterung. Sieht nicht ernst aus. Prellung im Nacken, wahrscheinlich ist ein Nerv eingeklemmt. Der lockert sich mit Sicherheit wieder.« Sie befeuchtete Solis Gesicht mit Wasser aus einer Schüssel.

Das Mädchen stöhnte auf. Das war der erste Ton, den sie von sich gab, seitdem sie auf das Kehrfahrzeug gesprungen waren. Var wurde vor Erleichterung ganz schwach in den Knien. Wenn sie noch stöhnen konnte, dann konnte sie auch wieder gesund werden.

»Stark sieht er aus«, sagte die Königin. »Aber fleckig. Brauchen wir Gefleckte?«

Niemand gab ihr Antwort. Die Frage war wohl nur rhetorisch gemeint.

Gleich darauf entschied sie. »Ja, wir versuchen mal einen.« Sie machte Var ein Zeichen. »Deine Königin will dich beehren. Komm her.«

Von Speerspitzen vorwärts gestoßen, ging Var auf sie zu. Er hatte so eine Ahnung, was sie meinte, und er fand die Vorstellung ausgesprochen widerlich, doch die Waffen, die um ihn herum starrten, ließen jeden Protest vergeblich erscheinen. Er sah, daß Soli sich aufsetzte, und wollte zu ihr. Wenn seine Chanren nur ein wenig besser gestanden hätten! Allein hätte er einen Ausbruchsversuch gewagt. Jetzt aber wollte er keinen Wirbel machen, der dem noch benommenen Mädchen womöglich geschadet hätte.

Unmittelbar vor der fetten Königin blieb er stehen. Aus der Nähe war sie noch abstoßender. Bei jedem Atemzug geriet ihr Fett ins Wabbeln. Ein feuchter unnatürlicher Geruch umgab sie.

Sie faßte mit ihrer grotesken Hand nach ihm. »Ja, deine Königin wird sich deiner einmal bedienen, jetzt – und nach ihr keine Frau mehr.«

Jetzt war eine Mißdeutung ihrer Absichten nicht mehr möglich. Var handelte. Er drehte sich blitzschnell zu seinen Bewacherinnen um, packte ihre Waffen und stieß damit die Frauen zu Boden. Er bekam den Griff eines Kampfbeiles zu fassen und hob die Klinge gegen die Königin.

Die Posten wichen zurück, denn auch seine Absicht war nicht mißzuverstehen. Er hätte den Schädel der Königin spalten können, noch ehe sie Hand an ihn legen konnten.

»Bringt sie her!« rief Var und wies auf Soli. Hoffentlich würden sie nicht auf die Idee kommen, seine Drohung zu erwidern, indem sie Soli bedrohten.

Bogen wurden hochgenommen, Pfeile auf ihn gerichtet. Var hielt das Beil mit beiden Händen über der Königin. Auch wenn ein Dutzend Pfeile ihn durchbohrten, würde er sie mit sich in den Tod nehmen.

Soli kam zu ihm, geschwächt zwar, aber immerhin auf eigenen Beinen. Ihre zwei Stöcke hatte sie immer noch. Sie waren von ihren Bewachern unbemerkt geblieben.

Da blitzte etwas auf. Var sprang zurück, als die Königin mit ihrem juwelenbesetzten Stilett auf ihn losging.

In diesem Augenblick der Verwirrung sah Var die Pfeile auf sich zukommen. Einer streifte sein Bein. Die Kriegerinnen kamen drohend näher.

Wutentbrannt sprang Var die Königin an und spaltete ihr den Schädel, das Beil mit beiden Händen schwingend. Ein Schreckensschrei erhob sich. Hinzusehen brauchte Var gar nicht. Ein Blick auf die blutige Klinge sagte alles.

Er packte Solis Arm und hechtete mit ihr in die anschließende Kammer gleich hinter dem Thron. Erst folgte ihnen niemand. Die Frauen waren noch geschockt vom Tod der Brut-Königin.

Eine Leiter war zur Hand. »Klettern!« rief er Soli zu, und sie kletterte wortlos hoch. Var blieb mit dem Beil in der Hand stehen, bereit, einen Angriff abzuwehren. Er war sicher, daß ihm selbst nicht die Chance bleiben würde, hochzuklettern.

Und dann, als die aufgebrachten Amazonen näher rückten, hieb er auf die Halterungen der Rohrgeflecht-Tür ein. Die Tür sank zusammen, und der darunterliegende Boden sackte ab. Er hackte weiter, bis ein ganzer Materialhaufen ihn vor den Verfolgern schützte. Dann sprang er zur Leiter.

Soli erwartete ihn bereits auf der nächsten Etage. »Wo sind wir?« fragte sie jämmerlich.

»In einem Ameisenbau!« keuchte er und zog sie durch die nächste Tür. »Ich habe eben die Ameisenkönigin getötet!«

Sie kamen nun in den zweiten großen Raum. Hier saßen Männer und flochten Körbe. Nackt, schwammig – Var sah sofort, daß es Kastraten waren. Kein Wunder, daß die Frauen von dem so überraschend aufgetauchten männlichen Wesen fasziniert waren. Sie bekamen nur selten einen nicht verstümmelten Mann zu sehen!

So harmlos, ja mitleiderregend diese Männer waren, die Amazonen waren es nicht! Schreiend stürzten sie durch die Tür herein.

Wieder liefen Var und Soli los. Aber der nächste Raum war ein kleines Kämmerchen, direkt an der sanften Kurve der Außenwand. Sie saßen in der Falle.

»Feuer!« rief Soli.

Var verwünschte sich, daß er selbst nicht eher daran gedacht hatte. Er suchte hastig nach seiner kostbaren Streichholzschachtel und nach Kerosin. Dieser trockene Bienenkorb würde lichterloh brennen.

Aber seine Streichholzpackung war nicht mehr vorhanden. Sie lag mit seinen Kleidern in der Thronhalle der Königin.

Aber Soli machte bereits Feuer mit der Packung aus ihrem Sack. Und als die ersten Kriegerinnen hereinstürzten, zündete sie eben eine Kerosinpfütze auf dem Boden an.

Die Amazone stürmte schreiend durchs plötzlich aufflammende Feuer. Var streckte sie mit einem Beilhieb nieder. Der Schild rollte weg. Feuer leckte an ihrem Körper.

»Wir sind in der Falle, Var!« schrie Soli. Im Moment war er so froh, sie körperlich und geistig unversehrt bei sich zu haben, daß er den Sinn ihrer Worte gar nicht beachtete. Die hektische Aktivität mußte sie vollends aus der Bewußtlosigkeit gerissen haben.

»Wir verbrennen!« schrie sie ihm ins Ohr.

Das wirkte. Er ging an die Wand und fing wie wild zu hacken an. Die Fasern waren zäh, und mehrmals schlug die Axt gegen Metall, aber schließlich glückte es ihm, eine Öffnung ins Freie zu schlagen.

»Schnell!« rief Soli, und er warf ihr während seiner Arbeit einen Blick zu. Zu seiner Verwunderung sah er, daß das Feuer bei weitem nicht alles verzehrte. Nur das Kerosin brannte! Soli stand dahinter, beide Stöcke in der Hand und wehrte alle Amazonen ab, die hindurch wollten. Zum Glück verhinderte die Enge des Raumes den wirksamen Einsatz von Pfeilen. Bald aber würde die Flüssigkeit verbrannt sein, und die Schar der aufgebrachten Weiber würde heranrücken. Einige versuchten sich bereits mit den Schilden gegen Solis Stöcke zu schützen.

»Durch das Loch!« rief Var ihr zu. Soli gehorchte blitzschnell, während er ihr Deckung gab.

Er hieb auf einem vorstoßenden Speer ein und schlüpfte selbst nach draußen, kaum daß ihre Füße verschwunden waren. Als er den Kopf hinaussteckte, sah er weit unter sich Wasser. Er hatte völlig vergessen, wie hoch sie sich befanden! Wie sollten sie so tief hinunterspringen?

Wo steckte Soli? Er sah sie weder an der Wand noch unten im Wasser. Wenn sie hinuntergefallen und ertrunken war…

»Hier!«

Er sah hoch. Sie klammerte sich an die Stützstruktur oberhalb des Loches.

Die Antwort auf ihr Problem hieß Klettern. Ja, sie konnten entlang des Seiles, das die gesamte Rahmenkonstruktion hielt, entkommen!

Ein behelmter Kopf zeigte sich im Loch. Soli langte herunter und hieb lässig mit dem Stock darauf. Der Kopf verschwand.

Sie kletterten weiter, wobei Var das Beil zwischen den Zähnen hielt. Es war leichter als damals vor langer Zeit der Aufstieg zum Bergplateau. Die Seile und Streben ließen sich gut anfassen, und die beiden gerieten allmählich in die Horizontale.

Ganz oben öffnete sich eine Tür, und ein Kopf erschien. Var holte mit dem Beil aus und der Deckel klappte sofort zu. Nun gehörte das Dach ihnen.

Das Seil, an dem der Bau hing, war viel dicker, als es zunächst aus der Ferne ausgesehen hatte. An der schmälsten Stelle maß es vier Fuß im Durchmesser. Die dicht miteinander verwobenen Fasern waren aus Metall, Nylon und Gummi.

Var hatte eigentlich geplant, dieses Halteseil durchzuschneiden und den gesamten Bau ins Wasser fallen zu lassen. Diesen Plan konnte er getrost aufgeben. Seine bereits schartige kleine Axt würde das nicht schaffen.

Sie erklommen die Seilsäule. Soli trug noch immer ihren schweren Packranzen, weil sie bislang keine Zeit gehabt hatten für Veränderungen. Glücklicherweise war dieser Abschnitt nur kurz. Var konnte nicht abschätzen, wie lange sie nach ihrer Bewußtlosigkeit diese Anstrengung aushalten konnte. Und falls die Amazonen sich wieder zeigten und ihre Pfeile auf sie abschössen…

Die Frauen tauchten auf, aber zu spät. Var und Soli hockten auf dem massiven Stahlträger, an dem der Bau hing, unerreichbar für die Pfeile. Sie waren in Sicherheit. Sie mußten jetzt nur noch nach oben zu der über die Brücke führenden Straße gelangen, und sich davonmachen, das war alles.

Nun, nicht ganz. Ein kalter Wind machte Var arg zu schaffen. Er mußte neue Kleider auftreiben und dazu Wandervorräte. Und neue Waffen. Das Beil war nicht ganz sein Fall, so nützlich es sich auch erwiesen hatte.

Er kroch voraus zu einem schräg geneigten Träger, der in den Irrgarten von Verstrebungen führte. Die wütenden Rufe der Amazonen verklangen, und ihre Pfeile blieben zurück. Er fragte sich, warum sie ihnen nicht folgten. Sicher wußten sie, wie man auf die eigentliche Brücke gelangte, da sie ja ihren Bau innerhalb der Konstruktion angesiedelt hatten.

Seine Haut brannte. Zunächst dachte er, es wäre der kalte Wind. Dann aber erkannte er das untrügliche Zeichen der Strahlung.

»Zurück!« rief er, Soli konnte es nicht spüren, würde aber bald die Wirkungen merken. »Strahlung.«

Sie zogen sich auf eine saubere Stelle zurück, wo einander schneidende Träger eine Art Korb bildeten. Jetzt wußten sie, warum die Amazonen von einer Verfolgung abgesehen hatten. Die Frauen mußten auf harte Weise erfahren haben, daß die Brücke unpassierbar war. Wahrscheinlich hatten sie ihren so verwundbaren Bau an die einzige Stelle verlegt, von der sie wußten, daß sie dort vor Eindringlingen sicher waren.

Var wußte, was er vorfinden würde. Die vor ihnen liegende Brücke würde gesättigt sein von Strahlen, die sie zu einem unbetretbaren Gelände machten. Wahrscheinlich war auch etwas Strahlung zwischen dem Bau und der Insel, wo der Tunnel auftauchte – und falls nicht, dort würden die Amazonen mit gespannten Bogen warten.

Soli, die sich bisher so tapfer gehalten hatte, gab nun auf. Sie legte den Kopf an Vars Schulter und weinte. Das hatte sie schon seit Monaten nicht mehr getan.

Der Wind war kälter geworden, und die Nacht rückte näher.