XII

»Var!«

Er drehte sich um und faßte nach seinen neuen Stöcken. Dann aber beruhigte er sich. »Soli!«

»Ich habe dich aus der Herberge flüchten gesehen. Deswegen bin ich dir nachgelaufen. Var, was ist passiert?«

»Der Herr – « Var konnte nicht weiter, denn er verspürte unmännliches Elend. »Er – «

»War er denn nicht glücklich über deinen Sieg?«

»Der… Bob hat uns betrogen.«

»Oh.« Sie schüttelte mitleidig den Kopf. »Also alles umsonst!

Kein Wunder, daß der Waffenlose vor Wut rast. Aber das ist doch nicht deine Schuld.«

»Er drohte mich zu töten.«

»Dich töten? Der Namenlose? Und warum?«

»Ich weiß es nicht.« Es war, als stelle sie als Erwachsene die Fragen, und er wäre das Kind.

»Aber er ist doch gütig – innerlich, meine ich. Das würde er nie tun. Und schon gar nicht bloß deswegen, weil es nicht klappte.«

Var zog die Schultern hoch. Er hatte gesehen, wie der Herr Amok gelaufen war. Er traute ihm jetzt alles zu.

»Und was wirst du nun tun, Var?«

»Fortgehen. Er gibt mir eine Frist. Einen Tag und eine Nacht.«

»Aber was fange ich nun an? Ich kann jetzt nicht mehr zurück zum Berg. Bob würde mich töten, und dazu noch Sol und Sosa.

Weil wir verloren haben. Er sagte, er würde beide töten, wenn ich nicht kämpfe, und wenn er herausbekommt…«

Var stand da und wußte keine Antwort darauf.

»Ich glaube, wir beide sind nicht sehr klug vorgegangen«, sagte Soli und fing zu weinen an.

Er legte den Arm um sie. Seine Gefühle waren ihren ähnlich. »Ich weiß über die Nomaden nur sehr wenig«, sagte sie. »Ich bin nicht gern allein.«

»Ich auch nicht«, sagte Var, dem nun endgültig klar wurde, daß ihm das Ausgestoßensein drohte. Früher war er einsam gewesen und es hatte ihm genügt, doch inzwischen hatte er sich geändert.

»Gehen wir doch gemeinsam«, sagte Soli.

Var überlegte, und der Gedanke erschien ihm gut.

»Komm!« rief sie nun, plötzlich wieder hochgestimmt. »Wir könnten eine andere Herberge nach einer Reiseausrüstung durchsuchen und… und einfach davonlaufen! Weit weg! Du und ich! Und wir können im Ring kämpfen!«

»Ich möchte nicht mehr kämpfen«, sagte er.

»Dummkopf! Doch nicht gegeneinander! Gegen andere, meine ich. Und wir können mit unseren Gefangenen einen großen Stamm gründen, und dann zurückkommen und – «

»Nein! Gegen den Herrn kämpfe ich nicht!«

»Aber er wird dich verfolgen – «

»Ich werde immer weiter laufen.«

»Aber Var -!«

»Nein!« Er schüttelte sie ab.

Soli fing zu weinen an, wie immer, wenn sie ihre Pläne durchkreuzt sah, und das tat ihm leid. Aber wie üblich wußte er auch jetzt nicht, was er hätte sagen sollen.

»Vermutlich ist es ähnlich, wie wenn man gegen den Vater kämpft«, sagte sie. Und damit schien die Sache erledigt.

»Aber alles andere können wir doch machen?« fragte sie schließlich listig.

Er lächelte. »Alles!«

Versöhnt traten die beiden ihre Flucht an.

Bei Einbruch der Dunkelheit suchten sie in einer leeren Herberge Zuflucht, die zwanzig Meilen vom Lager entfernt war.

»Fast wie zu Hause«, sagte Soli. »Nur daß es rund ist. Und alles ist vorhanden. Vermutlich haben die Nomaden hier in dieser Woche nicht geplündert.«

Var zog die Schultern hoch. Zu Hause fühlte er sich zwar nicht in einer Herberge, doch war es immerhin noch besser als draußen auf Nahrungssuche gehen zu müssen. Allein wäre er tief drinnen im Wald geblieben, aber mit Soli…

»Ich kann uns eine richtige Unterwelt-Mahlzeit zubereiten«, sagte sie. »Du weißt doch hoffentlich, wie man mit Messer und Gabel umgeht? Ich habe den Köchen zugesehen. Sosa sagte, ich sollte für mich selbst sorgen können, weil ich es vielleicht eines Tages notwendig haben würde. Hm, das hier ist ein Elektroherd, und dieser Knopf ist zum Anheizen.«

Ein Wort haftete in seinem Gedächtnis, während er ihr zusah, wie sie eifrig Vorräte und Werkzeug zusammensuchte. Sosa. Der Name ihrer Stiefmutter, das wußte er. Die kleine Frau, der er unter der Erde begegnet war, und die ihn so leicht zu Boden gebracht hatte. Auch der Herr hatte den Namen ausgesprochen. Aber da war noch etwas anders – Sos! Bob vom Berge hatte den Herrn Sos genannt! Und Tyl schon früher. Jetzt fiel es ihm ein. Als ob der Namenlose einen Namen hätte! Und Sos wäre somit der erste Mann von Sosa gewesen!

Aber Sol war mit Sosa verheiratet, dort unten im Berg. Und Sos war mit Sola verheiratet. Wie war es zu dieser Veränderung gekommen?

Und wenn Soli das Kind Sols und Solas war, gab es dann auch eine Sosi, von Sos und Sosa in die Welt gesetzt? Wenn ja, wo?

Diese komplizierten Gedankengänge bewirkten, daß sich in Vars Kopf alles drehte. Aber irgendwo inmitten dieses Wirrwarrs lag die Antwort auf den unerklärlichen Wutausbruch des Herrn verborgen, dessen war er sicher. Wie sollte er das Problem nur entwirren?

Soli hatte unterdessen Ärger mit dem Kochen, »Ich brauche einen Öffner«, sagte sie, eine verschlossene Konserve hochhebend.

Var wußte nicht, was ein Dosenöffner war.

»Damit kann ich diese Tomaten aufkriegen.«

»Woher weißt du, was da drinnen ist?«

»Das steht auf dem Etikett. T-O-M-A-T-E. Die Irren schreiben immer alles drauf. So nennt ihr sie doch, oder?«

»Du kannst lesen? So wie der Herr?«

»Nicht sehr gut«, gestand sie. »Jim, der Bibliothekar, hat es mir beigebracht. Er sagt, alle Kinder von Helicon sollten lesen lernen, für die Zeit, wenn die Zivilisation wiederkehrt. Wie öffne ich nun diese Dose?«

Auch sie nannte den Berg Helicon. So viele Kleinigkeiten waren anders! Und sie kannte den Bergbruder von Jim dem Gewehr, nicht den richtigen Jim.

Var nahm die Dose und ging mit ihr an den Waffenständer. Er suchte einen Dolch heraus und stieß ihn in das flache Ende des Zylinders. Roter Saft spritzte wie aus einer Wunde heraus.

Das triefende Ding brachte er Soli. Es waren tatsächlich Tomaten.

»Sehr klug«, äußerte Soli bewundernd. Es war lächerlich, doch er war stolz.

Schließlich war sie fertig und trug das Essen auf. Var, der sich in seiner Kindheit Nahrung verschafft hatte, indem er alte Gebäude und die Abfallhaufen der Lager der Menschen durchstöberte, war nicht allzu überrascht. Er kaute an dem verbrannten Fleisch, schlürfte die Tomaten, verschlagen die zähen Brötchen und zerschnitt das steinharte Eis mit dem Dolch. »Sehr gut«, sagte er schließlich, denn der Herr hatte immer wieder die große Bedeutung der Höflichkeit betont.

»Spar dir deinen Sarkasmus!«

Var kannte das Wort nicht und erwiderte nichts darauf. Warum gerieten die Menschen so oft grundlos in Zorn?

Nach dem Essen ging Var hinaus, um sein Wasser abzuschlagen.

Die sanitären Einrichtungen der Herberge waren ihm nicht vertraut. Soli duschte und klappte ein Kojenbett von der Wand.

»Schalte den Fernsehapparat nicht ein«, rief sie, als er wieder hereinkam. »Vielleicht ist eine Abhöreinrichtung eingebaut.«

Var hatte ohnehin nicht die Absicht gehabt und war verwundert ob ihrer Besorgnis. »Abhöreinrichtung?«

»Ach, du weißt schon. Die Unterwelt hat die Leitungen angezapft und weiß immer, wenn jemand fernsieht. Die Irren wissen es vielleicht auch. Damit sie den Nomaden immer auf der Spur bleiben. Wir wollen nicht, daß jemand weiß, wo wir sind.«

Er dachte an das Gespräch des Herrn mit dem Führer des Berges, mit Bob, und glaubte zu verstehen. Das Fernsehen war nicht unbedingt sinnlos. Er klappte das benachbarte Bett herunter und ließ sich darauffallen.

Nach einer Weile rollte er sich auf die andere Seite und sah den Fernsehapparat an. »Warum werden so langweilige Dinge gezeigt?« fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.

»So waren die Alten vor dem Brand«, sagte sie. »Sie taten langweilige Dinge, und nahmen es auf Band auf, und wir lassen die Bänder durch den Vorführapparat laufen, und das ist das Fernsehen. Jim sagt, das alles hätte etwas zu bedeuten, aber wir haben kein Tonsystem und können also nicht mit Sicherheit etwas darüber sagen.«

»Wir?«

»Die Unterwelt. Helicon. Jim sagt, wir müßten die Technik erhalten. Wir wissen zwar nicht, wie man Fernsehen macht, aber wir können es erhalten. Bis alle Ersatzteile verbraucht sind, jedenfalls. Die Irren wissen über Elektrizität mehr als wir. Die haben sogar Computer. Aber wir leisten mehr Arbeit.«

Vars Interesse war erwacht. »Was tut ihr denn?«

»Wir stellen Dinge her. Wir machen die Waffen und alles andere für die Herbergen. Die Irren übernehmen den Service. Sie stellen die Herbergen auf und versorgen sie mit Nahrung und anderem. Die Nomaden sind die Verbraucher – die tun nichts weiter.«

Das war zu hoch für Var, der vor Beginn des Kampfes noch niemals von der Unterwelt gehört hatte und auch nur eine ungefähre Ahnung davon hatte, was die Irren waren oder was sie taten. »Warum muß der Herr den Berg erobern, wenn der Berg so viel leistet?«

»Bob sagt, er wäre verrückt. Bob sagt, er wäre ein Mann, der ein doppeltes Spiel treibe. Er hätte das Imperium eigentlich auflösen sollen. Statt dessen wandte er sich gegen den Berg. Bob ist deswegen außer sich.«

»Der Herr sagte, der Berg wäre böse. Er sagte, er könnte das Imperium erst richtig aufbauen, wenn der Berg erobert wäre. Und jetzt sagt er, er würde alles verbrennen, nachdem er mich getötet hätte.«

»Vielleicht ist er verrückt«, flüsterte sie.

Diese Frage stellte sich Var ebenfalls.

»Ich habe Angst«, sagte Soli nach einer Weile. »Bob sagt, wenn die Nomaden ein Imperium schaffen, würde es wieder einen großen Brand geben, dem dann keiner entkommen könnte. Er sagt, sie stellten das gewaltsame Element unserer Gesellschaft dar, und sie dürften keine Technik haben, weil es dann wieder zum Brand käme. Aber jetzt…«

Auch das konnte Var nicht begreifen. »Wer hat den Berg gemacht?« fragte er.

»Jim sagt, seiner Meinung nach hätte ihn die nach dem Brand entstandene Zivilisation geschaffen«, erklärte sie ein wenig unsicher. »Überall war Strahlung, und die Menschen starben. Da nahmen sie ihre großen Maschinen, schaufelten eine ganze Stadt auf einen Haufen zusammen und höhlten den Haufen aus. Dann leiteten sie Strom ein und retteten die klügsten Wissenschaftler und richteten es so ein, daß sonst niemand hineinkonnte. Aber immerhin brauchten sie Nahrung und anderes, deshalb mußten sie Handel treiben – und draußen hatten ein paar kluge Leute auch ein wenig Zivilisation gerettet, von irgendwoher, und das waren die Irren. Und mit denen wurde nun Handel getrieben. Und alle anderen, die Dummen, ließen sich treiben und bekämpften einander, und das waren die Nomaden. Nach einer gewissen Zeit wurden viele in Helicon zu alt, und sie starben und die Technik drohte verlorenzugehen. Deswegen mußte man für Nachschub sorgen, aber das mußte im Geheimen vor sich gehen. Von den Irren wollte niemand kommen. Also nahm man jene auf, die gekommen waren zu sterben.«

»Ich glaube nicht, daß der Herr einen neuen Brand entfachen würde«, sagte Var. Doch dann mußte er an die unerklärliche Wut des Mannes denken, an seine Drohung, den Berg zu vernichten, und war seiner Sache nicht mehr so sicher.

Soli war so taktvoll, und sagte nichts darauf. Nach einer Weile schliefen sie ein.

*

Zwanzig Meilen weiter konnte der Namenlose, bei manchen als Sos bekannt, nicht schlafen. Er lief in seinem Zelt auf und ab, krank vor Wut über den Mord an seinem Kind, an dem Soli genannten Mädchen, in einem Ehebruch empfangen, aber Fleisch von seinem Fleisch. Seit seinem Aufenthalt im Berg war er steril, vielleicht als Folge der Operationen, die die Chirurgen des Helicon an ihm durchgeführt hatten, um ihn zum stärksten Mann der Welt zu machen. Er trug Metall unter seiner Haut und in seinen Weichteilen, Hormone hatten bewirkt, daß sein Leib sich weitete, aber er war von da an unfähig, ein Kind zu zeugen. Diese Soli, dem Gesetz nach das Kind des kastrierten Sol, war die einzige Tochter, die er jemals haben würde. Und obwohl er sie seit sechs Jahren nicht gesehen hatte, war sie ihm teurer als je zuvor. Jedes Mädchen ihres Alters war ihm teuer. Er hatte davon geträumt, sie wiederzusehen, und auch seinen wahren Freund Sol und seine Liebe, Sosa. Sie alle vier, gemeinsam, irgendwie -

Nun aber waren seine Hoffnungen zu Asche zerfallen. Nicht nur ein Mädchen, sondern die gesamte Grundlage seines Ehrgeizes war verloren. Nun hatten alle Dinge dieser Welt den Glanz verloren.

Soli – vielleicht war sie jenem knabenhaften Mädchen vom Stamme Pan ähnlich, flink und frech, und dabei nicht abgeneigt, ihre Tränen einzusetzen, wenn die Situation es erforderte. Das alles würde er nie erfahren, denn Var hatte sie getötet.

Var würde nun mit Sicherheit sterben. Und Helicon würde dem Erdboden gleichgemacht, denn Bob war der eigentlich Schuldige an diesem ironischen Mord. Keiner der Beteiligen würde überleben, nicht einmal Sos der Waffenlose, der die größte Schuld trug.

So lief er auf und ab, beherrscht von seinem verzweifelten Zorn, und erwartete ungeduldig den Morgen, um seinen Rachefeldzug zu beginnen. Tyl würde bis zu seiner Rückkehr die Belagerung Helicons leiten. Tyl würde mit Freuden das Kommando über die Krieger übernehmen.