X

Var erwachte mehrere Male in dieser Nacht, denn die Kälte in dieser Höhe machte ihm zu schaffen. Ein Wind war aufgekommen und wehte die kostbare Wärme von seinem Rücken. Nur vorne, wo Soli sich an ihn schmiegte, war er warm. Allein hätte er überleben können, aber so war es besser.

Das Mädchen bewegte sich im Schlaf, doch immer, wenn Hände oder Füße sich ins Kalte streckten, rollte sie sich rasch wieder ein. Dennoch waren ihre Hände eiskalt. Hätte sie allein geschlafen, so hätte sie am Morgen kaum einen Stock in der Hand halten können. Var legte seine groben Hände über ihre feinen, zierlichen und schützte sie.

Schließlich kam die Dämmerung. Sie erhoben sich frierend und vollführten Sprünge, um den Blutkreislauf in Schwung zu bringen. Wieder mußten sie ihre Notdurft verrichten, doch es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich besser fühlten. Nebel umgab das Plateau und ließ die Täler ringsum unwirklich erscheinen.

»Was ist das?« fragte Soli und streckte die Hand nach ihm aus.

Einmal mehr war Var um eine Antwort verlegen. Er wußte, was sie meinte, hatte aber keine Ahnung, wie die Frauen es nannten.

»Mein Vater Sol hat das nicht«, sagte sie.

Var wußte, daß sie sich irrte, denn hätte sie recht gehabt, wäre sie niemals geboren worden.

»Ich habe Hunger«, sagte sie. »Und Durst.«

Var verspürte ebenfalls Hunger und Durst. Sie waren der Lösung des Problems nicht näher als am Abend zuvor. Sie mußten kämpfen. Der Sieger würde absteigen und fürstlich speisen, was sie oder er begehrte. Der andere aber würde niemals wieder Nahrung brauchen. Er sah die zwei Stöcke, die quer über der Mittellinie lagen. Ein Stockpaar – einer gehörte ihm der andere ihr.

Sie bemerkte seinen Blick. »Müssen wir kämpfen?«

Var war es, als könne er auf diese Frage niemals eine Antwort finden. Einerseits vertrat er hier das Imperium, andererseits mußte er seinen Schwur Sola gegenüber halten. Er zuckte die Schultern.

»Es ist neblig«, sagte sie listig. »Kein Mensch kann uns sehen.«

Sollte das heißen, daß sie ohne Augenzeugen nicht kämpfen sollten? Nun ja, für eine Ausrede reichte es. Der Nebel zeigte keine Anstalten, sich aufzulösen, und aus den Tiefen war kein Laut zu hören. Die Welt war nichts als Weiße.

»Warum steigen wir nicht ab und holen uns etwas zu essen?« fragte sie. »Und steigen wieder auf, noch ehe uns jemand sehen kann?«

Die Einfachheit und Direktheit ihrer Denkweise war erstaunlich. Ja, warum nicht? Er war froh, die Feindseligkeiten hinausschieben zu können, denn er wußte jetzt gar nicht mehr, ob er gewinnen oder verlieren wollte.

»Waffenruhe – bis der Nebel sich lichtet?« fragte er.

»Waffenruhe – bis der Nebel sich lichtet. Diesmal habe ich dich sehr gut verstanden.«

Und Var freute sich.

Sie machten den Abstieg auf Vars Bergseite, nachdem sie sich die Gurte für die Stöcke wiedergeholt hatten. Der dritte und vierte Stock blieben unauffindbar, die Halterungen aber lagen noch dort, wohin sie gefallen waren. Soli hatte Befürchtungen geäußert, daß die Unterwelt jeden beobachtete, der ihre Seite des Berges beging. »Fernseheinrichtungen – und ich weiß nicht, wo sie versteckt sind.«

»Soll das heißen, daß draußen Kameras angebracht sind?« Var wußte, was Fernsehen war. Er kannte die merkwürdigen, lautlosen Bilder aus den Kisten in den Herbergen.

»Ja«, sagte sie. »Kleine Aufnahmekameras, in Steinen angebracht, ferngesteuert.«

Var ließ das Thema fallen. Er hatte noch nie einen mit einem Fernsehauge ausgerüsteten Stein gesehen, doch im Ödland hatte es noch seltsamere Dinge gegeben.

Am Fuße des Berges war der Nebel womöglich noch dichter. Sie hielten sich an den Händen fest und schlichen zum Lager des Herrn. Doch Var zögerte. »Man wird mich erkennen«, flüsterte er.

»Oh.« Sie war erschrocken. »Könnte ich statt dessen hinein?«

»Du kennst die Anlage nicht.«

»Aber ich habe Hunger!« jammerte sie.

»Pst!« Er führte sie außer Hörweite. Ein Wachposten konnte sie hier jederzeit aufstöbern.

»Sag mir rasch, wie es da drinnen aussieht«, flüsterte sie verzweifelt. »Ich gehe rein und klaue uns etwas Eßbares.«

»Stehlen ist unehrenhaft!«

»Im Krieg ist es gerechtfertigt. Noch dazu aus feindlichem Lager.«

»Es ist mein Lager!«

»Ach, ja.« Sie überlegte. »Ich könnte trotzdem hinein. Und könnte um Essen bitten. Man kennt mich ja nicht.«

»Ohne Kleider?«

»Aber ich habe Hunger!«

Var gab keine Antwort. Sein Hunger wurde immer ärger.

Sie fing zu weinen an.

»Schon gut.« Var kämpfte mit Schuldgefühlen. »In der Herberge bekommst du etwas zum Anziehen.«

Sie liefen die eine Meile bis zur Herberge. Ehe Var Protest einlegen konnte, hatte Soli ihm Stock und Halterung in die Hand gedrückt und war im Inneren verschwunden. Gleich darauf kam sie in Kittel, Sandalen und mit einem Haarband geschmückt wieder. Sauber und frisch sah sie aus.

»Ein Glück, daß niemand drinnen war!« regte Var sich auf.

»Doch, da war jemand. Eine Frau, die auf ihren Krieger wartete. Ich glaube, die Frauen werden aus dem Hauptlager ferngehalten. Sie machte einen Luftsprung, als ich hereinkam. Ich sagte ihr, ich hätte mich verirrt, und sie half mir.«

Wie einfach! Daran hätte er nie gedacht, oder aber er hätte es nicht gewagt. War sie frech oder nur naiv? »Hier«, sagte sie und reichte ihm ein Kleiderbündel.

Angezogen machten sie sich daran, das Hauptlager auszukundschaften. Var fiel ein, daß ja eigentlich in der Herberge Lebensmittel hätten sein müssen, doch dann fiel ihm auch ein, daß die Nomaden diese Unterkünfte regelmäßig ausräumten. Für ein Lager von Bewaffneten brauchte man einen großen Lebensmittelvorrat, und die Herbergsnahrung war der Imperiumsnahrung weit überlegen. Andernfalls hätten sie ihr Problem leicht lösen können. Ihr Ernährungs-Problem, versteht sich.

»Ich werde zum Hauptzelt gehen müssen«, sagte sie. Var zeigte sich einverstanden. Der Hunger machte ihn kühner, nun, da sie ihre Blößen bedeckt hatten. »Ich werde sagen, ich wäre die Tochter von irgendwem, und ich möchte Essen für meine Familie holen.«

Var hielt dies für ein allzu kühnes Unterfangen, hatte aber keinen anderen Vorschlag parat. »Sei vorsichtig«, sagte er.

Er hielt sich im Wald in der Nähe des Zeltes versteckt und getraute sich nicht, sich wegzurühren, aus Angst, sie könnte ihn nicht mehr finden. Soli verschwand im Nebel.

Und dann fiel ihm ein, was ihm schon längst hätte einfallen sollen: Daß nämlich im ganzen Lager nur Männer waren, und daß man jemanden nur einließ, wenn man ihn erkannte. Ein Fremder kam an den Posten nicht vorbei, schon gar nicht ein kleines Mädchen.

Und jetzt war es zu spät.

Soli hielt auf das große Zelt zu, fasziniert von seinen Ausmaßen. Ihr Herz pochte aufgeregt. Mit ihren Stöcken hätte sie sich wohler gefühlt, doch den einen Stock hatte sie bei Var gelassen, denn Kinder – besonders Mädchen – trugen hier keine Waffen.

Am Zelteingang stand ein Posten. Sie wollte sich einfach an ihm vorbeidrücken, als gehöre sie hierher, doch er versperrte ihr mit seiner Stange den Weg. »Wer bist du?« fragte er.

Sie dachte nicht daran, ihren richtigen Namen zu verraten. In aller Eile mußte sie einen erfinden. »Ich bin Sami. Mein Vater ist müde. Ich soll ihm Essen holen – «

»In diesem Lager haben wir keinen Sam, Mädchen. Einen so sonderbaren Namen hätte ich mir sicher gemerkt. Was willst du wirklich?«

»Sam das Schwert. Er ist eben angekommen. Er – «

»Kind, du lügst. Kein Krieger bringt seine Familie in dieses Lager. Ich bringe dich zum Herrn.« Er schubste sie mit der Stange ins Zelt.

In diesem Augenblick war sonst niemand zu sehen. Soli übersprang die Stange, stieß ihm die ausgestreckten Finger in die Augen, und schlug ihm, als sein Kopf zurückschnellte, mit der Handkante gegen die Kehle. Er brach lautlos zusammen.

Sie konnte ihn nicht wegschaffen, weil er zu schwer war. So ließ sie ihn liegen und trat ein, nachdem sie flüchtig ihren Kittel zurechtgezupft hatte. Wenn sie flink war, konnte sie sich noch immer das Essen verschaffen.

Aber das Frühstück war schon ausgegeben worden, und sie wagte nicht, den Koch direkt zu behelligen.

»Kol wurde überfallen!« rief jemand draußen vor dem Eingang. »Das Gelände durchsuchen!«

Sie würde nicht mehr rechtzeitig hinauskommen! Aber ihr Hunger trieb sie weiter. Sie mußte das Versagen durch Tollkühnheit wettmachen, wie Sosa ihr immer gepredigt hatte. Sosa wußte immer, wie man aus jämmerlichen Situationen das Beste herausholte.

Sie zog sich an den Eingang zurück, wohl wissend, was sich dort tat.

Krieger kamen herbeigelaufen, hoben den Bewußtlosen hoch und riefen: »Wir haben nichts gesehen!«

»Ein Schlag auf die Kehle!«

»Weit kann er nicht gekommen sein. Versucht es mit einem Netz!«

Und dann kam ein großer Mann daher. Soli erkannte ihn sofort: Der Namenlose, Herr über das ganze Imperium. Er bewegte sich wie eine dahinrollende Maschine, und erschütterte den Boden mit der Wucht seiner Schritte. Häßlich war er. Und seine Stimme war fast so arg wie die Stimme Vars.

»Das war ein Angriff ohne Waffe. Der Berg hat einen Spion ausgeschickt.«

Mehr wollte Soli nicht hören. Sie lief aus dem Zelt und warf sich mit ausgestreckten Armen dem Ungeheuer entgegen.

Erstaunt faßte er sie an den Schultern und hob sie mit erschreckender Kraft hoch. »Was haben wir denn da?«

»Herr!« rief sie aus. »Helft mir! Ein Mann verfolgt mich!«

»Ein Kind!« sagte er. »Ein kleines Mädchen. Welche Familie?«

»Ich habe keine. Ich bin Waise. Ich bin gekommen, um mir Nahrung zu holen.«

Der Herr setzte sie nieder, hielt sie aber mit großer Kraft an einer Schulter fest. »Die Hand, die Kors Hals traf, war nicht größer als deine, Kind. Ich habe die Spuren gesehen. Du bist hier fremd, und ich kenne die Art des Berges. Du – «

Sie handelte, noch ehe sie die volle Bedeutung seiner Worte erfaßte. Ihre Knöchel rammten sich in seinen Umhang und zielten auf seinen Solarplexus.

Es war, als schlüge sie gegen eine Mauer. Sein Leib war aus Stahl.

»Versuch es ruhig noch einmal, kleine Spionin«, sagte er und lachte dabei.

Sie versuchte es. Ihr Knie bohrte sich in seinen Schritt, und eine Hand traf seinen Nacken.

Der Namenlose stand da und lachte. Und sein Griff an ihrer Schulter lockerte sich nicht. Mit der freien Hand schob er seinen Umhang zurück.

Sein Torso war eine unheimliche Muskelmasse, die sich mit seiner Ahnung nicht völlig im Einklang befand. Der Nacken war eine fette Knorpelmasse.

»Kind, ich kenne die Tricks deines Führers. Was treibst du bei uns? Unser Kampf sollte durch einen Zweikampf unserer Auserwählten auf dem Berg ausgetragen werden.«

»Herr, ich… ich glaubte, er wolle mich angreifen. Er drohte mir mit der Stange – « Sie suchte sich krampfhaft eine passende Geschichte zusammen. »Ich bin vom Stamm Pan.«

Das war Sosas Stamm gewesen, ehe sie zum Berg gegangen war. Dieser Stamm bildete seine Frauen im waffenlosen Kampf aus. »Ich bin ausgerissen. Und ich wollte mir Essen holen, sonst nichts.«

»Stamm Pan.« Er überlegte. Etwas sonderbar Sanftes streifte sein Gesicht. »Komm mit.« Er ließ sie los und ließ die Neugierigen stehen.

Keiner der anderen Krieger sagte ein Wort. Sie wußte, daß ein Fluchtversuch im Moment sinnlos war. Gehorsam folgte sie dem Waffenlosen.

Er betrat sein großes eigenes Zelt. Dort gab es Essen. Ihr leerer Magen ächzte nach etwas Eßbarem.

»Du hast Hunger – iß jetzt«, sagte er und setzte ihr eine Schüssel Hafergrütze und ein Gefäß mit Milch vor.

Begierig wollte sie nach beidem fassen, doch dann fiel ihr rechtzeitig ein, daß alles eine Falle sein könnte. Die Tischsitten der Nomaden unterschieden sich von denen der Unterwelt. Jeder Handgriff würde ihre Herkunft verraten. Und sie war nicht einmal sicher, ob die Nomaden überhaupt Tischgerät verwendeten.

Sie tauchte eine Faust in die Grütze und führte sie zum Mund. Die Milch ließ sie unberührt.

Der Namenlose sagte nichts.

»Ich habe Durst«, sagte sie.

Wortlos brachte er ihr einen Weinschlauch.

Sie setzte das Mundstück an. Und schnappte nach Luft. Es war eine bittere, schäumende Flüssigkeit. »Das ist kein Wasser!« rief sie. Ihre Wut war nicht gespielt.

»Beim Stamm Pan gibt es also keine Herbergen und kein Selbstgebrautes?« fragte er.

Da merkte sie, daß sie des Guten zuviel getan hatte. Die meisten Nomaden kannten natürlich zivilisierte Tischsitten, da es in den Herbergen Geschirr und Besteck gab. Und die wirklich unzivilisierten Stämme mußten Selbstgebrautes trinken.

Soli fing zu weinen an, weil sie unter dem unheimlichen Äußeren des Herrn einen weichen Menschen spürte. Das war ihre einzige Hoffnung.

Er brachte ihr Wasser.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte er, während sie gierig trank. »Bob würde niemals ein Kind ins Herzland des Feindes schicken. Das wäre sehr dumm, besonders jetzt.«

Soli hätte gern gewußt, woher er den Namen ihres Anführers kannte. Ach ja, sie waren ja miteinander in Verbindung getreten, um den Kampf auf dem Berg zu vereinbaren.

»Und kein gewöhnliches Kind beherrscht die Kunst der waffenlosen Selbstverteidigung.«

Sie merkte, daß es eigentlich ihre Fehler waren, die geholfen hatten, ihn abzulenken. »Kann ich meinem Freund etwas mitbringen?« fragte sie, weil ihr Var einfiel.

Der Namenlose hatte eben ein Gesicht gemacht, als wolle er ihr eine Frage stellen, statt dessen brach er in Gelächter aus. »Nimm soviel du tragen kannst, du Lausejunge! Dein Freund soll meinetwegen tagelang prassen, und es soll ihn glücklicher machen, als ich es bin!«

»Ich habe wirklich einen Freund«, sagte sie. Sein Ton erregte ihren Unwillen. Sie spürte, daß er sie aufziehen wollte, weil er glaubte, sie wollte alles für sich haben.

Er brachte einen Sack und stopfte ihn mit Eßbarem voll und vergaß auch nicht zwei Weinschläuche. »Nimm das und verschwinde aus meinem Lager, Kind. Geh weit weg. Geh zurück zu Pan – dort gibt es gute Frauen, sogar die Unfruchtbaren sind dort gut. Und besonders die. Hier haben wir Krieg, und du bist trotz deiner Verteidigungskünste ständig in Gefahr.«

Sie warf sich den schweren Sack über die Schulter und ging zum Ausgang.

»Mädchen!« rief er plötzlich, und sie machte vor Schreck einen Sprung, weil sie fürchtete, er hätte sie doch durchschaut. Bob, der Herr Helicons, war so. Er spielte mit einem Menschen, gab ihm scheinbar recht und verfuhr dann überraschend um so grausamer mit ihm. »Wenn du des Wanderns überdrüssig wirst, dann besuch mich einmal. Ich würde dich an Kindes Statt annehmen.«

Sie war erleichtert, weil sie wußte, daß es als Kompliment gemeint war. Und ihr gefiel dieser riesige schreckliche Mann.

»Danke«, sagte sie. »Vielleicht werdet Ihr eines Tages meinem richtigen Vater begegnen, ich glaube, ihr würdet aneinander Gefallen finden.«

»Dann bist du also noch nicht lange verwaist«, murmelte er, und lachte. Unter diesen Muskeln verbarg sich eine erschreckende Intelligenz. »Wer ist dein Vater?«

Plötzlich fiel ihr ein, daß sich die, beiden schon begegnet waren, denn der Namenlose hatte ihrem Vater das Imperium und ihre leibliche Mutter weggenommen. Sie wagte nicht mehr, Sols Namen zu nennen, denn die beiden Männer mußten Todfeinde sein. »Danke«, sagte sie hastig und tat so, als hätte sie seine Frage gar nicht gehört. »Lebt wohl.« Und sie huschte aus dem Zelt. Er ließ sie laufen. Sie wurde nicht verfolgt, weder offen noch heimlich.