IX

Wieder Dämmerung. Diesmal kannte er die beste Aufstiegsroute schon, eine, die ihm eine halbe Stunde Aufstiegszeit ersparte. Und er brauchte auf niemand anderen zu warten. Dennoch war es mühsam und gefährlich, und ohne das richtige Licht wagte er es nicht. Ohne natürliches Licht. Wenn er nämlich eine Taschenlampe benutzte, hätte der gegnerische Kletterer ihn womöglich sehen können.

Auf der entgegengesetzten Seite würde der beste Kletterer, den der Berg aufbieten konnte, ebenfalls den Aufstieg beginnen. Er würde nackt sein, bis auf Schuhe allenfalls, denn der Herr hatte es so vorgeschlagen. Auch Var war nackt. Damit sollte sichergestellt werden, daß niemand heimlich eine Schußwaffe oder eine andere unerlaubte Waffe mit sich führte. Die Waffen, die der Herr für den Kampf benannt hatte, waren die im Ring üblichen: Keule, Stange, Stock, Schwert, Dolch oder Morgenstern. Kein Seil, kein Netz und keine Peitsche. Männer beider Gruppen wollten von weitem zusehen, damit keiner der Bergsteiger gegen die Bedingungen verstieß.

Natürlich würde man den Kampf auf dem Gipfelplateau nicht deutlich verfolgen können, weil die Entfernung zu groß war. Aber es würde nur der Sieger überleben, deswegen konnte es am Ausgang des Kampfes keine Zweifel geben.

Nun war es endlich hell genug. Var ging los, die Stöcke mittels eines fingerbreiten Gurtes um die Hüften geschnallt. Die Morgenkühle prickelte auf seiner Haut. Er freute sich auf die Wärme des Kletterns – und insgeheim darauf, daß er endlich den allzu neugierigen Blicken entfloh, die auf seinem bloßen Körper ruhten. Er wußte, daß er keine Augenweide war.

Der Aufstieg begann. Erst war es leicht, denn die Steigung war gering und er wich den Spalten aus, die in der Dunkelheit wahre Fußangeln darstellten. Dann gelangte er zu den geröllübersäten Schutthalden. Dort war es, wo er viel Zeit gewann, weil er eine hervorragende Route ausgearbeitet hatte. Tags zuvor hatte ihn an dieser Stelle ein Mann überholt, und Var hatte sich genau gemerkt, welchen Weg der andere genommen hatte. Der Vertreter des Berges mußte schon ein ausgezeichneter Athlet sein, wenn er Vars Zeit unterbieten wollte, und dazu kam der Umstand, daß er keinen Übungsaufstieg gemacht hatte. Nicht in jüngster Zeit jedenfalls. Natürlich war es möglich, daß der gegnerische Kletterer den Mount Muse vor der Belagerung der Nomaden täglich bezwungen hatte. Vielleicht hatte man auf der Seite des Gegners gerade aus diesem Grund diese Bedingungen gewählt. Wie dem auch sein mochte, Var wußte, daß er es hier mit jedem aufnehmen konnte.

Und er war sicher, daß die andere Bergflanke nicht besser aussah als seine. Das hatte er vom Gipfel aus feststellen können. Die Vereinbarung, daß er nicht auf die andere Seite dürfe, um sich einen Vorteil beim Klettern zu verschaffen oder gar den anderen zu behindern, war ganz sinnlos. Und er hatte sich vergewissert, daß es auf der anderen Seite keinen geheimen, von den Alten erbauten Tunnel gab. Die Bedingungen waren also fair.

Der letzte Abschnitt war der schwierigste. Der Hang wurde so steil, daß er fast senkrecht in die Tiefe abfiel. Doch es handelte sich dabei um eine durch die Perspektive hervorgerufene Täuschung. Und während des Kletterns sah Var nicht hinter sich.

Er stieß nun auf stufenartige Terrassen und auf Vorsprünge verschiedener Breite, von ganz schmalen Rissen in der Wand angefangen bis zu mehreren Fuß breiten Simsen. Hier bildeten Vars kurze verhornte Finger und harten Zehen wichtige Trümpfe, denn er fand Halt auf schmälster Tritt- und Griffläche. Immer höher kam er, bis er schließlich die offene Flanke des Berges kreuzte, voller Nervosität, weil er auf herunterkollerndes Geröll achten mußte. Falls der Gegner doch als erster oben angelangt war…

Aber Var sollte triumphieren. Es kamen keine Blöcke, und als er über den Rand des Gipfelplateaus lugte, fand er es leer vor.

Nun hing alles von seinem Kampfgeschick ab.

Er lief zur entgegengesetzten Seite des kleinen, etwa zehn Schritt im Durchmesser messenden Plateaus.

Der Krieger der Unterwelt war noch unterwegs. Var sah von oben den bloßen Rücken, den runden Kopf, die sich bewegenden Glieder, konnte aber keine weiteren Einzelheiten ausmachen. Der Mann hatte schätzungsweise noch fünf Minuten bis zum Gipfel vor sich. Das war eine große Erleichterung, denn dies bedeutete, daß Var zu Recht als Vertreter des Imperiums aufgestellt worden war. Die langsameren Teilnehmer hätten den Gipfel zu spät erreicht, und ganz besonders dieser Hul. Was hätten Hul sein Geschick und seine Kühnheit genützt, wenn man ihm noch während des Aufstiegs den Schädel zerschmettert hätte!

Var sah sich nach handlichen Steinen um. Ja, da lagen kleine, zum Werfen sehr geeignete. Und manche waren zum Hinunterrollen groß genug – und wehe, wenn sich ihnen etwas in den zerschmetternden Weg stellte!

Er wählte einen Stein zum Werfen aus und wog ihn in der Hand. Sein Griff war unbeholfen, aber zielen konnte er recht gut. Er spähte hinunter. Der Gegner hing am Rande eines schmalen Simses und tastete sich schrittweise weiter. Im Moment war er völlig hilflos. Wich er jetzt einem Stein aus, würde er abstürzen. Und er sah kein einziges Mal nach oben, so als käme ihm gar nicht der Gedanke an einen vorzeitigen, heimtückischen Angriff.

Var legte den Stein wieder weg, empört über sich selbst, weil er der Versuchung nachgegeben hatte, und schritt zurück zur anderen Seite des Plateau. Der Herr hatte ungezählte Male betont, daß auch außerhalb des Ringes der Ehrenkodex galt. Im Ring aber gab es nur das Gesetz von Tod und Sieg. Außerhalb des Ringes gab es keinen Sieg ohne Ehre. Nun war dieses Plateau der Ring. Die Menschen der Unterwelt mochten vielleicht nicht den Ehrbegriff der Nomaden teilen, aber dieser eine ganz bestimmte Fall war eindeutig eine Ausnahme. Er mußte das Eintreffen des Kriegers abwarten, ehe er die Feindseligkeiten eröffnete.

Var saß mit gekreuzten Beinen auf seiner Seite des Plateaus, als der andere Krieger endlich nach oben kam. Als erstes sah Var, daß er Stöcke trug, in einer um den Hals hängenden Schlinge. Er sollte also gegen seine eigene Waffe antreten!

Als nächstes fiel ihm auf, daß der Gegner klein war – besser gesagt winzig, fast zwergenhaft. Er reichte Var kaum bis zur Brust, und Var war, obwohl großgewachsen, kein Riese.

Das dritte Auffällige aber sah er nicht, denn es fehlte. Der nackte Krieger war entweder ein Kastrat oder – Oder weiblichen Geschlechts.

»Ich bin bereit«, sagte der Krieger des Berges und faßte die zwei Stöcke.

Ja, es war ein Mädchen. Ihre Stimme war hoch und wohltönend. Das dichte schwarze Haar reichte ihr bis an die Ohren, ihre Züge waren anmutig, der Körper geschmeidig und zart. An den Füßen trug sie festgeschnürte Sandalen. Sie konnte nicht älter sein als neun, also halb so alt wie Var, der nach der Berechnung des Herrn etwa achtzehn war.

Nein, ein Irrtum war ausgeschlossen. Da stand sie, bewaffnet und zeigte weder Scheu noch Überraschung. Die Unterwelt hatte zur Vertretung ihrer Interessen ein Kind ausgeschickt.

Aber warum? Man wollte doch nicht etwa seine Ritterlichkeit herausfordern? Erwarteten sie, daß er das kleine Mädchen siegen ließ? Doch nicht, wenn das Schicksal von Berg und Imperium auf dem Spiel stand. Nicht, nachdem tausend Mann im Kampf gefallen waren. Und falls der Berg aufgeben wollte, dann wäre es wohl nicht notwendig gewesen, etwas so Absonderliches zu arrangieren und ein Kind zu opfern.

Var stand auf und entledigte sich seines Haltegürtels, hauptsächlich deswegen, damit er etwas zu tun hatte, während er nachdachte. Ihm kam natürlich auch der Gedanke, daß er sich in Gegenwart eines kleinen Mädchens seiner Nacktheit schämen mußte, doch sein Schamgefühl reichte nur bis zu seinem ersten Kontakt mit der Zivilisation zurück und saß nicht sehr tief. Der Ehrenkodex war ihm momentan wichtiger als persönliche Scham. Und dies war keine Frau, sondern ein Kind. Wäre da nicht ihre kleine Spalte gewesen, hätte sie ebensogut ein Junge sein können. Ihr Haar war ebenso kurz, ihr Brustkorb nicht breiter.

Er dachte flüchtig an Sola.

Vorsichtig ging er auf das Kind zu. Er bezweifelte, ob sie mit den großen Stöcken überhaupt richtig umgehen konnte.

Ihre schlanken Arme bewegten sich ungeheuer schnell. Und ihre zwei Stöcke begegneten seinem Angriff sehr gekonnt. Sie wußte genau, was sie tat.

Und so kämpften sie. Var besaß Größe und Kraft, das Kind aber verfügte über Schnelligkeit und Geschick. Die Chancen waren erstaunlicherweise ausgewogen.

Allmählich wurde Var klar, daß seine sonderbare Lage keineswegs ein bloßes Spiel war. Er war darauf eingestellt gewesen, einen wild kämpfenden Mann bis auf den Tod zu bekämpfen und hatte nun Mühe, mit einem Kind weiblichen Geschlechts fertig zu werden.

Doch wenn er sie nicht bezwang (der Gedanke an »töten« war ihm nicht geheuer) würde er selbst bezwungen werden, und die Sache des Herrn wäre verloren.

Also war es besser, man brachte die Sache rasch hinter sich. Er ging nun ungehemmt zum Angriff über und bemühte sich mit aller Kraft, das Mädchen an den Rand zu drängen. Sie trat zurück, immer wieder einen Schritt. Ewig konnte das nicht so weitergehen. Stock traf auf Stock, keiner der Hiebe traf direkt das Fleisch, doch Var übte denselben Druck aus wie tags zuvor beim Kampf mit dem Dolch, und verbesserte so seine Position.

Zwei Schritte trennten sie nur noch vor dem Steilabfall, dann noch einer. Sie drehte sich blitzschnell um, ohne richtig hinzusehen, schlug einen der Stöcke hoch, duckte sich, schoß an ihm vorbei und erwischte sein Gelenk mit einem Schlag der Rückhand, der ihn total überraschte.

Var lachte ungläubig auf, als einer der Stöcke ihm aus der starren Hand flog und den Abhang hinunterpolterte. Das ganze Manöver kam so schnell und war so sauber ausgeführt, daß er keine Chance gehabt hatte. Und nun, einer seiner Waffen beraubt, war er praktisch verloren. Ein einziger Stock konnte gegen zwei nichts mehr ausrichten.

Seine Unerfahrenheit im Ring hatte ihn also um den Sieg gebracht. Hul hätte sich nicht so einfach überrumpeln lassen und Tyl schon gar nicht. Wer aber hätte so viel Geschick von einem Kind erwartet?

Var wartete auf die Attacke, die nun folgen mußte. Er war zwar zur Niederlage verurteilt, wollte aber nicht kurzerhand aufgeben. Vielleicht konnte er sie seinerseits mit einem Satz überraschen oder sie vielleicht mit sich in die Tiefe reißen und den Kampf mit zweifachem Tod enden lassen.

Sie sah ihn kurz an. Und dann warf sie lässig einen ihrer Stöcke in die Tiefe – seinem hinterher.

Verblüfft sah Var, wie der Stock hinunterholperte. In diesem Augenblick hätte sie ihm glatt auf den Schädel schlagen können, ohne auf Gegenwehr zu stoßen, doch sie blieb auf Distanz. »Du – «

»So schuldest du mir einen«, sagte sie. »Ein fairer Kampf.« Und sie wollte mit dem einzelnen Stock auf ihn los.

Var mußte weiterkämpfen, doch war er einigermaßen durcheinander. Sie hatte sich eines Stockes entledigt, damit die Chancen wieder ausgewogen waren. Und das, als sie einem leichten Sieg nahe war. Dergleichen hatte er sich im Ring nie vorstellen können.

An ihren ernsten Absichten bestand aber weiterhin kein Zweifel. Sie machte ihm mit ihrer halben Waffe arg zu schaffen und landete wiederholt einen Treffer auf seiner unbewaffneten Seite. Es war ein sonderbarer Kampf, der ungewöhnliche Verrenkungen und Reflexe erforderlich machte, mittels derer der fehlende Stock ausgeglichen wurde. Die Eleganz der Doppelwaffe war damit zum Teufel.

Der etwas unbeholfene Kampf ging weiter. Und Var gewann allmählich die Oberhand, weil die Verminderung der Finesse auch ihr Geschick verringerte, ohne daß sie diesen Verlust wie Var durch Kraft ausgleichen konnte. Var agierte weiterhin zurückhaltend, weil er keine zweite Lektion von der Art wollte, die ihn einen Stock gekostet hatte. Das Kind war am gefährlichsten, wenn seine Lage am bedrängtesten schien.

Und ihm war noch immer nicht klar, was es bedeutete, daß sie ihren Stock geopfert hatte. Sicher war sie nicht so siegesgewiß, daß sie sich eigens entwaffnete, um die Spannung zu vergrößern. Und eine Niederlage konnte sie sich nicht wünschen…

Var hatte seine Kindheit im Ödland nur überlebt, weil er sich angewöhnt hatte, dem Unbekannten gegenüber auf der Hut zu sein. Nicht alles Unbekannte war körperlich.

Sie ermüdete, und er ließ ein wenig in seiner Heftigkeit, wenn auch nicht an Wachsamkeit, nach. Der Sonnenstand zeigte an, daß sie bereits drei Stunden lang kämpften. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu.

Aber wie würde es wohl enden, wenn ihr Kampf auf Leben und Tod sich auf ein bloßes Geplänkel reduzierte? Nur einer von ihnen konnte den Abstieg beginnen. Nur eine Partei konnte gewinnen. Auch eine Verzögerung vermochte an dieser harten Realität nichts zu ändern.

Dauerte der Kampf noch lange, dann blieb dem Sieger nicht mehr genügend Zeit vor Einbruch der Dunkelheit für den Abstieg. Der Berg war zu jeder Zeit gefährlich, in der Dunkelheit aber schien er unbezwingbar.

Das Ende ließ auf sich warten. Der Kampf war zu einer bloßen Spiegelfechterei geworden, denn keiner der beiden versuchte ernsthaft, den Sieg herbeizuführen. Jedenfalls nicht sofort. Beide hielten sich zurück, sparten Kraft, warteten auf eine entscheidende Blöße des anderen. Noch immer schlug Stock auf Stock, doch die dahinterstehende Kraft war nicht überzeugend, die Bewegungen bloße Routine. Und die Dunkelheit kam. Das Mädchen trat schließlich zurück und warf die Waffe von sich. »Wir sollen nicht in der Dunkelheit kämpfen«, sagte sie.

Var senkte seinen Stock. Er war einverstanden, fürchtete aber eine List.

Sie trat an den Rand des Abgrunds, ließ dort die Waffe liegen. »Sieh nicht her«, sagte sie und ging in Hockstellung.

Var wurde klar, daß sie Wasser lassen wollte. Wenn er ihr aber den Rücken kehrte, konnte sie sich ihm von hinten nähern, ihm einen Stoß versetzen… Nun ja, wenn er ihr während dieser Zeit der Waffenruhe nicht trauen konnte, dann hätte er sich damit gar nicht einverstanden erklären dürfen. Und dann war doch die Sache mit dem Stock gewesen. Ihre Ehrbegriffe waren zwar anders, wirkten aber ebenso bindend. Er drehte sich um und erleichterte seine Blase in die Dunkelheit unter ihm.

Nachdem sie ihre Notdurft verrichtet hatten, trafen sie im Mittelpunkt des Plateaus wieder aufeinander. Die Finsternis erfüllte die Landschaft wie ein großer Ozean, doch ihr Eiland war noch deutlich sichtbar. Und war einsam.

»Ich habe Hunger«, sagte sie.

Er war ebenfalls hungrig. Aber sie hatten nichts Eßbares bei sich. Alle hatten angenommen, der Kampf würde nur kurz dauern, und so hatte man keine Vorkehrungen für ein längeres Wegbleiben getroffen. Vielleicht steckte Absicht dahinter: Wenn die Kämpfer sich nicht mit aller Kraft stritten, würden Hunger und Durst den Kampf beflügeln.

»Du bist wohl nicht sehr redselig?« sagte sie.

»Ich spreche nicht gut«, erklärte Var ihr. Die verballhornten Silben übermittelten die Botschaft klarer als die Sprache selbst…

Sie lächelte, und das sah sonderbar aus, ein weißes Aufblitzen in der Dunkelheit. »Mein Vater spricht gar nicht. Vor Jahren hat er eine Kehlkopfverletzung erlitten. Noch ehe meine Erinnerung einsetzt. Aber ich kann ihn trotzdem verstehen.«

Var nickte bloß.

»Warum gehst du nicht auf diese Seite und ich auf die andere? So könnten wir schlafen«, sagte sie. »Und morgen bringen wir die Sache zu einem Ende.«

Ihm war es recht. Er nahm seinen Stock und zeichnete damit einen Teilungsstrich auf die Plateaufläche. Sodann legte er sich auf seiner Hälfte zur Ruhe.

Das Mädchen blieb noch eine Weile sitzen. Sie sah sehr klein aus, wie sie so dasaß. »Wie heißt du?«

»Var.«

»Wie?«

»Var.«

»Ich sehe an deiner Kehle keine Narbe. Wie kommt es, daß du nicht sprechen kannst?«

Var versuchte sich eine einfache Antwort auszudenken und schaffte es nicht.

»Wie ist es denn draußen eigentlich?« fragte sie.

Er merkte nun, daß er auf ihre Fragen keine vernünftige Antwort geben mußte. Das Reden an sich war ihr wichtiger als das Zuhören.

»Kalt ist es«, sagte sie.

Var hatte darüber noch nicht nachgedacht, doch sie hatte recht. Es drohte hier auf dem Berg kalt zu werden, und sie beide waren nackt und hatten keine Schlafsäcke. Er konnte das natürlich gut aushalten, weil er in seiner Kindheit oft Nächte im Freien verbracht hatte. Sie aber war kleiner und dünner, und ihre Haut war weich.

Die Kälte würde ihr mehr als nur Unbehagen bereiten. Sie konnte an Unterkühlung sterben. Ihr zusammengekauerter unbehaarter Leib zitterte so heftig, daß der Boden mit erbebte.

Var setzte sich auf. »Ich schulde dir Dank wegen des Stockes – « rief er ihr zu.

Sie wandte den Kopf. Mehr konnte er in der Dunkelheit nicht ausmachen. »Ich verstehe nicht.«

»Für den Stock – mein Dank.« Er bemühte sich um eine deutliche Aussprache.

»Stock«, sagte sie. »Dank.« Langsam dämmerte ihr die Bedeutung, doch nicht der Sinn, der dahintersteckte. Ihre Zähne schlugen aufeinander.

»Meine Körperwärme heute nacht.«

»Wärme? Nacht?« Sie war verblüfft.

Var stand auf und ging zu ihr hinüber. Er legte sich neben sie, umfing sie und zog sie an sich. »Schlafen – warm«, sagte er so klar wie nur möglich.

Für einen kurzen Augenblick war ihr Körper angespannt, und ihre Hände schnellten gegen seinen Nacken vor. Das war eine Geste, die er von einer Demonstration des Namenlosen her kannte. Sie war also im waffenlosen Kampf geübt! Dann aber entspannte sie sich.

»Du willst mich wärmen! Danke, Var!« Sie drehte sich um, rollte sich zusammen und drückte den zitternden Rücken an ihn. Er umfing sie mit Armen und Beinen. Sein Kinn, mit dem spärlichen Bartwuchs, ruhte in ihrem weichen Haar. Mit beiden Händen hielt er ihre Knie.

Var mußte an das erste Mal denken, als er eine Frau in den Armen gehalten hatte, damals vor nur wenigen Monaten. Aber das hier war anders. Sola war üppig und heiß gewesen, und dieses Kind hier war knochig und kalt. Die Beziehung war ganz anders. Doch fand er diese keusche Kameradschaft zum Schutz gegen die Kälte ebenso bedeutungsvoll wie die frühere sexuelle Beziehung. Die Lasten gleich verteilen – das gehörte zum Ehrenkodex des Ringes, wie er ihn verstand, und das war nichts, dessen man sich schämen mußte.

Und am Morgen würden sie den Kampf fortsetzen.

»Wer bist du?« fragte er sie. Diesmal brachte er es deutlich heraus.

»Soli. Mein Vater ist Sol von allen Waffen!«

Sol von allen Waffen! Der frühere Herr des Imperiums; der Mann, der es aus dem Nichts aufgebaut hatte. Kein Wunder, daß sie so geschickt war!

Und dann kam ihm ein schrecklicher Gedanke. »Deine Mutter – wer ist deine Mutter?«

»Ach, meine Mutter versteht mehr vom Kämpfen als mein Vater, aber sie kämpft ohne Waffen. Sie ist ganz klein, kaum größer als ich, dabei bin ich noch nicht ausgewachsen, aber wer sie angreift, der landet auf seinem Kopf!« Sie lachte. »Komisch ist das.«

Er war erleichtert, doch dann fiel ihm etwas anderes ein. »Sie… – deine Mutter – braunes, lockiges Haar, gute Figur?«

»Ja, das ist sie? Aber woher weißt du das? Sie hat die Unterwelt niemals verlassen, nicht seitdem ich da bin!«

Wieder fand Var keine Worte zu einer Erklärung. Und er konnte ihr schließlich nicht sagen, daß er versucht hatte, ihre Mutter zu töten.

»Natürlich ist Sosa nicht meine leibliche Mutter«, bemerkte Soli. »Ich bin draußen geboren worden. Mein Vater hat mich hineingebracht, als ich noch ganz klein war.«

Vars Schrecken kehrte wieder. »Du – du bist also Solas tote Tochter?«

»Nun ja, wir in der Unterwelt sind nicht richtig tot. Wir lassen die Nomaden bloß in dem Glauben, weil – ich weiß eigentlich nicht genau, warum. Sol war draußen mit Sola verheiratet, und ich bin ihr Kind. Es heißt, daß Sola hinterher den Namenlosen geheiratet hat.«

»Ja. Aber ihren Namen hat sie behalten.«

»Auch Sosa behielt ihren Namen. Komisch.«

Aber Var dachte an Solas Aufforderung: »Töte den Mann, der meinem Kind ein Leid zufügt!«

Var der Stock war dieser Mann, denn ihm oblag es, den Vertreter des Berges zu töten und das Imperium zu retten.