V

Var kannte die Bedeutung des goldenen Armreifs sehr wohl. Er war das Produkt der Handwerkskunst der Irren und wurde von ihnen verteilt. Sie kosteten den Träger nichts und unterschieden sich durch nichts von Tausenden anderen. Doch der Reif wies ihn nicht nur als Mann aus, nein, er diente auch als Freibrief dafür, eine Frau wählen zu dürfen, eine Frau für eine Nacht oder für ein Jahr oder gar für ein ganzes Leben. Er mußte den Armreif nur um das zarte Gelenk eines Mädchens seiner Wahl legen, und sie war sein – vorausgesetzt, sie war einverstanden. Es hieß, daß die meisten Mädchen geschmeichelt waren, wenn man ihnen den Reif anbot und daß sie bemüht wären, ihn so lange als möglich zu behalten. Und ihnen lag besonders daran, mittels des Armreifs Söhne zu gebären, denn so wie der Mann sich im Ring bewies, so bewies sich eine Frau durch ihre Fruchtbarkeit. Das Land brauchte immer mehr Menschen.

Das große Zelt war eine Standardeinrichtung. Jedes Lager hatte ein solches Zelt, in dem alleinstehende Krieger wohnten und in dem ledige Mädchen sich für sie bereithielten. Im Winter wurde der Hauptraum von einem großen Feuer erwärmt, während die Paare, die die Räume am Rande belegten, sich lieber auf ihre Schlafsäcke und die gegenseitige Wärme verließen.

Var war überzeugt, er würde zu letzteren gehören. Und es war ja noch Sommer.

Es dämmerte, und die Lampen brannten bereits. Das allgemeine Abendessen war eben vorüber. Var, den sein eben errungener Name mutig machte, war ohnehin nicht hungrig.

Und da waren die Mädchen und rekelten sich auf selbstgefertigten Einrichtungsstücken. Die Irren stellten zwar alles bereit, was der Krieger brauchte, doch galt es ungehörig, unverdiente Waren in Anspruch zu nehmen. Im allgemeinen zogen die Nomaden Selbstgemachtes vor.

Er ging auf das nächste Mädchen zu. Sie trug ein reizvolles Wickelkleid, das vorne mit einer Silberschließe zusammengehalten wurde. Dieses Kleid war Zeichen dafür, daß sie zugänglich war. Sie hatte langes Haar, das ihr üppig über die Schultern fiel. Ihre Figur war erstklassig: Hohe Brüste, wohlgeformte Schenkel.

Er sah sie fragend an, legte die Rechte auf seinen Armreif und wollte ihn vom Arm streifen. Das war eine bewährte Technik. Er hatte oft gesehen, wie die Krieger sie im Zelt des Herrn anwandten.

»Nein«, sagte sie.

Var hielt mitten in der Bewegung inne. Hatte er sie mißverstanden? Am liebsten hätte er sie gefragt, doch vermied er lieber jedes Wort. Worte waren unnötig. Seitdem er mit dem Herrn beisammen war, hatte er die Sprache erlernt oder vielmehr wiedererlernt. Nun verstand er zwar alles, doch Mund und Zunge waren nicht imstande, die Silben richtig wiederzugeben.

Also ging er ein wenig verärgert zur nächsten. Auf eine Weigerung war er nicht gefaßt gewesen, und er wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Das zweite Mädchen war etwas jünger, mit helleren Haaren. Eigentlich sah sie viel besser aus als die erste. Er faßte wieder nach seinem Reif.

Sie sah ihn gleichgültig an. »Kannst du nicht sprechen?«

Verlegen preßte er das Wort hervor: »A-m-rreif.« Armreif. In seinem Bewußtsein sah er es deutlich vor sich.

»Scher dich fort, Tölpel!«

Var wußte nicht recht, was er tun sollte, deswegen nickte er einfach und ging weiter.

Keines der Mädchen war interessiert. Manch eine zeigte ihm ihre Verachtung mit niederschmetternder Unverblümtheit. Schließlich kam eine ältere Frau auf ihn zu. Sie trug bereits einen Reif. »Krieger, du verstehst es wohl nicht, deswegen will ich es dir erklären! Ich habe dich kämpfen gesehen. Glaube mir, daß ich dich nicht kränken möchte.«

Var war überglücklich, daß wenigstens eine ihn respektvoll behandelte. Dankbar hörte er ihr zu.

»Diese Mädchen hier sind noch jung«, sagte sie. »Die kennen keine Plackerei, haben noch keine Kinder geboren, haben wenig Erfahrung. Die sind nur aufs Vergnügen aus. Du – nun ja, du bist fremd hier und deswegen sind sie mißtrauisch… Und du bist ein noch unerfahrener Krieger, deswegen sehen sie dich von oben herab an. Und – das muß ich dir sagen – du bist nicht hübsch anzusehen. Das spielt im Ring zwar keine Rolle, aber hier ist es von Bedeutung. Eine Frau mit Erfahrung könnte Verständnis dafür aufbringen, aber diese vergnügungssüchtigen jungen Gänse niemals. Sie können nichts dafür. Die Zeit bringt es mit sich, daß sie anders werden – ähnlich einem Krieger. Auch ein Krieger kann Fehler machen.«

Var nickte. Ihre Worte bereiteten ihm zwar eine Enttäuschung, dennoch war er dankbar, obgleich er nicht alles verstand. »Wer – «

»Ich bin Tyla, die Frau des Anführers. Ich wollte dir das alles nur begreiflich machen.«

Er hatte sie eigentlich fragen wollen, an welches Mädchen er sich denn am besten wenden sollte, doch nun war er froh, daß er wußte, wer diese hilfsbereite Frau war.

»Geh zurück in dein Heimatlager, wo man dich kennt«, sagte sie. »Tyl kann dich nicht leiden, und damit stehen deine Chancen hier noch schlechter. Es tut mir leid, daß ich dir deinen großen Abend verderben muß, aber so ist es nun einmal.«

Jetzt hatte er begriffen. Er war hier nicht erwünscht. »Dank«, brachte er hervor.

»Viel Glück, Krieger. Dir wird die Richtige noch begegnen. Und das Warten wird sich lohnen. Hier hast du nichts verloren.«

Var verließ das Zelt.

Erst als die kühle Nachtluft ihn umfing, kam die Reaktion. Er war hier nicht erwünscht. Im Lager des Herrn hatte man ihn liebevoll aufgenommen, und niemand hatte ihm gesagt, er wäre häßlich. Trotz seiner Kindheit und des Lebens in der Wildnis hatte er das Gefühl, seinen Platz in der Welt der Menschen zu finden. Jetzt wußte er, daß man ihn beschützt hatte, nicht körperlich, sondern menschlich. Und heute war er mit der Erreichung der Mannbarkeit der Wahrheit begegnet. Er war noch immer ein Kind der Wildnis, zum Leben mit den Menschen nicht geschaffen.

Zunächst war er so verlegen, daß ihm die Hitze in den Kopf stieg und seine Hände zitterten. Wie unbefangen er seinen schimmernden jungfräulichen Armreif angeboten hatte!

Und dann packte ihn der Zorn? Warum das alles? Welches Recht hatten diese gezähmten Menschen, so über ihn zu urteilen? Er hatte versucht, sich ihren Regeln anzupassen, und nun lehnten sie ihn ab. Und dabei hätte keiner von ihnen im Ödland lange überlebt.

Er holte seine schimmernden Metallstöcke hervor und wog sie liebevoll in der Hand. Ja, damit konnte er gut umgehen. Er war nun ein Krieger. Und er brauchte sich von niemandem mehr etwas gefallen zu lassen. Er betrat den Ring und schwenkte seine Waffen.

»Kommt und kämpft mit mir!« rief er. Er wußte, daß seine Worte nur als Gestammel herauskamen, doch das störte ihn nicht. »Ich fordere euch alle heraus!«

Aus einem kleinen Zelt trat ein Mann. »Was soll der Lärm?« Tyl war es, der Lagerführer, in einem groben wollenen Nachthemd. Der Mann, der Var bereits so deutlich seine Abneigung gezeigt hatte. Var konnte sich nicht erinnern, ihm jemals zuvor begegnet zu sein – obgleich der Mann natürlich unter den gaffenden Zuschauern gestanden haben mochte, die ihn neugierig angestarrt hatten, als der Herr ihn aus dem Ödland mitgebracht hatte.

»Was machst du da?« fragte Tyl und kam näher. Ein gelber Haarschopf baumelte seitlich an seinem Kopf.

»Komm und kämpfe mit mir!« rief Var. Die Bedeutung seiner Worte war unmißverständlich.

Tyl war wütend, aber er betrat den Ring nicht. »In der Dunkelheit wird nicht gekämpft«, sagte er. »Und außerdem möchte ich nicht mit dir kämpfen, wenn es mir auch ein großes Vergnügen wäre, dir deinen häßlichen Schädel blutig zu schlagen und dich heulend durch die Felder zu jagen. Also hör auf, dich wie ein Narr aufzuführen!«

Felder? Var spürte eine undeutliche Erinnerung aufsteigen.

Nun fanden sich andere ein, Männer, Frauen, aufgeregte Kinder. Sie starrten Var an, und er empfand, daß er jetzt eine noch viel lächerlichere Figur machte als vorhin im großen Zelt.

»Laßt ihn in Ruhe«, sagte Tyl und suchte mit einem beinahe komischen Schwenken seines Schopfes wieder sein Zelt auf. Die anderen zerstreuten sich, und bald stand Var wieder allein da. Seine Kampflust hatte alles nur noch viel schlimmer gemacht. Niedergeschlagen ging er nun dorthin, wo er Trost, wenn auch noch so zynisch vorgebracht, finden konnte; er suchte das einsam stehende Zelt seiner Reisegefährtin auf, der Frau des Herrn.

»Ich befürchtete, daß es so kommen würde«, sagte sie sonderbar leise. »Ich werde zu Tyl gehen und ihm sagen, er solle dir ein Mädchen aussuchen. Du sollst nicht um diese Nacht betrogen werden.«

»Nein!« rief Var aus, entsetzt, daß nun eine Frau bei einem Feind für ihn Fürsprache einlegen wollte. Menschliche Sitten und Gebräuche waren ihm zwar fremd, doch dies war eine Schande, das spürte er genau.

»Auch das habe ich vorausgesehen«, sagte sie philosophisch gelassen. »Deswegen ließ ich mein Zelt in einiger Entfernung vom Hauptlager aufstellen.« Var verstand nichts mehr.

»Komm herein, leg dich nieder«, sagte sie. »Es ist nicht so arg, wie du glaubst. Ein Mann bewährt sich nicht an einem einzigen Tag oder während einer Nacht. Die Jahre sind es, die seinen wahren Wert zeigen.«

Var kroch ins Zelt und legte sich neben sie. Er kannte diese Frau eigentlich nicht sehr gut. Während all der Jahre, die der Herr seiner Ausbildung gewidmet hatte, hatte sie sich stets abseits gehalten und ihn bloß im Rechnen unterrichtet. Dank ihr konnte er nun bis hundert zählen und einfache Rechnungen ausführen. Diese Rechnungen waren in seinen Augen schwierig und sinnlos. Er hatte die Stunden gehaßt, und Sola hatte das Ihre getan, daß er sich besonders dumm vorkommen mußte. Doch der Herr hatte darauf bestanden. Vars Begegnungen mit ihr hinterließen keinen besonders positiven Eindruck.

Wie erstaunt war er daher, als man sie beauftragte, ihn zur Männlichkeitsprobe zu begleiten – oder hatte sie es sogar freiwillig getan? Eine Frau! Es sollte sich zeigen, daß sie auch in den Angelegenheiten der Männer sehr bewandert war. Sie war sehr gut zu Fuß, so daß sie täglich eine hübsche Strecke zurücklegten, und sie kannte den Weg. Als sie Fremden begegnet waren, hatte sie das Reden übernommen. Die Nächte hatten sie in den Herbergen verbracht, obwohl ihm zum Übernachten noch immer ein Baum viel lieber war. Sie hatte sich abseits gehalten, hatte jedoch beim Duschen ihren Körper nicht ganz verhüllt und auch nicht, als sie sich für die Nacht umzog, und das hatte ihn nicht wenig gequält. Seine Natur war tierhaft. Jede Frau, auch wenn sie so alt war wie diese, reizte ihn. Und sie kannte seine Herkunft und wußte um seine tierhafte Sinnlichkeit.

Und nun, in diesem fremden, abweisenden Lager, durch seine Mißerfolge zutiefst gekränkt, war er zu ihr gekommen, zu seinem einzigen Kontakt mit seinem einzigen Freund, dem Herrn.

»Du hast also die jungen Mädchen gefragt und sie haben dich ausgelacht«, sagte sie. »Ich hätte dir Besseres gewünscht, aber ich war schließlich selbst jung und ebenso beschränkt. Damals hielt ich Macht für das Wichtigste, Macht und die Ehe mit einem Führer. So verlor ich den Mann, den ich liebte, und jetzt bereue ich es.«

So hatte er sie noch nie reden gehört. Var lag still da. Im Augenblick genügte es ihm zuzuhören. Das war besser, als an seine Demütigung denken zu müssen. Sie meinte damit natürlich ihren früheren Mann Sol aller Waffen, der sein Imperium an den Herrn verloren hatte und mit seinem Töchterchen zum Berg gegangen war. Diese Episode war bereits Legende geworden. Alle wußten um diese Machtübergabe und um den tragischen Selbstmord von Vater und Tochter.

Wenn Sola Macht so sehr geliebt hatte, daß sie dafür den geliebten Mann und das Kind, das sie ihm gebar, aufgeben konnte, und den Sieger in ihr Bett genommen hatte, dann war es kein Wunder, daß sie nun litt. »Komm, bringen wir die Sache hinter uns«, hörte er sie sagen.

Er glaubte eine Zurechtweisung herauszuhören und wollte aus dem Zelt kriechen.

»Nein«, sagte sie leise und hielt ihn zurück. »Die Nacht ist dein, und du sollst sie in vollen Zügen genießen. Ich werde deine Frau sein.«

Verwirrt stieß Var einen gutturalen Laut aus. Hatte er sie richtig verstanden?

»Es tut mir leid, Var«, erklärte sie. »Ich war wohl zu direkt. Lege dich hin.«

Er legte sich wieder hin.

»Du wilder Junge«, fuhr sie fort. »Solange du keine Frau genommen hast, bist du kein Mann. So will es unser ungeschriebenes Gesetz. Ich bin mitgekommen, um dafür zu sorgen, daß du alle Bedingungen erfüllst. Ich habe – « sie ließ eine kleine Pause eintreten – »dies schon einmal getan. Vor langer Zeit. Mein Mann weiß es. Glaube mir, Var, obwohl dies nun aussieht wie eine Verletzung der Regeln, die wir dich lehrten, muß es so sein. Mehr kann ich dir nicht erklären. Aber eines mußt du begreifen, und mir etwas versprechen.« Nun mußte er sprechen. »Der Herr – «

»Var, er weiß es!« flüsterte sie voller Wildheit. »Aber er wird nie davon sprechen. Dies alles wurde vor etwa zehn Jahren entschieden. Und du mußt auch eines wissen: Ich bin älter als du, doch ich bin noch im gebärfähigen Alter. Der Namenlose ist steril. Wenn ich heute oder in den folgenden Nächten – erst wenn wir angekommen sind, ist Schluß – von dir ein Kind empfange, wird es das Kind des Namenlosen seien. Ich werde niemals deinen Reif tragen. Nach dieser Wanderung werde ich dich niemals wieder berühren. Nie werde ich ein Wort darüber verlauten lassen, was zwischen uns geschah, und du auch nicht. Sollte ich schwanger werden, wird man dich fortschicken. Du hast an mich keine Forderung zu stellen. Es wird so sein, als hätte es sich nie zugetragen, bis auf die Tatsache, daß du ein Mann sein wirst. Verstehst du?«

»Nein, nein«, stammelte er. Ganz übel war ihm schon vor Verlangen nach ihr.

»Du verstehst also.« Sie streckte die Hand aus und berührte seine Lenden. »Du verstehst.« Er verstand nur, daß sie ihm ihren Körper anbot, und daß er nicht die Kraft hatte abzulehnen. Er war in der Wildnis aufgewachsen. Die Willigkeit des Weibchens war der Befehl für das Männchen.

»Du mußt mir versprechen«, sagte sie, nahm seine unförmige Hand und führte sie an ihre Brust. »Du mußt versprechen… «

In ihm wuchs die Hitze und verdrängte alle eventuell noch vorhandenen Skrupel. Var wußte, daß er es tun würde. Vielleicht würde der Herr ihn töten, aber heute…

»Du mußt versprechen, daß du den Mann töten wirst, der meinem Kind Leid zufügt.«

Var überlief es eiskalt. »Du hast kein Kind!« stieß er hervor. Kein Kind, dem man etwas tun kann. Und wieder spürte er, wie grob und unbeholfen seine Worte waren. Er war noch immer ein Wilder.

»Versprich es mir.«

»Wie kann ich dir versprechen, wenn dein Kind schon seit langem tot ist?«

Sie brachte ihn mit dem ersten Kuß zum Schweigen, den er je bekommen hatte. »Sollte es jemals ein Kind geben, dann gilt dein Wort«, sagte sie.

»Ich verspreche es.« Was hätte er auch sagen sollen?

Nun ließ sie ihren Körper sprechen, diese angeblich so kalte und gleichgültige Frau. Trotz seiner Unerfahrenheit erkannte Var in ihr eine Wildheit, wie er sie noch nie gespürt hatte. Sie war heiß, sie war leidenschaftlich, sie war wild. Kein Wunder, daß man momentan vergessen konnte, daß sie in Wahrheit in mittleren Jahren war.

Als er kam, merkte er, daß es vielleicht sein eigenes Kind sein würde, daß er zu rächen gelobt hatte… anonym.