XVII

Soli hing am Felsen. Var lief zu ihr hin. »Du mußt mit mir gehen. Minos kommt!«

Sie schien nicht verwundert, ihn lebend wiederzusehen. »Ich weiß. Es ist fast Mittag.« Ihr helles Gesicht war gerötet von der Sonne, die Lippen aufgesprungen.

»Er will dich nicht töten! Aber er muß, wenn er dich hier vorfindet.«

»Ja.« Sie weinte wieder, doch er sah ihr an, daß sie ihre Meinung nicht geändert hatte.

»Ich kann ihn nicht daran hindern. Ich werde es versuchen, doch dann wird er uns beide töten.«

»Dann geh!« stieß sie hervor. »Ich habe es getan, um dein albernes Leben zu retten. Warum willst du es wegwerfen?«

»Warum?« schrie er zurück. »Ich sterbe lieber, als daß ich dich sterben sehe! Du hast mir damit nichts gegeben!«

Sie sah ihn an, ganz ruhig. »Sosa sagte mir, alle Männer seien Narren.«

Var erfaßte den Zusammenhang nicht. Aber noch ehe er etwas sagen konnte, ertönte ein Brüllen aus dem Labyrinth.

»Minos!« flüsterte sie entsetzt. »Var, bitte – geh! Für mich ist es jetzt zu spät.«

Im Höhleneingang hob sich der gewaltige Umriß des Gottes ab. Aus seinen Nüstern stieg Dampf auf.

Var warf sich auf Soli, als wolle er sie vor dem Angriff des Gottes schützen. Er wußte, daß dies vergeblich war, doch er wollte sie nicht im Stich lassen. Ganz fest hielt er sie, obgleich sie sich wehrte, und mit den Zähnen an seinen Kleidern riß. Schließlich drückte er ihren Körper fest gegen den Stein, so daß ihre Beine auseinanderglitten und sie wild um sich trat. »Ich verlasse dich nicht.« keuchte er in ihr wirres Haar.

Und dann brach ihr Widerstand zusammen. »Var, es tut mir so leid!« schluchzte sie. »Ich liebe dich, du Idiot!« Zeit zum Wundern blieb nicht. Er küßte sie wild und hörte schon das Hufgeklapper von Minos und spürte seinen Atemhauch.

Verzweifelt umarmten sie einander und ließen nun dem freien Lauf, was sich drei Jahre lang angebahnt hatte. Und alles das pferchten sie in diese letzten Augenblicke. Sie teilten ihre Liebe miteinander, schmerzlich und einzigartig.

Und Minos kam und hielt inne. Er ließ einen Laut ertönen, halb Wut und halb Gelächter, und ging weiter.

Erst jetzt merkte Var, was passiert war, und was Minos ihm andeutungsweise zu verstehen gegeben hatte.

Ja, er war ein Narr gewesen. Beinahe.

Vom Tempel her ertönten Schreie, während Var riß und stemmte und Solis Handfesseln zu lösen versuchte. Stein und Metall leisteten erbitterten Widerstand.

Er entdeckte einen rostigen Haken auf der Erde, klemmte ihn unter eine Halterung und schlug mit einem Stein darauf. Und schließlich gab eine Klammer zögernd nach. Doch das spitze Metallstück hatte sich verbogen und war nun unbrauchbar.

Der Lärm beim Tempel hatte sich gelegt. Nach einer Weile kam Minos wieder und schleppte zwei Körper mit sich. Var und Soli warteten voller Widerwillen.

Der Gott hielt an. »Die eine ist die Hohepriesterin«, erklärte er befriedigt. »Und die hat es verdient wie keine. Poetische Gerechtigkeit.« Er sah Soli an, die ihr Gesicht abwandte.

Minos faßte mit der freien Hand nach der hartnäckigen Fessel. Die Muskeln des großen Armes traten hervor, und das Metall sprang aus dem Fels, ließ Steinstaub sprühen und fiel zu Boden. Soli war frei.

Nun angelte der Gott ein kleines Päckchen aus seinem zerfetzten Gewand und gab es Soli, ja er zwang es in ihre widerstrebende Hand. »Ein Geschenk. Die ganze Sache war nie persönlich gemeint, aber jetzt bin ich richtig froh, daß du unwürdig geworden bist.« Soli gab keine Antwort und behielt das Päckchen. Und Minos marschierte mit seinen zwei Leichen fröhlich summend in sein Labyrinth. Er hatte allen Grund, vergnügt zu sein. Diesen Monat würde er reichlich zu essen haben.

»Wir müssen zusehen, daß wir hier wegkommen, ehe die drüben im Tempel sich von ihrem Schrecken erholen«, sagte Var.

»Komm.« Er nahm Solis Hand und führte sie fort.

Im Wald angekommen, zog er sein zerfetztes Hemd aus und legte es um sie. Es wirkte wie ein kurzes, sackartiges, aber nichtsdestoweniger attraktives Kleid, denn ihre nackten Beine waren fest, ihr Leib schlank und ihr Gesicht trotz des Sonnenbrandes hübsch.

Soli öffnete stumm und neugierig das ihr von Minos geschenkte Päckchen. Es enthielt zwei Schlüssel und ein beschriebenes Papier. Sie starrte das Zeug an.

»Wozu sind die Schlüssel?« fragte Var. »Wir haben kein Haus.«

»Die gehören zu einem Motorboot«, sagte sie und studierte das Papier.

An Bord des Bootes gab es Seekarten und große Treibstofftanks, Trinkwasser und massenhaft Konserven. Wie Minos das alles vorbereitet hatte, wußten sie nicht, doch hatte das Boot sicher schon lange bereitgelegen, ehe sie auf der Bildfläche auftauchten. Vielleicht hatte er selbst Fluchtpläne gehabt, die er dann wegen seiner biologischen Zwänge hatte aufgeben müssen. Oder vielleicht war er doch nicht so sehr ein Sklave des Tempels, wie er es dargestellt hatte. Möglich, daß er viele luxuriös ausgestattete Boote hatte, die im Verborgenen warteten…

Den Karten entnahmen sie, daß sie sich viel weiter südlich befanden, als sie angenommen hatten. Der Tunnel nach China – eigentlich nach Sibirien – lag noch weit weg. Sie befanden sich auf den Aleuten, von wo aus es nirgends hinging. Mit diesem starken Boot aber war eine Überfahrt möglich, wenn man der Inselkette bis zur Halbinsel Kamtschatka folgte. Von dort aus konnten sie entweder über Land nach Norden, Westen und Süden oder aber sie nahmen den Seeweg, die Inseln entlang bis Japan.

In Vars Kopf schwirrte es vor Namen, die Soli nannte. Diese unheimliche Karte war wie die Bücher des Herrn. Sie stammten aus der Zeit vor dem Brand und enthielten daher viel Unsinn. Manche Insel war vielleicht gar nicht mehr vorhanden.

Keiner der beiden schlug aber vor, den Rückweg einzuschlagen, am Amazonenbau vorbei, sodann weiter nach Alaska und weiter nördlich zum eigentlichen Übergang. Oder gar zurück nach Amerika. China war nun ihr festes Ziel, und das aus keinem vernünftigen Grund. Denn es hatte sich schon erwiesen, daß sie sich nur in ihrer eigenen Kultur wohl fühlten. Und falls der Herr ihnen noch immer auf den Fersen war, hätte er sie längst eingeholt haben müssen.

Sie konnten nach Hause zurückkehren, und Soli konnte sich dem Vater ihrer Wahl anschließen, und Var konnte wieder Krieger sein, und ihre Beziehung hätte ein Ende gefunden. Aber dann würden sie sich vielleicht nie mehr wiedersehen. Und so fuhren sie nach Westen.

Ein Sturm erhob sich, und sie legten in aller Eile an der Küste einer verlassenen Insel an. Dann kam wieder Schönwetter, und sie fuhren mit Höchstgeschwindigkeit und ließen das Boot zeigen, was es konnte.

Und mit der Zeit erschien ihnen der ganze zwei Jahre währende Aufenthalt auf Neu Kreta als etwas völlig Abgetrenntes, als unwirkliche Erinnerung. Soli wurde wieder das Kind von ehedem, Var der häßliche Krieger. Sie waren für die Liebe nicht bereit. Sie waren zwei Menschen, die ein gemeinsames Ziel verband und eine unausgesprochene Zuneigung.

So war es jedenfalls, wie Var es sah, obwohl es ihm weder so klar noch so bewußt war. Mehr als einmal ertappte er Soli, wie sie seinen Armreif anstarrte. Vielleicht dachte sie daran, wie sie den Reif für ihn gerettet hatte und dabei fast ihr Leben opferte. Es tat ihm richtig leid, daß er ihr gesagt hatte, wie töricht das war, denn es hatte sie sicher gekränkt – aber es stimmte. Hätte sie den Armreif verkauft, hätten sie die zwei Jahre auf Neu Kreta nicht auf sich nehmen müssen.

Und das führte ihn im Kreis zu einem anderen Punkt, jenem Umstand nämlich, den Minos hervorgehoben hatte. Konnte der Herr Solis natürlicher Vater sein? Ihm schien das nun unsinniger als damals in der Höhle, und Var brachte es nicht über sich, die Frage offen zu stellen. Wie würde Soli reagieren, wenn man die Vaterschaft Sols in Frage stellte? Sie liebte ihn über alles, und sie kannte den Herrn kaum. Und wenn es stimmte, wie würde der Herr reagieren, wenn er erfuhr, daß Var ihn angelogen hatte und ihn in dem Glauben gelassen hatte, seine Tochter hätte den Tod gefunden?

Die Weite des Meeres setzte sich unendlich fort, hypnotisch, schön und tödlich langweilig. Die spärlichen Inseln waren kahl, und ihre Lage entsprach nicht genau den Angaben der Karte. Sie wechselten sich am Steuer ab und richteten sich nach dem Kompaß, einer Meßeinrichtung, die immer nach Norden wies. Sie richteten sich auch nach den Sternen, und wann immer sie ein auf der Karte zu erkennendes Kennzeichen sahen, nahmen sie eine entsprechende Kurskorrektur vor.

Und wenige Tage, nachdem sie schon geglaubt hatten, der Ozean nähme gar kein Ende, sichteten sie das Festland von Asien.

Und die Menschen dort sprachen so, daß man sie nicht verstehen konnte.

»Ja, natürlich«, sagte Soli, als Antwort auf seine Verwirrung. »Sie sprechen chinesisch. Oder sie werden es sprechen, wenn wir in China ankommen. Nach der Karte ist es – nun, wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Zweitausend Meilen oder mehr, so schien es Var. Eine Reise von Monaten.

Sie hatten das Meer satt, aber der Landweg erschien ihnen noch unsicherer. Sie suchten sich einen Ort aus, an dem sie Treibstoff kaufen konnten, den sie mit Gegenständen aus dem Boot bezahlten und fuhren nun westwärts entlang der Kurilen, dann nach Norden ins Innere von Sachalin und schließlich zurück zur Mandschurei. Die wohlklingenden, aus der Zeit vor dem Brand stammenden Namen wirkten faszinierend.

Jetzt erschien ihnen der Landweg kürzer und sicherer. Da sie das Boot nicht mehr benutzten, mußten sie es loswerden. Sie entschlossen sich zum Verkauf. An einem Ort, wo sie ähnliche Boote sahen, erkundigten sie sich, bis schließlich ein alter Mann gefunden wurde, der ein wenig amerikanisch sprach.

»Amerika?« fragte er verwundert. »Kaputt – Brand.«

Mit der Zeit gelang es ihnen, ein paar Leute zu ihrem Boot zu lotsen, und in weiterer Folge wurde der Kauf perfekt. Soli hatte erwartet, daß man sie übers Ohr zu hauen, versuchte, doch sie hatten keine andere Wahl. Sie bekamen jedenfalls genug Geld, um sich die hier übliche Kleidung und die notwendigste Ausrüstung beschaffen zu können, dazu eine Art Fibel in der Landessprache, und dazu einen alten, vor dem Brand entstandenen Text mit amerikanischer Übersetzung.

Wieder machten sie sich zu Fuß auf Wanderschaft und bläuten einander die geschriebenen Symbole ein. Soli sagte, sie wären anders als die Schrift, die sie kannte, ergäben aber einen Sinn, sobald man sich an sie gewöhnt hätte. Und obgleich es viele gesprochene Dialekte gab, so daß Reisende wie sie ständig von neuem verwirrt wurden, war die geschriebene Sprache für das Gesamtgebiet gültig. Mit Hilfe dieser Symbole konnten sie sich stets einigermaßen verständigen, vorausgesetzt, sie trafen auf jemanden, der lesen konnte.

Die Landschaft erinnerte im großen und ganzen an das, was sie vom ändern Kontinent her kannten. Das Land war gebirgig, wild und durchsetzt mit strahlenverseuchten Gebieten. Die Eingeborenen in Küstennähe waren nach Art von Neu Kreta zivilisiert, zwar ohne Menschenopfer, dafür aber mit anderen kulturellen Problemen behaftet. Die im Landesinneren waren primitiver, ähnlich den Nomaden Amerikas, jedoch ohne die Segnungen der Irren-Technologie und ohne gut ausgestattete Herbergen. Die meisten ließen die Fremden in Ruhe, andere wieder waren kampflustig, aber kein Ring umschloß die Kämpfenden. Wären Var und Soli nicht imstande gewesen, sich selbst zu verteidigen, hätten sie nicht lange überlebt.

Sie folgten dem Amur flußaufwärts ins Landesinnere, nicht weil sie Wasser liebten, sondern weil er die beste Route war, die gewaltigen Gebirgsketten zu überwinden. Dort wo er nach Nordwesten bog, gingen sie auf einen großen Nebenfluß über. Monate vergingen, und schließlich erreichten sie den Rand des eigentlichen chinesischen Gebietes. Der chinesische Einfluß aber reichte wie der der Irren in Amerika über das gesamte riesige Gebiet, vielleicht sogar über den ganzen Kontinent. Die geschriebene Sprache einte die verschiedenen Völker auf subtile, aber zwingende Weise. Var, der die tatsächlichen Einschränkungen der scheinbar freien Nomadengesellschaft kennengelernt hatte, war überzeugt, daß ähnliche Faktoren auch hier wirksam waren. Ähnlich im Prinzip, wenn nicht gar im Detail. Es konnte sogar ein chinesisches Helicon existieren.

Doch je näher sie ihrem vorgeblichen Ziel kamen, desto angestrengter wurde ihre Kameraderie. Soli wurde zusehends weiblicher, und Var war dies überdeutlich bewußt. Manchmal faßte er nach seinem Armreif und dachte daran ihn ihr zu geben doch, dies rief ihm unweigerlich ins Gedächtnis, was damals geschehen war, als er seine Männlichkeitsprobe bestanden hatte. Mädchen in Solis Alter schätzten keine häßlichen Männer, und Var wußte, daß er einfach grotesk aussah.

Und sie war schön. Vielleicht war auch ihre Mutter Sola in der Hochblüte ihrer Mädchenzeit so gewesen, so reizvoll, daß die zwei mächtigsten Krieger der Zeit um ihre Gunst wetteiferten und ohne zu klagen, einer Lüge lebten.

Soli hatte darüber nie gesprochen, doch sie konnte kaum Wohlgefallen finden an seiner fleckigen Haut, seiner krummen Haltung und den plumpen Gliedern. Kindern war dies alles nicht so wichtig, doch sie würde nie wieder Kind sein.

Hin und wieder bekam Var die gebildeten Damen dieser chinesischen Kern-Kultur zu Gesicht. Wie künstliche Puppen waren sie, zart und entzückend, mit gemessenen Bewegungen und zurückhaltendem Auftreten. Den Gegensatz dazu bildeten die Landfrauen, untersetzte reizlose Tiere, mit gekrümmten Rücken und stumpfen Mienen.

Var wußte, daß das Wanderleben Soli nach der ländlichen Form prägen würde. Und dieser Gedanke war ihm unerträglich. Es nagte immer stärker an ihm, und immer wenn er eine alte Vettel sah, stellte er sich Solis Gesicht an ihr vor.

Je tiefer sie ins chinesische Kernland vordrangen, desto höher war der zivilisatorische Hintergrund. Die Menschen waren von gelblicher Hautfarbe, und hatten eine andere Augenform. Ihr Benehmen war so höflich, daß es einem Ritual nicht unähnlich war. Die Frauen der höheren Stände waren überaus wortgewandt.

Var erfuhr, daß sie Institute besuchten, in denen sie zu dieser Reife erzogen wurden, und die den Irren-Schulen ähnelten. Und als gebildete Damen verehelichten sie sich und rührten keine Arbeit mehr an. Die überließen sie dem Hauspersonal.

Var kam zu der Einsicht, daß dies für Soli das geeignetere Leben sei. Doch wußte er nicht, wie er ihr diese Philosophie verständlich machen könnte. Er befürchtete, sie könnte seine Absichten mißverstehen, deshalb unterließ er jeden Versuch.

Eines nachts, als sie neben ihm im Walde schlief, stand er verstohlen auf. Sie erwachte trotzdem. »Var?«

»Ich muß – du weißt schon«, sagte er und fühlte sich schuldbewußt wegen seiner Lüge. Um sie in Sicherheit zu wiegen, urinierte er lautstark gegen einen Baum und kauerte sich sodann nieder. Gleich darauf ging ihr Atem wieder gleichmäßig, und er schlich sich leise davon.

Er lief fünf Meilen zurück zu einer der Schulen, an denen sie an jenem Tag vorbeigekommen waren. Dort schlug er einlaßheischend ans Tor, bis er endlich einen alten Torwart aufgescheucht hatte, einen kurzsichtigen, graubärtigen, knochigen Mann, der sich gar nicht erfreut darüber zeigte, daß er zu dieser Stunde geweckt wurde. Var versuchte mit ihm zu sprechen, doch seine Worte waren offenbar dem falschen Dialekt entnommen und unverständlich. Doch konnte er dem Alten wenigstens verständlich machen, daß er die oberste Autorität der Schule zu sprechen wünsche. Grollend verzog sich der Mann ins Innere des Gebäudes, um nach der Vorsteherin zu suchen, während Var nervös vor dem Tor wartete.

Zehn Minuten darauf wurde er zur Vorsteherin vorgelassen. Er sah trotz ihres Nachthemdes, und des Umstandes, daß sie eben aus dem Bett kam, daß sie eine Frau von Verstand war. Ihr Gesicht war von Linien durchzogen, das Haar schimmerte schwarz.

Auch sie konnte ihn nicht verstehen, obgleich sie eine ganze Reihe von Dialekten beherrschte. Dann aber zeichnete sie ein Schriftzeichen auf ein Blatt Papier, und Var wußte nun, daß ihnen ein Verständigungsmittel gegeben war. Denn die Schriftsymbole waren hier allgemein gültig und hatten überall dieselbe Bedeutung ungeachtet des gesprochenen Dialektes oder der Sprache. Var war, was diese Symbole betraf, knapp an der Grenze des Lesen- und Schreibenkönnens. In den vergangenen Monaten hatte er mit Soli ein paar hundert davon erlernt, und konnte sie beim Einkaufen anwenden und wenn es darum ging, Schilder, wie beispielsweise »Achtung Strahlung!«, zu lesen.

Zwei Stunden lang wurden nun zwischen ihnen Nachrichten ausgetauscht. Am Ende dieses schweigsamen Dialoges hatte Var sich Solis Eintritt in die Schule erkauft. Und als Entgelt für den Unterricht sollte er Schwerarbeit für die Wirtschaftsabteilung des Institutes leisten.

Er beschrieb noch, wo sie sich aufhielt. Eine Schar Bewaffneter zog aus, sie zu holen. Var aber meldete sich im Keller zur Stelle, wo der Graubart ihm eine hölzerne Pritsche neben dem großen Heizofen anwies. Diesem Mann sollte er nun in allem zur Hand gehen.

Er hatte sie beide in eine Art Knechtschaft verkauft. Aber Soli würde daraus mit einer gesicherten Zukunft hervorgehen.

Es sollte einen Monat dauern, bis er sie wiedersah, denn er als Hausknecht hatte keinen Umgang mit den höheren Töchtern. Doch während er Holz und Torf herbeischleppte, neue Zaunpfähle einschlug oder Vorräte für die Küche heranschaffte und tausend Dinge tat, die der Alte zuvor irgendwie allein hatte tun müssen, kam ihm mancherlei zu Ohren. Er erlernte etwas von der hier gebräuchlichen Sprache und erfuhr so etwas vom neuesten Klatsch.

Man hatte in jener Nacht einen kleinen feuerspeienden Drachen ins Haus geschafft. Ein wildes Naturkind, das mit seinen Stöcken so verheerend um sich schlug wie ein geübter Kämpfer. Man hatte sie mit Feuerwaffen bedroht und sie hatte nicht nachgegeben. Einen Schuß auf sie abzugeben hatte niemand gewagt, da sie eingefangen und zur Dame ausgebildet werden sollte. Schließlich hatte man sie, nachdem es mehrere Verletzte gegeben hatte, mit einem Netz eingefangen.

Soli, Soli! Var tat das Herz weh, ob ihres Elends und schämte sich, daß er es eigentlich war, der dies alles über sie gebracht hatte. Aber wie konnte sie wissen, daß es zu ihrem Besten war und daß sie den Rest ihres Lebens mit Nichtstun verbringen sollte?

Der Alte schüttelte den Kopf. Ihm wollte nicht eingehen, warum man ein wildes Landmädchen, noch dazu eine Ausländerin mit heller Haut und runden Augen zur Dame ausbilden wollte. Aber recht hübsch war sie, wie er zugeben mußte, sobald man sie überwältigt und gesäubert hatte.

Var merkte nun, daß der Mann zwischen ihm und Soli keine Verbindung sah. Diesmal hatten sich die Verfärbungen seiner Haut einmal zu seinem Vorteil ausgewirkt. Er wollte Soli beobachten und feststellen, ob man sich an die Bedingungen des Paktes hielt, nicht aber, um Kontakt mit ihr aufzunehmen, denn damit hätte er ihr mühsam aufgebautes Bild zerstört. Aus ihr sollte eine vollendete Dame werden. Aus ihm aber konnte kein Herr werden.

Und dann war er einmal damit beschäftigt, das Buschwerk in der Mauer zurechtzustutzen, als man sie innerhalb des Institutsgeländes spazierenführte. Er sah sie mit einer Erzieherin und drei anderen Mädchen, in züchtige Gewänder gehüllt. Dabei wurde er auf schreckliche Weise an ihren Aufenthalt auf Neu Kreta und an ihr Warten auf das Opfer erinnert. Damals so wie jetzt war er der Grund für ihre Freiheitsberaubung gewesen. Das alles erschien ihm nun so ähnlich, daß er sie am liebsten gepackt hätte und mit ihr in den Wald gelaufen wäre, nur um alles ungeschehen zu machen. Er wandte sein Gesicht ab aus Angst vor den Folgen, falls sie seiner ansichtig wurde.

Die kleine Gruppe ging den blumengesäumten Weg entlang, den Schritt im Rhythmus des Gemurmels der Erzieherin. Ganz kleine Schritte machten die Mädchen. Var hörte ihr leises Getrippel und nahm ihre Bewegungen am Rande seines Gesichtskreises wahr. Man brachte ihnen bei, sich wie Damen zu bewegen, zaghaft und graziös.

Var fuhr in seiner Arbeit fort, den Rücken dem Weg zugekehrt. Die Mädchen gingen so knapp an ihm vorüber, daß er ihren Duft spürte. Sie blieben nicht stehen. Nach einer Weile wurden sie wieder hineingeführt, und Var war erleichtert und betrübt zugleich. Eine Torheit wäre es gewesen, wenn er mit Soli gesprochen hätte, doch das Verlangen in ihm war übermächtig gewesen. Mochte er dies alles auch bedauern, er wußte nun, daß die Schule sich an das Abkommen hielt. Da durfte er nicht derjenige sein, der es brach.

An jenem Abend, als der Alte in der Ofenhitze schon fast eingeschlafen war, schlich ein vermummter Besucher verstohlen in den Keller. Der Alte wollte Fragen stellen, bekam etwas in die Hand gedrückt und hielt sich abseits. Die Gestalt blieb über Vars Liegestatt gebeugt stehen.

Aus seinen Betrachtungen gerissen, sah Var auf.

Soli war es. Ihre Augen leuchteten unter der dunklen Kapuze hervor.

»Du hast das getan«, sagte sie leise.

Var sah sie bloß an, überwältigt von ihrer Schönheit. Die Ausbildung hatte Erfolg, das bewies ihre Haltung, und die Körperpflege gab ihrer Schönheit den letzten Schmelz.

»Ich habe dich im Garten gesehen«, murmelte sie und fuhr fort, ihn mit einer Miene anzusehen, die er nicht deuten konnte.

Und dann kam unter dem Umhang ihre Hand hervor, die einen Pantoffel hielt. Und dieser landete schmerzhaft auf seinem Leib.

»Und ich dachte, du wärest tot!« rief sie, und nun erkannte er ihr Gefühl: Zorn. Damit drehte sie sich um und ging.

Sie hatte ihn für tot gehalten. An diese Möglichkeit hatte er nicht gedacht, doch eigentlich lag es auf der Hand. Sie war in der Nacht überfallen worden, gefangengenommen, weggeschleppt in eine sonderbare Institution, ohne ihn zu sehen – da war es nur natürlich, daß sie glaubte, er wäre bei dem Überfall ums Leben gekommen. Und deswegen hatte sie sich mit allem abgefunden… und plötzlich entdeckt, daß alles eine Lüge war.

Warum hatte er sich eingemischt? Diese Folgen hatte er nicht vorausgesehen.

Der Alte kam kichernd wieder. Offenbar war ihm erst jetzt die Verbindung zwischen dem kleinen Drachen und seinem Knecht aufgegangen. Würde er den Mund halten? Nun, das war nicht so wichtig, da ja das ganze Arrangement ein ehrlicher Handel war, und Soli die Wahrheit kannte.

Lange noch lag Var wach und wußte nicht, ob Solis Verhalten ihn freute oder betrübte. Ihr unerwarteter Anblick hatte wie ein Aufputschmittel auf ihn gewirkt. So schön und so zornig! Haßte sie ihn, weil er sie hereingelegt hatte? Oder würde sie einsehen, daß es zu ihrem Vorteil war, was er da in die Wege geleitet hatte? Sicherlich würde sie mit der Zeit einsehen, daß sie nicht für ewige Zeiten die Kontinente dieser Erde durchwandern konnten. Ein schönes Mädchen und ein häßlicher Mann. Ihm hätte ein solches Leben natürlich nichts anhaben können, denn er hatte nichts anderes zu erwarten. Nichts leichter, als daß er sich wieder in den Wilden zurückverwandelte und die Ödlandstriche durchwanderte. Aber Soli hatte das Zeug zu einer Dame, zu einer anmutigen und gebildeten Dame. Er war es ihr schuldig, daß er ihr dieses Leben ermöglichte.

Und dennoch litt er unter Schuldgefühlen. Er sehnte sich noch immer nach ihrer ungebundenen Freundschaft, wie sie sie vor Kreta erlebt hatten. Aber das war unmöglich, denn sie würde niemals wieder so jung sein, und doch sehnte er sich und litt.

Zwei Wochen später, als er Reisig im Wald sammelte und es auf einen Handkarren lud, kam sie wieder. Diesmal steckte sie in Knabenkleidern. Das Haar hatte sie versteckt, das Gesicht geschickt verschmiert. Sie sah aus, wie ein kleiner Landstreicher, eine Verkleidung, die sie ja lange genug getragen hatte.

»Ich laufe fort«, sagte sie. »Komm mit wie früher.«

Var packte sie und schleppte sie auf das Institutsgelände zurück. Sie hätte ihn auf vielerlei Weise außer Gefecht setzen können, doch ihr Widerstand blieb symbolisch.

»Ich weiß, daß du für mich bezahlst«, sagte sie. »Ich hasse dich.«

Er wußte, daß es nicht so gemeint war, und doch trafen ihn die Worte.

»Warum willst du unbedingt, daß ich hierbleibe?« fragte sie traurig. »Warum können wir nicht wieder durch die Lande ziehen? Mehr will ich gar nicht.«

Var verschob seinen Griff, und schleppte sie weiter. Geschmeidig lag sie in seinen Armen.

Sie hob den Kopf und küßte ihn auf die Lippen, wie eine Frau es tut. Wie Sola, ihre Mutter. »Einfach mit dir zusammen sein, Var.«

Die Versuchung fiel über ihn her. Es war das Kind, das er im Gedächtnis bewahrte, doch auch die Frau hielt seine Sehnsucht gefangen. Und doch ging er weiter, wortlos.

»Soll ich etwa weinen?« Doch sie weinte nicht, obwohl dies seinen Widerstand gebrochen hätte. Und als er keine Antwort gab, murmelte sie: »Es tut mir leid, daß ich dich mit dem Pantoffel schlug.« Und als sie sich dem Gebäude näherten: »Ich hätte einen Morgenstern nehmen sollen!«

Und wenn sie einen gehabt hätte, hätte sie ihn damit zerschmettert, so groß war ihre Wut.

Er übergab sie einer Erzieherin. Und als er sich niedergeschlagen zurück in den Wald begab, da hörte er ihre Schreie, Schmerz- und Wutschreie. Man schlug sie wegen ihres Vergehens. Das Instrument war zwar gepolstert, damit es keine entstellenden Spuren hinterließ. Doch er wußte, daß es schmerzte. Und beide hatten gewußt, daß diese Strafe folgen würde. Die Oberin hatte es von allem Anfang an klargemacht: Disziplin hieß ihre Losung.

Aber Soli, eine Veteranin des Stockkampfes, schrie nicht vor Schmerzen. Sie wollte es Var bloß hören lassen und der Erzieherin die Genugtuung geben. Die aber ließ sich natürlich nicht hinters Licht führen. Das Ritual mußte bis zum Ende durchgestanden werden, damit die anderen Mädchen nicht ihre Fügsamkeit vergaßen.

Var hatte jeden zehnten Tag frei, obgleich er auch da gern gearbeitet hätte. Doch die Vorsteherin, klug wie immer, bestand auch auf diesem Punkt. In nächster Nähe lag eine Stadt, und an seinem zweiten freien Tag ging er dorthin und sah sich ein wenig um. Doch sollte er sich dort nicht wohl fühlen. Die Einheimischen behandelten ihn mit leiser Mißachtung und gaben ihm zu verstehen, daß seine Gesellschaft unerwünscht war. Und es war so schwierig zu unterscheiden, wann man lächeln und wann man zurückschlagen sollte, wenn kein Ring die Grenze zwischen Höflichkeit und Kampf zog. Einmal legte ein junger Raufbold Hand an ihn, und Var schlug ihn zu Boden, doch das änderte wenig.

Nein, für ihn war das Ödland allemal das beste. Er begriff weder die hiesige noch die amerikanische Nomadenkultur und war allein immer noch am besten dran. Sobald Soli die Ausbildung hinter sich hatte, wollte er jeglicher Zivilisation den Rücken kehren und wieder völlig wild, dafür aber glücklich werden. Doch dann dachte er an Soli und da wußte er, daß er sich belog. Er würde niemals glücklich sein ohne sie, ob sie nun Kind war oder Frau.