III

Der Junge stand gegrätscht auf ein paar alten Kisten und wollte eben wieder einen Metallstein werfen, denn der gewaltige Mann und das zahme Tier hatten ihn hier gestellt.

Noch nie zuvor war eine Verfolgung so erbarmungslos gewesen. Noch nie zuvor hatte er sein Versteck verteidigen müssen. Hätte er das geahnt, wäre er nicht hierher zurückgekehrt.

Aber hier waren so viele Gebiete, die ihn zurücktrieben, weil seine Haut zu brennen anfing! Dieser Bau hier war die einzig völlig sichere Stelle.

Wieder erschien der Riese im Eingang. Der Junge schleuderte den Metallbrocken und langte bereits nach dem nächsten. Diesmal aber wich der Mann aus und ließ eine Länge Seil vorwärts schnellen. Der Junge mußte feststellen, daß er eingefangen und gleich darauf völlig hilflos war. Als wäre es etwas Lebendiges, so wand und schlang sich das Seil um ihn.

Der Mann band ihn, hob ihn über eine seiner gewaltigen Schultern, trug ihn die Treppe hinauf und hinaus aus dem Haus. Die tierische Kraft des Mannes war beängstigend. Der Junge drehte und wand sich und biß zu, doch seine Zähne trafen auf Fleisch, das unempfindlich war wie Leder.

Seine Haut brannte, als der Mann heißes Gebiet durchschritt. War das Ungeheuer auch dagegen gefeit? Er war auch unterwegs verschiedentlich mitten durch heiße Stellen gelaufen, Stellen, die der Junge peinlich mied. Wie konnte man es mit solcher Kraft aufnehmen?

Im Wald ließ der Mann ihn herunter und lockerte das Seil. Dabei gab er Laute von sich, die dem Jungen nur undeutlich vertraut waren. Kaum in Freiheit, machte der Junge einen Satz und wollte davon.

Das Seil schoß wie eine angreifende Schlange durch die Luft und schlang sich um seine Mitte und holte ihn zurück. Wieder war er gefangen. »Nein«, sagte der Mann, und diese klare Verneinung begriff der Junge.

Wieder löste der Riese das Seil und wieder stürzte der Junge davon. Wieder wurde er vom Lasso eingefangen.

»Nein!« wiederholte der Mann, und diesmal wurde das Wort von einem Hieb begleitet, der dem Jungen beinahe die Brust eindrückte. Er fiel um und spürte nur noch Schmerz und das Bedürfnis nach Luft.

Der Mann lockerte das Seil ein drittes Mal. Diesmal blieb der Junge da. Lektionen dieser Art merkte man sich rasch.

Sie marschierten nun zum weit entfernten Hauptlager. Der Junge ging voran, und der Blick des Mannes ruhte ständig auf ihm. Der Junge mied die kleiner werdenden Strahlungsflecken, und Mann und Tier folgten ihm. Am Abend hatten sie jene Stelle erreicht, an der sie einander am Vortrag zum erstenmal gesehen hatten.

Der Mann öffnete seinen Sack und holte Stücke eines Stoffs hervor, der gut roch. Er biß davon ab, kaute mit Behagen und reichte dem Jungen davon. Die Einladung bedurfte keiner Wiederholung, denn dies war Nahrung.

Nach dem Essen urinierte der Mann gegen einen Baum und bedeckte sich sodann wieder. Der Junge folgte seinem Beispiel, ja er ahmte sogar die aufrechte Haltung nach. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, seine Ausscheidungen bewußt zu steuern, denn achtlos abgelagerte Spuren konnten zur Entdeckung führen, aber noch nie war ihm der Gedanke gekommen, den Strahl mit der Hand zu lenken.

»Da«, sagte der Mann. Er drückte den Jungen sanft zu Boden und schob ihn, Füße voran, in einen engen Sack. Der Junge wehrte sich, als ihm ein Netz über den Kopf gelegt wurde.

»Bleib so über Nacht, oder -.« Und wieder landete die gewichtige Faust auf seiner Brust, sachter allerdings. Als zweite Warnung.

Nun kletterte der Mann in einiger Entfernung in einen zweiten Sack, und der Hund ließ sich unter dem Baum nieder.

Da lag nun der Junge, und es drängte ihn zur Flucht, doch er fürchtete die Gefahren der Nacht, besonders da die heiße Region so nahe war. Für gewöhnlich ging er während der Nacht auf Raub aus, denn er konnte im Dunkeln gut sehen, aber hier war es zu gefährlich. Einmal hatte ihn ein Insekt gestochen, und er war daran beinahe zugrunde gegangen. Zwar konnte man ihnen meist ausweichen, aber sie verkrochen sich unter das Laub und lauerten manchmal auf dem Boden. Unter dem Netz war er wenigstens sicher vor ihnen.

Wenn er nicht während der Nacht floh, würde er tagsüber keine Möglichkeit mehr haben. Das Seil war zu behende und geschickt, der Riese zu stark.

Er merkte, daß der Mann eingeschlafen war und faßte einen Entschluß. Leise setzte er sich auf und wollte sich aus dem Sack befreien.

Der Mann fuhr beim ersten Geräusch auf. »Nein!« rief er.

Es war gefährlich, gegen den Riesen anzutreten, der ihn womöglich wieder einholen würde. Der Junge legte sich resigniert nieder. Und schlief ein.

Am Morgen aßen sie wieder gemeinsam. Es war lange her, seitdem der Junge zwei so leicht errungene Mahlzeiten so rasch hintereinander genossen hatte. Das waren Bedingungen, an die man sich leicht gewöhnen konnte.

Dann hatte der Mann ihn an einen Wasserlauf geführt und sich selbst und ihn gewaschen. Er trug Salben aus seinem Gepäck auf die verschiedenen Schrammen und Wunden am Körper des Jungen auf und ersetzte die rohen Tierhäute durch ein viel zu großes Hemd und eine Hose. Nach diesem widerwärtigen Vorgang setzten sie den Marsch zum Menschenlager fort.

Die ungewohnten Kleidungsstücke rieben den Jungen. Noch einmal erwog er einen Fluchtversuch, ehe er in ein ihm völlig fremdes Gebiet gebracht wurde, doch eine gebrummte Warnung bewirkte, daß er seine Meinung änderte. Und Tatsache war, daß der Mann, abgesehen von seinen Absonderlichkeiten im Hinblick auf Kleidung und Urinieren, kein schlechter Herr war. Er strafte ihn nicht grundlos, und er bewies ihm sogar eine gewisse rauhe Freundlichkeit.

Gegen die Tagesmitte verlangsamte er den Schritt. Er schien müde oder schläfrig trotz seiner Riesenmuskeln und geriet ins Taumeln. Er blieb stehen, gab sein Frühstück von sich, und der Junge fragte sich dabei, ob es sich dabei abermals um irgendein in der Zivilisation übliches Ritual handle. Dann setzte der Riese sich nieder und machte ein verdrossenes Gesicht.

Der Junge beobachtete ihn eine ganze Weile. Als der Mann nicht aufstand, machte der Junge kehrt und ging den Weg zurück. Ungehindert fing er zu laufen an. Er war frei!

Er lief eine Meile und hielt an und entledigte sich der lästigen Menschenkleidung. Und er ahnte, was mit dem Riesen los war. Der Mann war nicht immun gegen die heißen Stellen. Er hatte sie ganz einfach nicht bemerkt und hatte sich ihnen unvorsichtig ausgesetzt. Und jetzt hatte ihn die Krankheit übermannt.

Auch das hatte der Junge auf beinharte Weise erlernt. Er hatte Verbrennungen erlitten, war schwach geworden, hatte erbrochen und hatte sich dem Tode nahe gefühlt. Doch er hatte überlebt, und in weiterer Folge hatte seine Haut eine gewisse Empfindlichkeit angenommen, die sich immer durch Brennen bemerkbar machte, wenn er sich gefährlichem Gelände näherte. Seine Brüder, denen jene Hautflecken fehlten, die ihn von ihnen unterschieden, verfügten nicht über diese Fähigkeit und waren auf schreckliche Weise gestorben. Er hatte auch ganz bestimmte Blätter entdeckt, die seine Haut kühlten, und bestimmte Früchte, die der Übelkeit entgegenwirkten. Aber niemals wieder wagte er sich in die heißen Gebieten. Seine Haut warnte ihn rechtzeitig, und die anderen Heilmittel nahm er nur zur Vorbeugung zu sich.

Der Riesenmensch würde sehr krank werden, ja er würde vielleicht sogar sterben. In der Nacht würden die Falter kommen und später die Mäuse, und der Mann würde ihnen hilflos ausgeliefert sein. Wie dumm von dem Mann, ins Herz des Ödlands vorzudringen.

Dumm war er – aber auch kühn und gutmütig. Noch nie hatte ein Fremder dem Jungen geholfen oder ihm Nahrung gegeben seit dem Tod seiner Eltern, und er fühlte sich von diesen Wohltaten seltsam bewegt. Irgendwo tief in seinem Inneren fand er die grundlegende Lehre: Gutes muß man mit Gutem vergelten. Es war das einzige, was ihm von den Lehren seiner schon lange toten Eltern geblieben war, deren Schädel längst unter der Sonne bleichten.

Dieser Riesenmensch war wie sein toter Vater: Stark und ruhig, wild, wenn er in Wut geriet, aber sanftmütig, wenn er nicht gereizt wurde. Der Junge wußte beides zu schätzen, die ihm erwiesene Aufmerksamkeit und die straffe Disziplin. Einem solchen Mann konnte man trauen.

Er sammelte einige ganz bestimmte Pflanzen und lief zurück, seiner Motive ungewiß, seiner Handlungen sicher. Der Mann lag noch immer an derselben Stelle, sein Körper hatte sich gerötet. Der Junge legte nun eine Blätterkompresse auf den fieberheißen Leib und die Glieder und drückte Tropfen aus Pflanzenstengeln in den verzerrten Mund. Viel mehr konnte er nicht tun. Der Riese ließ sich wegen seiner Schwere nicht bewegen, und überdies konnten die plumpen Hände des Jungen ihn gar nicht richtig anfassen. Es wäre jedenfalls nicht ohne Verletzungen abgegangen.

Als die Nacht kam und es kühler wurde, erholte sich der Mann ein wenig. Er raffte sich unter Schmerzen auf und kroch in seinen Sack. Dann verlor er wieder das Bewußtsein.

Am Morgen schien er munter, doch geriet er ins Taumeln, als er einen Versuch machte, aufzustehen. Gehen konnte er nicht. Der Junge gab ihm einen Stengel zum Kauen und er kaute daran, ohne sich dessen richtig bewußt zu sein.

Am nächsten Tag ging der Proviant zur Neige, und der Junge mußte auf Nahrungssuche gehen. Bestimmte Früchte waren reif geworden, bestimmte Knollenpflanzen waren eßbar. Er pflückte sie und grub sie aus, band sie in die Jacke, die er nun nicht mehr anzog und lief mit dem Bündel zurück zu ihrem erzwungenen Lager. Auf diese Weise ernährte er sie beide.

Am vierten Tag fing die Haut des Mannes zu bluten an. Bestimmte Körperteile waren hart wie Stein und bluteten nicht. Doch dort, wo die Haut natürlich war, traten Blutungen auf. Der Mann betastete sich erschrocken, verfiel aber wieder in Bewußtlosigkeit.

Der Junge suchte aus dem Vorratssack Stoff, tauchte das Zeug in Wasser und wusch das Blut ab. Doch die Blutungen wollten nicht aufhören, obwohl nirgends Wunden zu sehen waren. Da ließ er das Blut fließen und gerinnen. Damit wurde die Blutung verlangsamt. Er wußte, daß das Blut im Körper bleiben mußte, denn einmal, als er sich verletzt hatte und viel Blut verlor, hatte er sich tagelang sehr schwach gefühlt. Und wenn ein Tier zuviel Blut verlor, dann starb es.

Immer wenn der Mann zu sich kam, fütterte der Junge ihn mit Früchten und Halmen und mit anderen Dingen, die er schlucken konnte, ohne daran zu ersticken. Und immer wenn er wieder das Bewußtsein verlor, legte der Junge ihm die feuchten Blätter auf. Wurde es kalt, deckte er ihn mit dem Sack zu. Er legte sich neben ihn und schützte ihn vor dem ärgsten Nachtwind.

Der Hund schleppte sich davon und verendete einige hundert Meter weiter.

Tage vergingen. Der Kranke zehrte sein eigenes Fleisch auf, wurde hager, und sein Leib nahm seltsame Formen an. Es war, als trüge er unter der Haut Steine und Bretter, aber so, daß keine Spitze durchstoßen konnte. Als nun aber das schützende Fleisch wegschmolz, lockerte sich die Rüstung. Sie behinderte seine Atmung, seine Ausscheidungen. Aber vielleicht hatten diese Verwachsungen auch die Strahlung abgewehrt. Der Junge wußte, daß gewisse Substanzen bis zu einem gewissen Grade dazu imstande waren. Der Mann verweigerte sich hartnäckig dem Tod. Der Junge beobachtete ihn und spürte, daß er Zeuge eines gewaltigen Kampfes war, eines mutigen Kampfes mit einem schrecklichen Gegner. Der Vater und die Brüder des Jungen waren damals unterlegen. Sie hatten eher aufgegeben. Blut, Schweiß und Urin benetzten die Blätter, und Schmutz und Unrat deckten den Mann, und der Kampf ging weiter.

Und schließlich ging es bergauf mit ihm. Das Fieber ließ nach, die Blutungen hörten auf, seine Kraft kehrte wieder, und er fing zu essen an – zögernd zunächst, dann aber mit großem Appetit. Er erkannte den Jungen wieder und lächelte.

Es bestand nun eine Bindung zwischen ihnen. Mann und Junge waren Freunde geworden.