VIII

Der Herr hörte sich seinen Bericht ganz unbeteiligt an. Var fürchtete schon, er hätte versagt, auch wenn er nicht genau wußte wie, denn er hatte schließlich tatsächlich einen Weg in den Berg gefunden. »Wenn sie es dem Herrn des Berges berichtet wird man den Gang versperren. Aber wir könnten ihn ja wieder frei machen – «

»Gegen einen Flammenwerfer richten wir nichts aus«, sagte der Namenlose düster. Und dann stützt er den Kopf in die Hand – zu Vars großer Verwunderung. »Hätte ich das geahnt! Sie, ausgerechnet sie! Ich wäre selbst gegangen!«

Var starrte ihn verständnislos an. »Ihr kennt die Frau?«

»Sosa.«

Var wartete auf eine weitere Erklärung. Sie kam nicht. Der Name allein bedeutete für Var nichts.

Nach längerer Pause sagte der Waffenlose: »Wir werden einen direkten Frontalangriff starten müssen. Hol mir Tyl her.«

Var ging. Tyl gehörte nicht zu seinen Freunden und befand sich einige hundert Meilen weit in seinem eigenen Lager. Var mußte der Aufforderung nicht unbedingt nachkommen, und doch würde er Tyl holen.

Jim, der Gewehrschütze, trat ihm entgegen, als er aufbrechen wollte. »Zeig ihm dies hier«, sagte er. »Aber keinem anderen.«

Und er gab Var eine Handfeuerwaffe und eine Schachtel Munition. Dazu eine schriftliche Nachricht.

Tyl war fasziniert von der Macht an sich und daher auch fasziniert von der Waffe. Und seine Haltung Var gegenüber änderte sich, als seine Frau ihm vorlas, was Jim ihm geschrieben hatte. Er lobte Var sogar wegen seiner Kenntnis der Feuerwaffen.

Var aber hatte noch nicht die Peinlichkeit seiner ersten Begegnung mit diesem Manne vergessen. Es dauerte eine Weile, bis er sich an die bislang ungewohnte Freundlichkeit gewöhnt hatte.

Doch als Tyl und sein ungeheuer großer Stamm den Berg erreicht hatten, waren sie Freunde geworden. Unzählige Male hatten sie gemeinsam den Ring betreten, aber nie um zu kämpfen. Und unter Tyls Anleitung wurde Var ein wahrer Meister mit den Stöcken. Er mußte sich eingestehen, daß seine damalige Herausforderung überheblich gewesen war. Tyl erwies sich als unschlagbar und konnte ihm viele Tricks beibringen.

»Du bist stark und mutig«, sagte er zu ihm, »aber es fehlt dir an Erfahrung. In einem oder zwei Jahren…«

Zusätzlich übte sich Var auch im Kampf gegen andere Waffen. Der Herr hatte ihn zwar in den grundlegenden Techniken unterwiesen, ein richtiger Kampf aber war doch etwas völlig anderes. Der Stock mußte lernen, das Schwert stumpf zu machen, die Keule abzulenken und auch den Stab – andernfalls war der Stock nutzlos. Inmitten von Tyls gedrilltem, kampfbereitem Stamm meisterte Vars Stock alle kniffligen Situationen.

Als weitaus tüchtigerer Krieger kehrte er in das geheime Lager des Namenlosen nahe dem Berg zurück. Jetzt wußte er, warum Tyl stellvertretend die Macht ausübte. Der Mann war anständig und vernünftig, ein geübter Krieger – der sich zudem durch kleinere Mißstimmungen nicht die Urteilskraft trüben ließ.

Var war zugegen, als der Waffenlose mit Tyl beriet.

»Du hast die Schußwaffe gesehen«, sagte der Herr. »Und du hast gesehen, was sie anzurichten vermag.«

Tyl nickte. Tatsächlich hatte er sie viele Male abgeschossen und sogar eine gewisse Fertigkeit darin erlangt. Er hatte damit sogar einen Hasen erlegt, etwas, das Var mit seinen steifen Fingern nicht fertigbrachte.

»Die Männer, denen wir gegenüberstehen werden, haben Schußwaffen und Schlimmeres. Bei ihnen gilt das Gesetz des Ringes nichts.«

Wieder nickte Tyl. Var wußte, wie sehr ihn die bei einem mit Schußwaffen geführten Kampf entstehenden Probleme interessierten.

»Sechs Jahre lang hielt ich das Imperium mit eiserner Faust zurück, aus Angst vor den Mördern der Unterwelt und ihren Waffen – solange wir selbst keine Schußwaffen hatten.«

Tyl wirkte überrascht. »Die Männer, die zum Berg gehen – «

»Nicht alle sterben dort!«

Var begriff nicht den Ausdruck, der nun über Tyls Antlitz glitt. »Sol aller Waffen…«

»Er ist am Leben. Als Geisel.«

»Und Ihr – «

»Ich kam vom Berg zurück.«

Tyl blieb vor Überraschung der Mund offen. »Sos! Sos, das Seil! Und der Vogel – «

»Namenlos, waffenlos, hilflos. Ein unwissender Toter. Vorherbestimmt, das Imperium zu zerstören.«

Var begriff das alles nicht, obgleich er die Verwandtschaft des Namens »Sos« mit »Sosa« erkannte. Tyls Miene ließ vermuten, daß seine Ergebenheit vor allem Sol aller Waffen galt, dem früheren Herrn des Imperiums. Vielleicht hatte das Wissen, daß dieser Mann lebte, Tyl so erregt.

»Und -?« fragte Tyl.

»Jetzt haben wir auch Waffen.«

»Das Imperium – «

»Wird sich ausdehnen. Vielleicht wieder unter Sol, wie früher. Nach dem Sieg über den Berg – «

»Aber diese… diese Schußwaffen… gehören nicht zu den Waffen des Ringes!« protestierte Tyl.

»Es geht nicht um den Ring. Es geht um Krieg.«

Die Worte schockierten Var. Er wußte, was das war, ein Krieg. Der Herr hatte es ihm viele Male erzähle. Krieg war die Ursache des großen Brandes gewesen.

Der Herr warf ihm einen Blick zu, als ahne er seine Beunruhigung. »Ich habe dir gesagt, Krieg wäre schlecht und dürfe nie wieder über unsere Gesellschaft kommen. Er hat einst die Welt fast gänzlich zerstört. Aber wir sehen uns hier einem Problem gegenüber, das wir nicht anders lösen können. Der Berg muß besiegt werden. Dies wird der Krieg sein, der alle anderen Kriege beendet.«

Was der Herr sagte, klang vernünftig, doch wußte Var, daß daran etwas nicht stimmte. Diesem Projekt haftete etwas Böses an, und das war nicht nur das Böse des Krieges an sich. Zum erstenmal zog er die Weisheit des Waffenlosen in Zweifel. Da er aber nicht dahinterkommen konnte, was ihm Kopfzerbrechen machte, sagte er lieber gar nichts.

Auch Tyl sah unbehaglich drein, ließ sich aber auf keine Debatte ein. »Und wie sollen wir dies erreichen?«

Der Herr zeigte ihnen nun eine Skizze, die er sich während der vielen Monate im Lager angefertigt haben mußte. »Das ist eine Höhenlinienkarte, wie sie von den Irren genannt wird. Ich habe den Berg von allen Seiten skizziert. Hier, das ist unser jetziges Lager. Es liegt gut außerhalb des Verteidigungsgürtels. Da liegt die Herberge, in der die Selbstmörder vor dem Aufstieg einkehren. Und da liegt der Untergrundbahn-Tunnel, den Var erkundete.«

»Untergrundbahn?« Das Wort war für Tyl ebenso neu wie für Var.

»Die Alten benutzten diesen Gang für Fortbewegung über weite Strecken, mittels Metallfahrzeugen ähnlich den Traktoren der Irren, nur daß sie auf Schienen rollen und sich viel schneller fortbewegen. Die oberirdisch fahrenden nannte man >Züge<, und die unterirdischen >Untergrundbahnen<. Var sagte mir, er hätte unten einen richtigen Zug entdeckt.«

Var hatte ihm nichts dergleichen gesagt. Er hatte nur berichtet, einen Stöpsel, einen Einsturz, Strahlung, ein Ungeheuer. Einen Traktor hatte er nicht gesehen. Aber warum log der Herr?

»Ich hatte gehofft, einen dieser Tunnels zu einem Überraschungsangriff nutzen zu können. Aber jetzt weiß die Unterwelt Bescheid. Sie wissen, daß wir über die unten herrschende Strahlung informiert sind. Man wird uns zusätzliche Fallen stellen. Deswegen müssen wir unseren Angriff an der Oberflache durchführen.«

Tyl war erleichtert. »Das wird mein Stamm übernehmen.«

Der Herr lächelte. »Ich zweifle die Fähigkeiten deines Stammes nicht an. Aber deine Leute sind Krieger des Ringes. Was können sie gegen Feuerwaffen ausrichten? Gegen Waffen, die aus der Deckung abgefeuert werden, aus großer Entfernung und ohne Vorwarnung. Und gegen Flammenwerfer?«

»Flammenwerfer?«

»Feuerkanonen, die einen Menschen in Sekundenschnelle verbrennen.«

Tyl nickte, doch Var sah ihm an, daß er diese Dinge nicht für wahr hielt, ungeachtet der anderen Wunder, von denen sie eben erfahren hatten. Auch Var glaubte es nicht. Falls man mit Feuer schoß, würde die Luftbewegung des Schusses es zum Erlöschen bringen.

»Kannst du dich erinnern, daß jemand von weißen Faltern berichtete, deren Stich tödlich ist? Von winzigen Tieren, die bewaffnete Krieger überrennen können? Von Feuer, das auf dem Wasser schwimmt?«

»Ja, ich weiß«, sagte Tyl und wurde plötzlich sehr nachdenklich.

Var begriff nicht, welchen Zusammenhang diese Fragen mit dem Problem hatten, da doch jedermann von den Motten und den Mäusen des Ödlandes wußte. Schwimmendes Feuer war zwar lächerlich. Aber Tyl sah aus, als glaubte er jetzt an Flammenwerfer.

»Es wird einen schrecklichen Kampf geben«, erklärte der Waffenlose. »Männer werden außerhalb des Ringes sterben und den nicht sehen, der sie tötet. Wir sind wie die Mäuse. Wir müssen ein Lager überfallen und werden in Massen sterben, aber wenn wir uns nicht unterkriegen lassen, werden wir den Berg trotz aller dort lauernden Schrecken einnehmen.

Sprich mit deinen Unterführern. Sag ihnen, sie sollen Freiwillige aussuchen – echte Freiwillige, keine gezwungenen – für einen Kampf, in dem die Hälfte von ihnen sterben wird. Sie werden dabei nicht die gewohnten Waffen führen. Wer sich meldet, bekommt Schußwaffen und wird in der Handhabung unterrichtet.«

Tyl stand auf. Er lächelte. »Ich habe mich nach den alten Zeiten zurückgesehnt. Jetzt sind sie gekommen.«

Dreitausend Mann aus Tyls gewaltigem Stamm legten ihre alten Waffen aus der Hand und ließen sich im Gebrauch der Schußwaffen unterweisen. Tag und Nacht war Jims kleiner ‘ Stamm auf dem Schießstand. Jeder unterwies nur einen Neuling. Es wurde der Umgang mit Gewehren und Pistolen geübt, und wenn die benötigte Fertigkeit erworben war, bekam jeder zwanzig Rollen Munition und mußte sich im Hauptlager zurückmelden. Dazu bekam er den Befehl mit auf den Weg, die Waffe keinesfalls vor dem Kampf abzufeuern.

Var diente unterdessen als Verbindungsmann zwischen dem Herrn und Tyl und den Unterführern. Der Waffenlose brütete über seiner Karte und machte sich Notizen über die anzuwendende Strategie. »Wir sind Mäuse«, sagte er geheimnisvoll.

»Wir müssen uns die Taktik der Mäuse zunutze machen. Die anderen wissen, daß wir da sind, sie wissen aber nicht genau, wann und wie wir angreifen werden. Und sie werden ihre Geiseln nicht töten, ehe sie nicht sicher sind, daß sie sie nicht mehr zu Schacherzwecken benutzen können. Wir werden versuchen, sie zu überwältigen, ehe sie es merken. Dennoch erwarte ich nicht, daß ich aus diesem Feldzug als glücklicher Mensch hervorgehe.«

Die einzige Geisel, von der Var wußte, war Sol, der frühere Herr des Imperiums. Warum war dessen Wohlergehen mit einemmal so wichtig? Der Herr war doch gewiß nicht wieder auf einen Wettstreit mit ihm aus.

Man war nun bereit. Die Männer waren gut ausgebildet und in einem Ring, der den gesamten Berg umschlang, aufgestellt. Spezialeinheiten bewachten die Untergrundbahn und ihre untereinander verbundenen Tunnels. Fremde durften nicht in die Nähe. Frauen und Kinder mußten in ein Lager, einen Tagesmarsch entfernt.

Alles war bereit. Und doch kam es noch nicht zum Angriff, so daß die Männer mit der Zeit nervös wurden. Der Berg übte eine eigenartige Faszination aus. Sie hatten Feuerwaffen und glaubten, sie könnten damit jede Festung erobern, aber die Eroberung des Berges, das war der Sieg über den Tod selbst!

Und am ungeeignetsten Tag überhaupt setzte der Herr die Truppen in Bewegung. Trotz Tyls Enttäuschung und Vars Verblüffung ging er auf dem Höhepunkt eines gewaltigen Gewitters zum Angriff über.

Var und Tyl standen an der Seite des Namenlosen und beobachteten die Vorgänge von einer geschützten Stelle aus. Der Regen war so stark, daß man fast nichts sehen konnte.

»Die Blitze werden ihre Fernsehanlagen zeitweise außer Betrieb setzen«, erklärte der Herr. »Das war immer schon so. Der Donner wird unsere Schüsse übertönen. Der Regen wird unser Vorrücken decken und vielleicht sogar die Wirkung ihrer Flammenwerfer mindern. Das und unsere zahlenmäßige Überlegenheit dürften den Ausschlag geben.«

Der alte Kämpfer wußte also genau, was er tat, dachte Var im stillen. Die Bergbewohner würden sich von einem Angriff im Regen überrumpeln lassen.

Der Herr gab ihnen Feldstecher – auch eine von den Altvorderen gerettete Erfindung – und unterwies sie in deren Gebrauch. Damit konnten sie nun entfernte Teile des Berges wie aus nächster Nähe sehen. Der Regen ließ zwar alles verschwommen erscheinen, dennoch war die Wirkung überwältigend.

Var konnte beobachten, wie eine Abteilung auf die ersten vorragenden Metallträger am Fuße des Berges zuhielt. Der Berg bestand eigentlich aus einer abgestorbenen grauen Masse, mit einigen wenigen verformten Bäumen an der Basis und weiter oben ein paar kümmerlichen Pflanzen. Gut genährte Raubvögel hockten auf den Vorsprüngen und warteten! Heute würde ihnen reiche Beute zuteil werden.

Zwischen verbogenem Metall hindurch führten Wege bergan, für deren Überwindung die Truppen bestens ausgerüstet waren. Er konnte sehen, daß sich die Marschreihe bereits auflöste und die Leute sich nach einer günstigen, möglichst bergnahen Deckung umsahen.

Plötzlich erhob sich die Erde gegen sie. Männer wurden durch die Luft geschleudert und landeten auf Felsrücken, auf denen sie sich die Knochen brachen.

»Minen«, sagte der Herr. »Genau das hatte ich befürchtet. Sprengkörper, die man unter der Erde vergräbt. Das Gewicht der anrückenden Truppe löst sie aus.« Er machte eine vielsagende Pause. »Für die Nachrückenden dürfte das Gelände nun sicher sein.«

Das Geräusch weiterer Explosionen aus der Ferne ließ vermuten, daß das gesamte Gebiet um den Berg mit Minen abgesichert war. Woher der Herr wohl so viel wußte, fragte Var sich. Der Herr verbrachte zwar sehr viel Zeit mit Lesen, doch war es, als hätte er die ganze Welt bereist und alle ihre Geheimnisse erfahren.

Eine zweite Angriffswelle brandete gegen den Berg und ging in Deckung. Die Minenexplosionen verstummten.

Die Krieger kletterten unter und zwischen den verbogenen Trägern hindurch und folgten den Pfaden, die man ihnen eingehämmert hatte. Aus dieser Entfernung sah die Marschreihe aus wie eine züngelnde Schlange, die auftauchte und dann wieder teilweise hinter einer Deckung verschwand. Schnell hatten die Krieger das erste Plateau erreicht.

Feuer brach aus den im Boden eingelassenen Röhren.

Jetzt erst glaubte Var es. Er konnte das verbrannte Fleisch der Sterbenden riechen.

Viele starben, doch es rückten bereits weitere nach. Sie griffen die Röhren von der Seite her an, denn das Feuer konnte immer nur aus einer Richtung gleichzeitig kommen. Sie schossen in die Öffnungen hinein, und die mit Keulen und Stangen Ausgerüsteten schlugen auf die vorstehenden Röhren und demolierten sie, bis schließlich das Feuer erlosch. Den Rest besorgte der Regen.

»Deine Leute sind tapfer und geschickt«, sagte der Herr zu Tyl.

Tyl ließ dieses Lob kalt. »Bei sonnigem Wetter hätte kein einziger überlebt. Das weiß ich genau.«

Und dann setzte das Abwehrfeuer ein. Die bereits verminderten und blessierten Truppen gewannen an Höhe, waren aber den versteckten Abwehranlagen der Unterwelt hilflos ausgesetzt – und die Verteidiger setzten andere Waffen ein als Pistolen.

»Maschinengewehre«, sagte der Namenlose. »Dagegen können wir nicht an. Laßt zum Rückzug blasen.«

Doch es war zu spät. Nur wenige kehrten vom Berg zurück.

Nachdem man die Verluste einigermaßen korrekt festgestellt hatte, wußte man, daß fast tausend Mann bei diesem einen Angriff um das Leben gekommen waren. Bei den Verteidigern schien es kein einziges Opfer zu beklagen zu geben.

»Haben wir verloren?« fragte Var zögernd im Schutze des Kommandozeltes. Er fühlte sich schuldig, weil er keinen sicheren unterirdischen Weg gefunden hatte und weil er seinen Erkundungsgang nicht hatte geheimhalten können. Viele tapfere Männer hätten noch am Leben sein können…

»Nur den ersten Kampf. Nicht den ganzen Feldzug. Wir werden das eingenommene Gebiet gut beobachten. Dort können sie keine neuen Minen und Flammenwerfer installieren. Und dazu wissen wir, wo sie ihre Maschinengewehre plaziert haben. Wir werden sie belagern. Wir werden Katapulte bauen und ihre Nester bombardieren. Wir werden sie mit Granaten eindecken. Mit der Zeit wird der Sieg uns zufallen.«

Ein Krieger näherte sich dem Eingang. »Ein beschriebenes Papier«, berichtete er. »Es wurde in einem Metallkästchen in unser Lager geworfen. An Euch adressiert.«

Der Herr nahm es entgegen. »Deine Kundigkeit des Lesens hat vielleicht den Verlauf des Kampfes zu unseren Gunsten gewendet.«

Geschmeichelt machte sich der Krieger wieder auf den Weg.

Der Herr studierte die Nachricht. Er lächelte grimmig. »Wir haben sie beeindruckt! Sie wollen mit uns verhandeln.«

»Sie wollen sich kampflos ergeben?«

»Nun, das nicht gerade.«

Var sah ihn verständnislos an. Der Herr las vor: »Wir schlagen zur Vermeidung von sinnlosen Opfern an Menschen und Material vor, den Kampf durch einen Zweikampf auszutragen. Ort: Das Plateau am Gipfel des Mount Muse, zwölf Meilen südlich von Helicon. Datum: 6. August, B 118.

Sollte unser Vertreter gewinnen, werdet Ihr die Feindlichkeiten einstellen, euch aus diesem Gebiet für immer zurückziehen und keinen weiteren Angriff auf Helicon unternehmen. Sollte euer Vertreter gewinnen, werden wir euch Helicon unversehrt, übergeben. Verständigt uns über die Fernsehanlage in der nächsten Herberge!«

Nach einer Weile fragte der Herr ihn: »Var, wie würdest du das nennen?«

Var wußte keine Antwort darauf.

»Klingt das nicht recht vernünftig? Glaubst du, unser Vertreter könnte den ihren im Einzelkampf besiegen?«

Var bezweifelte nicht, daß der Herr einen jeden, den ihm die Unterwelt entgegenschicken würde, besiegen konnte. Er nickte.

Der Herr zog eine Karte hervor. »Das hier ist der Berg. Siehst du, wie sich die Höhenlinien zusammendrängen?«

Wieder nickte Var.

»Das bedeutet, daß der Berg an dieser Stelle außergewöhnlich steil ist. Als ich ihn vermaß, sah ich, daß ich ihn nicht besteigen konnte. Jedenfalls nicht so ohne weiteres. Dafür bin ich zu ungeübt. Und am Gipfel liegen große Felsblöcke.«

Var sah nun vor seinem geistigen Auge, wie diese Blöcke von einem flinken Kletterer zufällig ins Rollen gebracht, einem langsamen auf den Kopf fielen. Der Namenlose war im Kampf unschlagbar, doch solche in Bewegung geratene Felsblöcke konnten ihn daran hindern, überhaupt den Gipfel zu erreichen. Vielleicht hatte man diesen Schauplatz eigens gewählt, damit man seine Teilnahme unterband und die Wahl eines geringeren Kämpfers erzwang.

»Dann also – ein anderer? Wir haben viele gute Krieger.« Var sagte »wir«, obgleich er wußte, daß er noch nicht Teil des Imperiums war.

»Das wird eine Kletterprobe und nicht nur einen Kampfwettstreit geben. Und uns bleiben zur Vorbereitung nur zwei Tage, denn heute haben wir nach dem Unterweltkalender schon den vierten August.«

»Morgen in aller Früh gibt es einen Kletterwettbewerb!« schlug Var vor, wohl wissend, daß seine Worte der Aufregung wegen unverständlich klangen, aber der Herr würde sie schon erfassen.

Der Waffenlose lächelte matt. »Und du befürchtest keinen Betrug?«

Nein, bislang nicht. Doch ihm war klar, daß die Nomaden wie ursprünglich geplant, immer noch den Berg gewaltsam nehmen konnten, wenn der Herr des Berges die durch die Wettkämpfer gefällte Entscheidung nicht anerkannte. Ein Versuch wäre also lohnenswert.

Der Waffenlose konnte seine Gedanken ausloten. »Also gut. Sag Tyl, er soll fünfzig der besten Krieger für einen Kletterwettbewerb auswählen. Heute abend nehme ich Kontakt mit dem Berg auf. Und morgen machen wir Übungen am Mount Muse.«

Sehr optimistisch wirkte er dabei nicht.

*

Am Tage des Wettbewerbs stand Var bei Tagesanbruch am Fuße des Mount Muse und wartete ab, bis das Licht zum Klettern ausreichte. Besser gesagt, ausreichend für die anderen war, denn deren Augen waren im Dunkeln nicht so gut wie Vars. Er hatte gewußt, daß dies seine Aufgabe sein würde, damals, als der Herr sich mit dem Wettkampf einverstanden erklärte. Var, mit seinen verhornten Händen, den hufähnlichen Füßen, seinem jahrelangen Leben in der Wildnis war der geschickteste Kletterer des Lagers.

Klar, daß man ihn aufgestellt hatte. Und da er nicht zum Imperium des Herrn gehörte, konnte kein Mensch ihm die Teilnahme streitig machen.

Tyl hatte ihn lächelnd angesehen und nichts gesagt.

Und um die Mittagszeit hatte Var den Bewerb gewonnen.

»Aber er ist im Ring doch noch ein Neuling!« protestierte der Herr, den diese Entwicklung nicht wenig erstaunte.

Tyl lächelte. »Das hier sind die drei rangnächsten Gewinner. Soll er doch gegen sie antreten.«

Der Waffenlose, der seinetwegen sehr besorgt war, zeigte sich einverstanden. Noch von seiner vormittäglichen Anstrengung ermattet, stand Var nun dem Mann gegenüber, der zehn Minuten nach ihm den Gipfel erreicht hatte. Hätte es sich schon um den Kriegerwettbewerb auf dem Gipfel des Muse gehandelt, so hätte Var ausreichend Zeit gehabt, den Mann zu einem Krüppel zu machen, indem er Felsblöcke auf ihn niederrollen ließ. Und das war der eigentliche Sinn des Kletterwettbewerbes: Der beste Krieger des Imperiums würde im Nachteil sein, wenn er sehr viel langsamer kletterte als der, den der Herr des Berges sandte. Und wenn es dann zum eigentlichen Kampf kam, dann mußte er erst recht besser sein als der andere.

Der zweite im Klettern war ein hagerer Stangenkämpfer, der sich beim Klettern seiner Waffe sehr klug bedient hatte. Var trat in den Ring und ging im Geiste die Ratschläge durch, die der Herr und Tyl ihm gegeben hatten. Stock gegen Stange. Die Stockrapiere waren schneller, die Stangen länger. Stöcke waren aggressiv. Stangen passiver. Stöcke konnten eine doppelte Offensive starten, aber die Defensive eines guten Stangenkämpfers war kaum zu durchdringen. Und wenn der Stock nicht frühzeitig einen Durchbruch errang, würde die Stange schließlich eine gute Gelegenheit erspähen und punkten.

Der Stangenkämpfer war sich dieser Faktoren ebenso bewußt wie Var, und er war weitaus erfahrener. Sein Vorteil war die Zeit, und die wollte er sich offensichtlich zunutze machen. Er wehrte die Attacken nach herkömmlicher Weise ab, machte keine Fehler und forderte Var praktisch zum Angriff heraus.

Und Var tat ihm den Willen. Er attackierte die Waffe und nicht den Kämpfer und schuf damit eine Ablenkung, die er nützte und nach einer Öffnung Ausschau hielt. Er führte Scheinangriffe gegen den Kopf, gegen die Füße, gegen die Handknöchel, solange bis der Mann in seinen Reaktionen langsamer wurde und vor allem unachtsamer.

Sodann richtete Var heftige Schläge auf Kopf und Körper gleichzeitig. Die Stange erwiderte wirbelnd beide Angriffe, aber nicht schnell genug – das vorherige einschläfernde Zwischenspiel hatte gewirkt. Der Hieb auf den Kopf ging daneben, der Angriff auf den Körper aber saß. Mindestens eine Rippe war gebrochen.

Als der Mann sich krümmte und mit seiner Stange auf Vars ausgestreckten Arm zielte, trat Tyl an den Ring. »Blut ist geflossen«, sagte er. »Zieh dich zurück.«

Var hatte gewonnen. Der erreichte Vorteil hätte ihm normalerweise im weiteren Verlauf des Kampfes den Sieg gebracht, und mehr hatte er nicht zu beweisen brauchen. Es hatte keinen Sinn, sich völlig zu verausgaben. Ein Sieg auf dieser Grundlage würde sich bei dem morgigen echten Kampf höchstens gegen ihn auswirken.

Der nächste Gegner war ein Dolchkämpfer. Var zitterte insgeheim, denn Messer waren schnell wie Stöcke, und der Kontakt mit ihnen weitaus gefährlicher. Schwert und Keule konnten sehr eindrucksvolle Waffen sein, ein geschickt geführter Dolch jedoch war im Ring unter Umständen verheerend.

Ein solcher Dolch mußte aber auch richtig gehandhabt werden. Die Flachseite der Klinge war meist wirkungslos, und zum Abwehren gegnerischer Hiebe waren Dolche ungeeignet. Als Angriffswaffen waren sie zwar gut, aber doch weniger wirksam als die einem doppelten Zweck dienenden Stöcke.

Var blieb keine andere Wahl. Er mußte gegen die Klinge antreten und war damit gezwungen, sich in erster Linie auf seine Verteidigung zu konzentrieren. Wenn es ihm gelang, eine Blöße in der Deckung des Gegners auszumachen, ohne daß er selbst seine Deckung opfern mußte, dann konnte er die Runde zu seinem Vorteil wenden. Wenn nicht…

Zunächst führte der Dolch Scheinangriffe aus, und Var mußte ihnen auf herkömmliche Weise begegnen, wie es vorhin der Stangenkämpfer gegen ihn gehalten hatte. Und in weiterer Folge würde der Kampf ähnlich enden, nur würde diesmal er das Opfer sein, wenn es ihm nicht gelang, dieses Schema einmal zu durchbrechen.

Der Dolch ermüdete rasch. Es war ein älterer Mann, etwa im Alter des Herrn. Seine Erfahrung hatte es mit sich gebracht, daß er im Klettern einer der Besten war, doch beim Zweikampf forderte nun das Alter seinen Tribut. Das Nachlassen seiner Reaktionen war kaum merkbar, aber Var spürte, daß das Gleichgewicht sich langsam aber sicher zu seinen Gunsten verschob.

Kaum war ihm dies klargeworden, wußte er auch, daß der Sieg ihm so gut wie sicher war. Mit wachsendem Selbstvertrauen wehrte er die Klingenstöße ab. Und allmählich drängte er den Mann zurück, parierte immer flinker, bis schließlich der hart bedrängte Dolch einen Fehler beging, eine kleine Wunde an der Hand abbekam und zum Verlierer erklärt wurde.

Der Dritte war ein Stockkämpfer. »Ich bin Hul«, sagte er.

Var, den die zwei Begegnungen im Ring und der morgendliche Kletterwettkampf doch ziemlich erschöpft hatten, wußte sogleich, daß er seine Stellung als Wettkämpfer des Imperiums verloren hatte. Denn der Stockkämpfer war einer derjenigen, vor denen Tyl ihn gewarnt hatte, ein Spitzenkönner. Stock gegen Stock. In diesem Fall gab es für Var keinen Vorteil außer den der größeren Übung, und gegen diesen Mann konnte er sie nicht ins Treffen führen.

Hul blieb außerhalb des Ringes stehen. »Var der Stock«, sagte er mit wohlklingender Stimme. »Ich habe dich beobachtet und abgeschätzt. Ich könnte dich im Ring besiegen. Nächstes Jahr vielleicht nicht mehr, aber heute schaffe ich es. Aber ehe du zu Boden gehst, würdest du mir sicher eine Verletzung zufügen, denn du bist stark und entschlossen. Damit wäre ich dann morgen auf dem Berg behindert, und der Fall für das Imperium von vornherein benachteiligt. Überläßt du mir kampflos deinen Platz?«

Diese Bitte war nicht unvernünftig. Hul war ausgeruht, denn auch er war jung und kräftig, und er hatte sich vorbereiten können, während Var kämpfte. Aber auch mit etwas Müdigkeit in den Knochen hätte er siegen können, denn er war ein Meister im Stockkampf. Tyl irrte sich niemals in der Rangfolge, denn seine Aufgabe war es, die führenden Waffenkämpfer des gesamten Imperiums richtig zu reihen. Und da Var nicht aus dem Imperium war, war er nur sich selbst verantwortlich. Andernfalls wäre gar kein Vor-Wettbewerb nötig gewesen. Der Herr oder Tyl hätten den Krieger mit den allerbesten Aussichten ausgewählt und die Sache wäre erledigt gewesen. Var konnte ehrenvoll zurücktreten, denn er hatte sich zweimal als siegreich bewiesen und hätte mit seinem Rücktritt im Interesse des Imperiums gehandelt.

Aber Var war nicht vernünftig. Er hatte geglaubt, das Privileg, für den Herrn kämpfen und sein Gefährte sein zu dürfen, beim Klettern gewonnen und im Ring bestätigt zu haben. Das geforderte Opfer erregte seinen Zorn. »Nein!« rief er. Wie ein finsteres Grollen klang es. Er wollte sein Recht nicht aufgeben. Wenn überhaupt, dann mußte man es ihm nehmen.

Unbeirrt wandte Hul sich nun an Tyl. »Wenn der Waffenlose es zuläßt, möchte ich Var weichen. Einer von uns beiden muß seine Kraft sparen. Und wenn wir miteinander kämpfen, kann keiner damit haushalten. Er braucht die Ruhepause. Und er hat den Kampfgeist.«

Tyl nickte und gab damit stillschweigend auch das Einverständnis des Herrn zu erkennen. Var sollte in den folgenden Jahren noch oft an diese Handlungsweise Huls denken, und jedesmal, wenn er wieder daran dachte, hatte er wieder etwas daraus gelernt.